Multiple independently targetable reentry vehicle
Multiple independently targetable reentry vehicles (kurz MIRV; englisch für ‚unabhängig zielbarer Mehrfach-Wiedereintrittskörper‘) sind Mehrfach-Sprengköpfe für Interkontinentalraketen (ICBM) und U-Boot-gestützte ballistische Raketen (SLBM). Sie ermöglichen es, mit einer einzigen Trägerrakete mehrere Ziele gleichzeitig anzugreifen und Abwehrmaßnahmen durch das gleichzeitige Eindringen vieler Sprengköpfe zu erschweren. Die ersten mit MIRV ausgestatteten Raketen wurden Anfang der 1970er Jahre von den Vereinigten Staaten stationiert (Minuteman III).[1]
MIRV ist der Nachfolger des Multiple reentry vehicle (MRV), bei dem die Sprengköpfe nicht voneinander unabhängig lenkbar waren.
Allgemeines
Als MIRV-Systeme werden Nutzlasten militärischer ballistischer Raketen bezeichnet, bei denen mehrere Wiedereintrittskörper auf individuellen Bahnen ausgesetzt werden können. Bei allen bisher stationierten Systemen handelt es sich bei den Wiedereintrittskörpern um nukleare Sprengköpfe, auch wenn es Studien für Wiedereintrittskörper mit biologischen und chemischen Waffen sowie kinetischen Impaktoren gab. Durch ihre Komplexität und Aufgabenspektrum sind MIRV auf strategische Raketensysteme mittlerer und interkontinentaler Reichweite beschränkt.
Bei den ersten strategischen Raketensystemen, die in den 1950er und 1960er Jahren von der Sowjetunion, den USA und anderen Staaten entwickelt wurden, saßen die Wiedereintrittskörper direkt auf der letzten Antriebsstufe der ballistischen Rakete. Das heißt, beim Aussetzen der Sprengköpfe hatten diese ihren endgültigen Kurs und Geschwindigkeit erreicht und es konnten danach keine Korrekturen mehr vorgenommen werden. Einige Raketen dieser frühen Generationen strategischer Waffen trugen zwar auch mehrere Sprengköpfe, diese wurden aber zusammen ausgesetzt und konnten nur gegen ein gemeinsames Ziel gerichtet werden, um das sie gestreut einschlagen sollten.
Bei einem MIRV-System sitzen die Wiedereintrittskörper nicht mehr direkt auf der letzten Antriebsstufe der ballistischen Rakete, sondern auf einem Post Boost Vehicle (PBV, zu deutsch etwa Nach-Antriebs-Einheit, kurz auch als Bus bezeichnet). Nach dem Ausbrennen der obersten Raketenstufe wird der Bus mit den Sprengköpfen von der Stufe abgetrennt. Mit Hilfe kleiner Steuertriebwerke sowie eines inertialen Navigationssystems, das bei modernen MIRV-Systemen durch Sternensensoren unterstützt wird, führt der Bus kleine Kurs- und Geschwindigkeitskorrekturen durch und setzt die Wiedereintrittskörper nacheinander einzeln auf für sie optimale Bahnen aus. Dadurch können mit einer einzelnen Rakete Sprengköpfe gegen individuelle Ziele innerhalb eines bestimmten Gebietes auf der Erdoberfläche gerichtet werden. Wie groß dieses Gebiet ist, hängt vom individuellen MIRV-System, der geplanten Reichweite und der Zuladung ab. Die Poseidon C-3 SLBM beispielsweise konnte bei einer vollen Zuladung von 14 Wiedereintrittskörpern bei einer Reichweite von 1.800 sm keine Ziele quer zur Flugbahn anvisieren. Wurde die Anzahl der Sprengköpfe auf 10 reduziert, konnten die Wiedereintrittskörper gegen Ziele maximal 150 sm quer zur Flugrichtung der Rakete gerichtet werden (2.500 sm Reichweite), bei nur 6 Wiedereintrittskörpern erhöhte sich dies auf 300 sm bei 3.000 sm Reichweite.[2]
Die Form des MIRV-Buses kann nach den jeweiligen technischen Anforderungen unterschiedlich ausfallen. Gibt es keine Restriktionen hinsichtlich der Abmessungen, entspricht der Durchmesser der Steuer- und Antriebseinheit des Buses in etwa jenem der obersten Antriebsstufe der Rakete und die Wiedereintrittskörper sitzen oben auf dem Bus (z. B. bei der Minuteman III). Bei vielen Raketensystemen ist jedoch das Volumen eng begrenzt, z. B. bei SLBM, die auf U-Booten stationiert sind oder neue Raketen, die ältere Systeme in Silos mit vorgegebenem Volumen ersetzen sollen. Hierbei ist der MIRV-Bus oftmals als ringförmige Struktur ausgelegt, die eine schmale obere Raketenstufe umringt. Diese Lösung wurde beispielsweise für den R-36MUTTH MIRV-Bus oder den Trident II D5-Bus gewählt.
Soweit bekannt, tragen alle bisherigen MIRV-Systeme Wiedereintrittskörper, die nach dem Aussetzen durch den Bus einer simplen ballistischen Flugbahn folgen. Jedoch können prinzipiell auch MARV (Maneuverable reentry vehicle) Systeme zum Einsatz kommen, bei denen die Sprengköpfe eigenständig Kurskorrekturen durchführen können. Für die Trident I C4 wurde Ende der 1970er Jahre so etwa der Mk.500 Evader entwickelt, der in der Erdatmosphäre durch Auftriebsänderungen Richtungsänderungen durchführen konnte. In der Sowjetunion wurde im etwa selben Zeitraum ein MIRV-Sprengkopf mit Endanflugkontrolle für die R-36M entwickelt. In beiden Fällen wurde aber jeweils auf eine Einführung verzichtet.[2][3]
MIRV-Systeme haben verschiedene Vorteile für die militärischen Planer. Da eine einzelne Rakete nun mehrere Sprengköpfe tragen konnte, wurde der Aufbau eines effektiven Raketenabwehrsystems für den potentiellen Gegner ungleich schwieriger und praktisch nicht umsetzbar. Weiterhin kann durch die mit dem MIRV-Bus durchgeführten feinen Kurskorrekturen die Treffgenauigkeit der Waffensysteme gesteigert werden. Damit kann die Effektivität der Waffen gegen „harte“ Ziele wie Bunkeranlagen erhöht werden bei gleichzeitiger Reduktion der Sprengkraft der einzelnen Sprengköpfe. Weiterhin geben MIRV-Systeme den militärischen und politischen Planern ein hohes Maß an Flexibilität, da die Anzahl der Wiedereintrittskörper auf einzelnen Raketen der Mission und dem politischen Umfeld angepasst werden kann. So haben beispielsweise die USA die Anzahl von Sprengköpfen auf den Minuteman III ICBM sowie Trident II D5 SLBM von der maximal möglichen Anzahl reduziert, um die Auflagen der START-Abrüstungsverträge zu erfüllen, könnten diese aber im Bedarfsfall wieder erhöhen, sollte sich das politische Umfeld ändern.
Mit ihrer Einführung Anfang der 1970er Jahre trugen MIRV-Systeme stark zum Rüstungswettlauf im Bereich strategischer Waffen zwischen der Sowjetunion und den USA bei. Obwohl sich seit Ende der 1960er Jahre die Anzahl strategischer Raketen auf beiden Seiten kaum noch erhöhte, wirkte die Einführung von Raketen mit MIRV als Multiplikator bei der Anzahl strategischer Kernwaffen. Durch ihre vergleichsweise hohe Treffgenauigkeit sowie die Anzahl verfügbarer Sprengköpfe befeuerten sie auch politische und militärische Debatten um eigene und gegnerische Erstschlagsstrategien. So führte die Einführung leistungsstarker MIRV-Systeme wie die R-36M in der Sowjetunion Mitte der 1970er Jahre zu Befürchtungen in den USA, dass ein Fenster der Verwundbarkeit entstanden sei, da man annahm, dass die sowjetischen ICBM nun einen Großteil des amerikanischen Minuteman-Arsenals ausschalten könnten. Dies trieb neue Rüstungsprojekte in den USA wie der Peacekeeper ICBM oder den Trident SLBM voran, worauf die Sowjetunion ihrerseits mit der Entwicklung mobiler ICBM-Systeme sowie Verbesserungen ihres nuklearen Kommando- und Kontrollsystems reagierte.
Das stärkste von den Vereinigten Staaten entwickelte MIRV-System war die LGM-118A Peacekeeper, das bis zu zehn Sprengköpfe mit einer Sprengkraft von jeweils bis zu 300 kt TNT-Äquivalent tragen konnte. Die letzten dieser Systeme wurden im Jahr 2005 außer Dienst gestellt.
Die Sowjetunion führte ab Anfang der 1970er Jahre mehrere Raketen mit Mehrfachsprengköpfen ein. Zuerst waren dies die R-36- und UR-100K-Raketen, die jeweils drei nicht einzeln steuerbare MRV-Sprengköpfe trugen. Gefolgt wurden diese Raketen von den R-36M (acht bis zehn MIRV), MR UR-100 (vier MIRV), UR-100N (sechs MIRV) und der RT-23 (zehn MIRV). Geplant waren sogar bis zu 38 Sprengköpfe. Zwei Versionen dieser Raketen, die R-36M2 und UR-100NUTTH, stehen noch heute bei den russischen Raketentruppen in Dienst. Sie sollen in den kommenden Jahren durch die MIRV-Variante der Topol M (RS-24 (Rakete), SS-27 Mod2) sowie einer bei Mekejew in Entwicklung befindlichen neuen mittelschweren Interkontinentalrakete mit MIRV abgelöst werden.
Bei der sowjetischen Marine wurden ebenfalls Mitte der 1970er Jahre Raketen mit MIRV eingeführt, dies waren die R-29R, die R-29RM und die R-39. Derzeit befinden sich in Russland zwei seegestützte Raketen mit MIRV in Produktion, die R-29RMU (in den Versionen Sinewa und Liner mit bis zu zehn MIRV) sowie die R-30 Bulawa (mit bis zu sechs MIRV).
Daneben standen in der Sowjetunion von 1976 bis 1989 Mittelstreckenraketen mit MIRV in Dienst, die RSD-10 mit bis zu drei MIRV.
Auch Großbritannien und Frankreich verfügen über seegestützte Raketen mit MIRV. Großbritannien hat Trident II D5 von Lockheed-Martin aus den Vereinigten Staaten im Dienst (allerdings nur mit maximal drei MIRV), in Frankreich sind es die M-45 und M-51 von EADS mit bis zu sechs MIRV.
Aktive MIRV-Systeme
Volksrepublik China Volksrepublik China: CSS-N-14 (U-Boot gestützt)
Frankreich Frankreich: Seegestützte Systeme M-45 und M-51 von EADS mit bis zu sechs MIRV
Vereinigtes Königreich: Trident II D5 von Lockheed-Martin (aus den Vereinigten Staaten) mit maximal drei MIRV
Iran Iran: Chorramschahr Mittelstreckenrakete
Pakistan Pakistan: Ababeel, in Entwicklung[5]
Russland: RS-24 (Fahrzeuggestützt), Bulawa
Vereinigte Staaten Vereinigte Staaten: LGM-30 Minuteman
Siehe auch
Weblinks
Einzelnachweise
- ↑ http://nuclearweaponarchive.org/Usa/Weapons/Mmiii.html
- ↑ a b G. Spinard: From Polaris to Trident: the Development of US Fleet Ballistic Missile Technology. Cambridge Studies in International Relations. Cambridge University Press, New York 1994.
- ↑ P. Podvig (Hrsg.): Russian Strategic Nuclear Forces. MIT Press, 2004, ISBN 978-0-262-16202-9.>
- ↑ Agni-5: A True Game Changer. Abgerufen am 23. September 2017 (amerikanisches Englisch).
- ↑ http://thediplomat.com/2017/01/pakistan-tests-new-ballistic-missile-capable-of-carrying-multiple-nuclear-warheads/