Myrrhe
Myrrhe (veraltet Myrre von althochdeutsch myrra, mittelhochdeutsch mirre, wie lateinisch mirra[1][2] von griechisch myrrha, entlehnt von der semitischen Sprachwurzel m-r-r, hierzu arabisch murr, hebräisch מֹר mōr, aramäisch ܡܪܝܪܐ mriro „bitter“) oder Myrrhenharz ist das aromatische Gummiharz von mehreren Arten der Gattung Commiphora („Myrrhenstrauch“) aus der Familie der Balsambaumgewächse, in erster Linie Commiphora myrrha (Synonyme: Commiphora molmol, früher auch Balsamea myrrha Engl.). Dieser bis zu drei Meter hohe, dornige Strauch wächst in Somalia. Andere Myrrhe produzierende Arten gedeihen in Südarabien (darunter Commiphora simplicifolia Schweinf., C. foliacea Sprague) und Äthiopien (Commiphora habessinica (O.Berg) Engl., C. hildebrandtii Engl.).
Geschichte
Im alten Ägypten nutzte man bereits vor 3000 Jahren Myrrhe zur Einbalsamierung. Das getrocknete, gelb-braune Harzgranulat wird seit Jahrtausenden vor allem in Jemen, Äthiopien, Sudan und Somalia verwendet. Myrrhe ist Bestandteil von kultischen Salbungen (altgriechisch Χριστός, latinisiert „Christus“, hebräisch „Messias“ bedeutet „der Gesalbte“). Myrrhe wird seit der Antike unter anderem als Aphrodisiakum verwendet. Frauen und Männer benutzten es früher als Parfüm, Betten wurden vor dem Geschlechtsverkehr damit beträufelt. Aus dem Myrrhenharz (gemäß Avicenna mit Aloe und Safran)[3] wurden im Mittelalter in Europa „Pestpillen“ hergestellt und diesem auch eine fiebersenkende Wirkung zugesprochen.
Als erster europäischer Wissenschaftler beschrieb Christian Gottfried Ehrenberg 1829 den Myrrhestrauch, auf den er bei seiner Reise durch Südarabien 1826 gestoßen war.[4]
Mythologie
In der griechischen Mythologie wurde Smyrna, die Tochter des Priesters und Königs Kinyras von Zypern, von ihrem Vater geschwängert. Bei der Geburt ihres Kindes, des Adonis, verwandelte sie sich in einen Myrrhe-Baum. (Smyrna ist das griechische Wort für Myrrhe.)
Bibel
Im Alten Testament findet sich eine Beschreibung für die Herstellung von Salböl: „Nimm dir Balsam von bester Sorte: fünfhundert Schekel erstarrte Tropfenmyrrhe, halb so viel, also zweihundertfünfzig Schekel, wohlriechenden Zimt, zweihundertfünfzig Schekel Gewürzrohr und fünfhundert Schekel Zimtnelken (Zimtblüten), nach dem Schekelgewicht des Heiligtums, dazu ein Hin Olivenöl, und mach daraus ein heiliges Salböl […]“ (Ex 30,23–25 EU). Myrrhe war Bestandteil des Salböls, mit dem die Stiftshütte und die Priester im Tempel gesalbt wurden.
Das Neue Testament berichtet, dass die „Weisen aus dem Morgenland“ (griechisch μάγοι, mágoi) als Gaben Gold, Weihrauch und Myrrhe mitgeführt hätten (Mt 2,11 EU). Diese achtungsbezeugenden Gaben waren seinerzeit sehr wertvoll. Bei der Grablegung Jesu spendete der Pharisäer Nikodemus hundert Pfund Aloe und Myrrhe (Joh 19,39 EU). Auch beim Tod Jesu spielt Myrrhe eine Rolle. Von den Evangelienschreibern erzählt nur Markus, dass Jesus am Kreuz mit Myrrhe gemischter Wein angeboten wurde (Mk 15,23 EU), den er aber ablehnte.
Verwendung
Räucherwerk
Myrrhe wird ähnlich wie Weihrauch als Räucherwerk verbrannt.
Medizin
In der mittelalterlichen Medizin fand das Myrrhenharz etwa Anwendung bei der Behandlung von Wunden, wobei man weiße und rote Sorten unterschied.[5] Als Myrrhentinktur (oft in Mischung mit Ratanhia-Tinktur) hat Myrrhe heute pharmazeutische Bedeutung bei Entzündungen der Mundschleimhaut: Sie ist desinfizierend, zusammenziehend und fördert die Narbenbildung, darüber hinaus besitzt sie blutstillende Wirkung. Sie wirkt auch krampflösend, wird also auch bei Darmerkrankungen eingesetzt: Myrrhe setzt den Spannungszustand der „glatten“ Darmmuskulatur herab; dadurch verringert sich die Zahl der Darmkontraktionen, Darmkrämpfe werden gelindert. Außerdem reduziert Myrrhe im Darm entzündungsfördernde Prozesse und besitzt die Fähigkeit, dort die Bildung freier Radikale zu vermindern und somit das antioxidative Schutzsystem zu verstärken.[6] Kombiniert mit Kaffeekohle und Kamille ist eine noch größere antientzündliche Wirkung zu beobachten.[7] Mit dieser Kombination konnte in einer RCT (randomisierte kontrollierte Studie) der Kliniken Essen-Mitte gezeigt werden, dass die Arzneidrogen zur Erhaltung der remissionsfreien (beschwerdefreien) Phase bei Colitis ulcerosa vergleichbar wirksam waren wie das synthetische Standardarzneimittel Mesalazin.[8] Auch aufgrund dieser Studie empfiehlt die aktuelle S3-Leitlinie „Colitis ulcerosa“ der Deutschen Gesellschaft für Gastroenterologie, Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten (DGVS): „Eine Kombination aus Myrrhe, Kamillenblütenextrakt und Kaffeekohle kann komplementär in der remissionserhaltenden Behandlung eingesetzt werden.“[9] Untersuchungen an der Charité Berlin haben gezeigt, dass die Arzneipflanze Myrrhe die Darmbarriere stabilisiert und sie vor schädlichen Einflüssen durch das entzündungsfördernde Eiweiß TNFalpha schützt.[10] Die darmbarriere-stabilisierende Wirkung konnte in Untersuchungen an einem komplexen Labormodell des Darms, die an der Universität Leipzig durchgeführt wurden, bestätigt werden. Myrrhe stabilisierte die Darmbarriere vergleichbar gut wie das häufig verordnete Kortisonpräparat Budesonid.[11] Innerlich angewendet wirkt sie ebenso bei Bronchitis wie bei Darmentzündungen. Die Anwendung erfolgt durch Zerkauen (bitter) oder Einnahme von Myrrhepräparaten in Tablettenform.
Der interdisziplinäre Studienkreis Entwicklungsgeschichte der Arzneipflanzenkunde hat die Stammpflanze Commiphora myrrha aufgrund seiner Bedeutung in der Medizingeschichte, der weitreichenden wissenschaftlichen Erforschung und seinem Potential als wirksame Darmarznei zur Arzneipflanze des Jahres 2021 gewählt.[12]
Parfümerie
Myrrhe (Commiphora spp.) und Opopanax[13] (Harz von Commiphora spp., insbesondere auch Opopanax spp.) zeichnen sich durch einen leicht würzig-süßen Duft von balsamischer Feinheit aus und werden gerne in der Parfümerie eingesetzt. Während das Harz eher als fixierende Komponente verwendet wird, wirkt das durch Wasserdampfdestillation gewonnene Öl bereits in der Kopfnote.
Literatur
- Andrew Dalby: Dangerous Tastes: the story of spices. British Museum Press, London 2000, ISBN 0-7141-2720-5, S. 107–122.
- Jost Langhorst: Myrrh, dry extract of chamomile flowers and coffee charcoal in the treatment of ulcerative colitis. In: Zeitschrift für Phytotherapie. 36(06), 2015, S. 247–249. doi:10.1055/s-0041-109605.
- Dieter Martinetz, Karlheinz Lohs, Jörg Janzen: Weihrauch und Myrrhe. Kulturgeschichte und wirtschaftliche Bedeutung. Botanik, Chemie, Medizin. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 1989, ISBN 978-3-8047-1019-1. Vgl. dazu die Rezension von Gundolf Keil in Spektrum der Wissenschaft. 2, 1991, S. 126 f.
- A. Massoud, S. El-Sisi, O. Salama: Preliminary study of therapeutic efficacy of a new fasciolicidal drug derived from Commiphora molmol. (myrrh). In: Am. J. Trop. Med. Hyg. 65, 2001, S. 96–99.
- Johannes Gottfried Mayer: Myrrhe: Neue Beobachtungen zur Tradition eines wahrhaft biblischen Arzneimittels. In: Zeitschrift für Phytotherapie. 36(03), 2015, S. 103–105. doi:10.1055/s-0041-103048.
- Mechthild Siede: Myrrhe. In: Reallexikon für Antike und Christentum. Band 25, Hiersemann, Stuttgart 2013, ISBN 978-3-7772-1318-7, S. 370–378.
Weblinks
- Gerhard Gensthaler: Myrrhe: Luxus aus Arabien. In: PTA-Forum, Ausgabe 23/2016, S. 34 f.
Einzelnachweise
- ↑ Friedrich Kluge, Alfred Götze: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Hrsg. von Walther Mitzka. 20. Auflage. De Gruyter, Berlin / New York 1967; Neudruck („21. unveränderte Auflage“) ebenda 1975, ISBN 3-11-005709-3, S. 498.
- ↑ Daneben gab es verschiedene andere Bezeichnungen. Vgl. etwa Wilhelm Hassenstein, Hermann Virl: Das Feuerwerkbuch von 1420. 600 Jahre deutsche Pulverwaffen und Büchsenmeisterei. Neudruck des Erstdruckes aus dem Jahr 1529 mit Übertragung ins Hochdeutsche und Erläuterungen von Wilhelm Hassenstein. Verlag der Deutschen Technik, München 1941, S. 110 (Myrrha oder myrren).
- ↑ Paul Uiblein: Nikolaus von Udine. In: Burghart Wachinger u. a. (Hrsg.): Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2., völlig neu bearbeitete Auflage. Band 6: Marienberger Osterspiel – Oberdeutsche Bibeldrucke. De Gruyter, Berlin / New York 1987, ISBN 3-11-022248-5, Sp. 1162 f.; hier: Sp. 1163 (Regimen contra pestilenciam).
- ↑ Dieter Martinetz, Karlheinz Lohs, Jörg Janzen (1989), S. 125.
- ↑ Jürgen Martin: Die ‚Ulmer Wundarznei‘. Einleitung – Text – Glossar zu einem Denkmal deutscher Fachprosa des 15. Jahrhunderts. Königshausen & Neumann, Würzburg 1991 (= Würzburger medizinhistorische Forschungen. Band 52), ISBN 3-88479-801-4 (zugleich Medizinische Dissertation Würzburg 1990), S. 152 und öfter.
- ↑ A. J. Fatani u. a.: Myrrh attenuates oxidative and inflammatory processes in acetic acid-induced ulcerative colitis. In: Experimental and therapeutic medicine. 12, 2016, 730-738, doi:10.3892/etm.2016.3398.
- ↑ C. Vissiennon et al.: Synergistic interactions of chamomile flower, myrrh and coffee charcoal in inhibiting pro-inflammatory chemokine release from activated human macrophages. In: Synergy. Band 4, Juni 2017, S. 13–18
- ↑ J. Langhorst et al.: Randomised clinical trial: a herbal preparation of myrrh, chamomile and coffee charcoal compared with mesalazine in maintaining remission in ulcerative colitis–a double-blind, double-dummy study. In: Alimentary pharmacology & therapeutics. Band 38, Nummer 5, September 2013, S. 490–500, ISSN 1365-2036, doi:10.1111/apt.12397, PMID 23826890.
- ↑ Torsten Kucharzik, Axel Dignaß: S3-Leitlinie Diagnostik und Therapie der Colitis ulcerosa. (Memento vom 7. August 2018 im Internet Archive; PDF) AWMF-Registriernummer 021-009, Mai 2018, S. 156
- ↑ R. Rosenthal, J. Luettig, N.A. Hering, S.M. Krug, U. Albrecht, M. Fromm, J.D. Schulzke: Myrrh exerts barrier-stabilising and -protective effects in HT-29/B6 and Caco-2 intestinal epithelial cells. In: Int J Colorectal Dis, 2016, doi:10.1007/s00384-016-2736-x
- ↑ Laura Weber et al.: Anti-Inflammatory and Barrier Stabilising Effects of Myrrh, Coffee Charcoal and Chamomile Flower Extract in a Co-Culture Cell Model of the Intestinal Mucosa. In: Biomolecules 2020, 10(7), 1033; doi:10.3390/biom10071033
- ↑ Diana Moll: Arzneipflanze des Jahres 2021: Myrrhe – eine Option im OTC-Bereich bei Colitis ulcerosa? In: Deutsche Apotheker Zeitung, 8. Dezember 2020.
- ↑ Eintrag zu Opopanax. In: Römpp Online. Georg Thieme Verlag, abgerufen am 4. Juni 2020.