Neoklassische Theorie

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Unter neoklassischer Theorie oder Neoklassik wird eine wirtschaftswissenschaftliche Richtung verstanden, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begründet wurde und die klassische Nationalökonomie ablöste. Charakterisiert wird die Neoklassik nicht durch bestimmte Lehrsätze, sondern durch ihre Methode, insbesondere das Marginalprinzip, das in Begriffen wie Grenzkosten oder Grenzerlös zum Ausdruck kommt. Wesentlich haben zu ihrer Entstehung die Ökonomen Alfred Marshall, William Stanley Jevons und Léon Walras beigetragen. Die Neoklassik beherrscht die Wirtschaftswissenschaft – mit Unterbrechung durch den Keynesianismus – bis heute. Kritisiert wird sie in Ansätzen aus der heterodoxen Ökonomie.

Historische Entwicklung

Ausgangspunkt der Neoklassik waren die Grenznutzenschule und das von ihr begründete Marginalprinzip. Diese Lehren wurden ungefähr gleichzeitig und unabhängig voneinander um 1870 von William Stanley Jevons in England, Carl Menger in Österreich und Léon Walras in der Schweiz entwickelt. Damit wurde die klassische Wert- und Preistheorie, die Werte und Preise hauptsächlich durch Produktionskosten erklärte, um eine subjektive Komponente ergänzt. Zugleich veränderte das Marginalprinzip auch die Produktionskostentheorie selbst, indem sie konstante Produktionskoeffizienten durch variable Grenzkosten ablöste.

Ein weiteres Charakteristikum der Neoklassik ist neben dem Marginalprinzip die Betonung von Märkten, die als prinzipiell sinnvoller und überlegener Allokationsmechanismus betrachtet werden. In diesem Punkt knüpft die Neoklassik an die Klassik und deren Vorstellung einer "unsichtbaren Hand" an und präzisiert ihre Lehren.

Während und nach der Weltwirtschaftskrise wurden die makroökonomischen Implikationen der Neoklassik kritisiert, da diese weder eine zufriedenstellende Erklärung für eine so schwerwiegende Krise lieferte, noch erfolgversprechende wirtschaftspolitische Empfehlungen abgab. Diese Lücken versuchten John Maynard Keynes und der darauf aufbauende Keynesianismus zu schließen. Dies bedeutete jedoch keineswegs ein Ende der Neoklassik: Zum einen blieb die Mikroökonomie von der Kritik unberührt, zum anderen erlebte neoklassisches Denken eine Renaissance auch in der Makroökonomie, nachdem im Gefolge der Stagflation der 1970er-Jahre der Keynesianismus seinerseits in eine Glaubwürdigkeitskrise geriet.

Seit den 1950er Jahren nimmt die Neoklassik eine vorherrschende Stellung ein, insbesondere bei der Methodenwahl, doch koexistiert sie stets mit konkurrierenden Strömungen.

Grundannahmen und Modelle

Die Neoklassik ist keine einheitliche Strömung; insbesondere ist „Routineforschung“ innerhalb der Neoklassik von den essentiellen Bausteinen des heutigen neoklassischen „Mainstreams“ zu unterscheiden.[1] Unter Bezug auf Michael Fritsch nennt Ulrich Hampicke die folgenden fünf konstitutiven Merkmale der „naiven“ „Lehrbuch“-Neoklassik:

  • Methodischer und normativ-politischer Individualismus;
  • Utilitarismus im Sinne einer teleologisch-konsequentialistischen Ethik, der Trennung von Werturteilen und Instrumenten, der Orientierung an menschlicher Nutzenstiftung und der abwägenden Kalkulation;
  • Annahme individuell rationalen Verhaltens (d. h.: Vorliegen einer vollständigen Präferenzordnung, Transitivität der Präferenzen);
  • Tauschparadigma, konsequentes Denken in Opportunitätskosten;
  • Glauben an die unsichtbare Hand und das Substitutionsparadigma.

Diese fünf Axiome könnten jedoch verändert werden, wenn sich die hinter ihnen stehenden empirischen Annahmen als grob unzutreffend erweisen. Als wichtige Felder von Einschränkungen und Ergänzungen nennt Hampicke

  • die Möglichkeit freiwilliger Kontrakte, mit denen die Individuen ihre Handlungsfreiheit zu Gunsten kooperativen oder koordinierten Verhaltens einschränken;
  • die Möglichkeit einer „Government-Assisted Invisible Hand“, die markt-förmige Allokationen dort ermöglicht, wo diese aufgrund prohibitiver Transaktionskosten nicht spontan erreicht werden;
  • Einführung institutionsökonomischer Analyseansätze (strategisches Verhalten, unvollständige Information, „Macht“ in Tauschbeziehungen etc.).

Auch bei Verwendung „kollektiven“ Verhaltens als Erklärung werde jedoch niemals der Boden des methodischen Individualismus verlassen.

Homo oeconomicus

Die zentrale Illustration der Annahme der neoklassischen Theorie ist das Modell des „Homo oeconomicus“. Dabei handelt es sich um ein fiktives Wirtschaftssubjekt, das feststehende Präferenzen hat und rational handelt in dem Sinne, dass es unter gegebenen Alternativen stets diejenige auswählt, die seinen eigenen Nutzen maximiert.[2][3] Zu beachten ist hier, dass „Nutzen“ empirisch aus der Analyse von beobachteten Entscheidungen zwischen Alternativen rekonstruiert wird, ohne dass diesen Entscheidungen im ethischen Sinne eigennützige Motive unterstellt werden müssen.

Das Prinzip rationalen Verhaltens ist auf zwei Institutionen übertragen worden:

  • Die Haushalte, die im Rahmen ihrer Möglichkeiten (bestimmt durch gegebene Preise, Löhne und sonstiges Einkommen) die nutzenmaximierende Alternative (das Haushaltsoptimum) wählen.[3]
  • Die Unternehmen, welche unter den jeweiligen Bedingungen wie vollständige Konkurrenz, Oligopol, Monopol etc. und gegebener Technologie die Produktion auswählen, die dem Unternehmensziel (häufig, aber nicht notwendigerweise, Gewinnmaximierung) am besten entspricht.

Neoklassik als Theorie der Optimierungsentscheidungen

Zusammengenommen führt die Neoklassik mit Hilfe der Marginalanalyse alles wirtschaftliche Geschehen auf individuelle Optimierungsentscheidungen zurück: Unternehmen maximieren ihren Profit, woraus sich die Faktornachfragekurven und Güterangebotskurven ergeben. Haushalte maximieren ihren Nutzen, woraus sich die Faktorangebotskurven und Konsumgüternachfragekurven ergeben.

Ausgehend von diesem von Leon Walras entwickelten Grundprinzip verwendet die neoklassische Theorie mathematische Methoden, die oft als „Marginalismus“ bezeichnet werden. Indem Carl Menger, Friedrich Wieser und Eugen Böhm-Bawerk das Grenzkalkül einführten, haben sie gewissermaßen zweihundert Jahre nach Newton und Leibniz die Differentialrechnung neu entdeckt.

Aus dem Grundprinzip von Walras ergibt sich, dass die neoklassische Theorie grundsätzlich als ein System von Optimierungsaufgaben unter Nebenbedingungen aufgestellt und mit den mathematischen Methoden der Maximierung (zum Beispiel der Lagrangemethode) analysiert werden kann. Dadurch ergeben sich Optimierungsbedingungen wie das Zweite Gossensche Gesetz oder die Wertgrenzproduktregel.

Im Laufe der Entwicklung wurde dieses Grundprinzip verfeinert, indem das Verhalten innerhalb des Haushaltes (Ökonomische Theorie der Familie von Gary Becker) und innerhalb des Unternehmens (Prinzipal-Agenten-Theorie) als Optimierung betrachtet wurde. Außerdem wird der Ansatz auf weitere Bereiche wie Politik (Neue politische Ökonomie) oder Rechtssystem ausgedehnt.

Vollkommener Markt

Viele Modelle der neoklassischen Theorie gehen von vollkommenen Märkten aus, und zwar sowohl zur Untersuchung realer Märkte als auch als Referenz im Vergleich zu Modellen unvollständiger Konkurrenz. Dabei wird angenommen, dass der Markt die Preise vorgibt und der Unternehmer als Mengenanpasser reagiert.

Es werden jedoch auch Modelle unvollständiger Konkurrenz analysiert:

  • Monopol (Monopson): Es gibt für das betrachtete Gut nur einen Anbieter (bzw. Nachfrager). Durch die vom Produzenten angebotene (bzw. nachgefragte) Menge wird der Preis bestimmt.
  • Duopol, Oligopol: Es existieren zwei oder mehrere Anbieter. Um diesen Fall zu analysieren, müssen weitere Annahmen über das strategische Verhalten der Unternehmen gemacht werden.

Weitere Standardannahmen

  • Information und Informationsgewinnung: Grundmodelle der Neoklassik gehen von vollständiger Information aus. Diese Annahme wird aber in vielen Modellen ersetzt durch beschränkte Information. Außerdem kann Informationsgewinnung integriert werden, indem Suchkosten und Transaktionskosten berücksichtigt werden.
  • Keine Externalitäten: Produktionsentscheidungen eines Unternehmers wirken nur über den Markt auf den Konsum bzw. die Produktion anderer Individuen. Die Umweltökonomik kann als jenes Feld der Neoklassik bezeichnet werden, das systematisch in Bezug auf Umweltexternalitäten auf diese Standardannahme verzichtet.
  • Private Güter: Die betrachteten Güter stiften nur dem Nutzen, der sie besitzt (Rivalitätsprinzip). Alle anderen Individuen können durch rechtliche und/oder technische Maßnahmen vom Konsum ausgeschlossen werden (Ausschlussprinzip). Das Modell kann aber auf öffentliche Güter (Kollektivgüter) erweitert werden.

Auch für die Analyse von institutionellen Gegebenheiten wie Verträgen, Privateigentum, Unternehmen, Wahlsystemen und Verfassungen im Rahmen der Neuen Institutionenökonomik werden einige der Zusatzannahmen aufgehoben.

Zentrale Thesen

Die neoklassische Theorie lieferte mit ihrer marginalistischen Betrachtung die theoretischen Grundlagen für die Auflösung des Wertparadoxons in der klassischen Nationalökonomie. Der Wert (ausgedrückt als Preis) eines Gutes ergibt sich danach aus seinem Grenznutzen (Nachfrage) und seinen Grenzkosten (Angebot).

Von der klassischen Nationalökonomie hob sich die Neoklassik unter anderem durch die verschobene Fragestellung ab: Paradigma der Klassik war die Produktion: Sie fragte nach dem Ursprung, dem Wachstum und der Verteilung des wirtschaftlichen Reichtums in der Gesellschaft. Paradigma der Neoklassik ist der Tausch (Handel) zwischen rationalen Individuen: Sie fragt nach der optimalen Verteilung (Allokation) gegebener knapper Ressourcen auf verschiedene Verwendungen und Individuen mit festen Interessen und vorgegebener Ausstattung an Gütern und Fähigkeiten.

Die Verteilungstheorie folgt der Grenzproduktivität und nicht der Arbeitswerttheorie.

In der Neoklassik gibt es eine scharfe Trennung zwischen dem realen Sektor einer Wirtschaft, in dem die relativen Preise aller Güter und Produktionsfaktoren, die Produktionsmengen der verschiedenen Konsumgüter und die Verteilung (Allokation) der Produktionsfaktoren auf die Produktion verschiedener Güter bestimmt wird, und dem monetären Sektor, in dem letztlich nur die Geldpreise bestimmt werden, und von dem keine (längerfristigen) Wirkungen auf den realen Sektor ausgehen. Diese realwirtschaftliche „Neutralität des Geldes“ findet ihre theoretische Erklärung in der Quantitätstheorie des Geldes.

Gleichgewicht

Weiteres zentrales Element der Neoklassik ist die Gleichgewichtsanalyse. Ökonomische Analyse wird wesentlich als die Analyse von Märkten im Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage verstanden: Sei es (bei Léon Walras) im Sinne eines instantanen allgemeinen Gleichgewichts auf allen Märkten (bestimmt durch die Lösung eines Systems von Gleichungen), oder sei es (bei Alfred Marshall) im Sinne von partiellen Gleichgewichten auf den jeweils betrachteten Märkten in verschiedenen Zeithorizonten (etwa sehr kurzfristig zur Bestimmung von Marktpreisen, oder langfristig zur Bestimmung von normalen Preisen).

Die neoklassische Theorie geht grundsätzlich von der Funktionsfähigkeit und Stabilität marktwirtschaftlicher Systeme aus. Auf allen Märkten herrscht ein Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage, wodurch auch die Preise aller Konsumgüter und Produktionsfaktoren bestimmt sind. Störungen und Krisen werden auf Unvollkommenheiten des Marktes zurückgeführt, der Markt findet nach Beseitigung dieser Unvollkommenheit wieder in ein Gleichgewicht (siehe auch Allgemeine Gleichgewichtstheorie).

Eine Konsequenz aus dieser Kombination von individueller Optimierung und Gleichgewichtsdenken ist die Unmöglichkeit von unfreiwilliger Arbeitslosigkeit und Überproduktion, solange kompetitive Märkte nicht durch staatliche Intervention oder andere Verzerrungen (zum Beispiel von Gewerkschaften erzwungene überhöhte Löhne) in ihrer Funktion behindert werden. Die Neoklassik sieht damit das saysche Theorem immer erfüllt, das allgemeine (gesamtwirtschaftliche) und längerfristigere Ungleichgewichte ausschließt, da sich jedes (gesamtwirtschaftliche) Angebot auch seine Nachfrage schaffe. Im Blick auf den Kapitalmarkt setzt dies voraus, dass über den Zins als Preis des Kapitals auch Sparen und Investition sich im Gleichgewicht befinden.

Pareto-Optimum

Ein Pareto-Optimum, benannt nach Vilfredo Pareto (1848–1923), ist ein Zustand der Gesamtwirtschaft, in dem niemand besser gestellt werden kann, ohne dass ein anderer schlechter gestellt wird. Das Pareto-Optimum ist der normative Schlüsselbegriff der Neoklassischen Theorie und das Gegenstück zum positiven Begriff des Gleichgewichts. Das Erste Wohlfahrtstheorem verbindet diese beiden: Hiernach ist ein Gleichgewicht bei vollkommenem Wettbewerb stets ein Pareto-Optimum. Dieser Satz ist mathematisch beweisbar und die Fortentwicklung der intuitiven Vorstellung einer "unsichtbaren Hand": Unter idealisierenden Annahmen führt Marktwirtschaft nicht zu Chaos, sondern zu einem gesellschaftlich wünschenswerten Zustand.

Universitäre Lehre

In der universitären Lehre sind heute fast ausschließlich neoklassische, konsequent marktwirtschaftliche Ökonomen vertreten. Punktuell kommen noch Spieltheorie und experimentelle Ökonomie vor.[4] Im Mai 2014 wurde diese Dominanz von einem Bündnis von 40 Studenten-Vereinigungen aus 19 Staaten kritisiert und stattdessen eine Theorienpluralität in der ökonomischen Lehre gefordert. So würde in Universitäten die sich gegenseitig widersprechenden ökonomischen Theorien nicht gleichberechtigt vertreten und andere Schulen nicht in die Lehre mit einbezogen. Durch die daraus folgende methodische Einseitigkeit (vor allem quantitative Untersuchungen) könne die Ökonomie deshalb auf viele Fragen wie z. B. Finanzmarktstabilität und Klimawandel keine passenden Antworten finden. Unterstützung erfuhren die Initiatoren unter anderem von Thomas Piketty. Bereits 2012 hatten über 1000 Forscher und Studenten ein Memorandum verfasst, um auf „Fehlentwicklungen innerhalb der Disziplin“ hinzuweisen.[5]

Kritik

John Maynard Keynes kritisierte die makroökonomischen Aspekte der Neoklassischen Theorie.

In der Neuen Institutionenökonomik, so etwa in der Transaktionskostentheorie oder der Prinzipal-Agent-Theorie, werden Faktoren wie asymmetrische Information und Opportunismus berücksichtigt. Außerdem ist begrenzte Rationalität häufig eine realitätsnähere Annahme als die des vollständig rationalen Homo oeconomicus.

Ökonomen wie Joan Robinson und Edward Hastings Chamberlin versuchten mit dem Modell der unvollständigen Konkurrenz ein zutreffenderes Bild der Realität zu entwerfen.

Vertreter der Umweltökonomik werfen der Neoklassik vor, zur Ignoranz des klassischen Produktionsfaktors Boden zu tendieren, in dem sich die ökologische Begrenztheit menschlichen Wirtschaftens spiegle. Mit grundsätzlicherer Kritik an der Natur-, Macht- und Gerechtigkeitsvergessenheit der Neoklassik bemüht sich die Ökologische Ökonomik um eine ökonomische Theorie nachhaltiger Entwicklung.

Joseph Schumpeter und andere lehnten die statische Betrachtungsweise der Neoklassik ab, da sie die Dynamik der wirtschaftlichen Prozesse nur unzureichend erklären könne.

In der Kapitalkontroverse oder in der neoricardianischen Theorie werden die preis-, verteilungs-, wachstums- und kapitaltheoretischen Aussagen der Neoklassik in Frage gestellt.[6][7] Eine Grundlage für diese Kritik ist die Schrift Piero Sraffas The Law of Returns under Competitive Conditions (1926), in der Sraffa vor allem die Annahme eines fallenden Grenzprodukts der Arbeit kritisiert, was weitreichende Konsequenzen für alle weiteren Annahmen der Neoklassik mit sich bringt. In 1960er-Jahren kritisierten Sraffa und weitere Forscher auch die neoklassische Annahme eines einheitlichen Kapitals, ohne die sich nicht die Deckung des Zinssatzes mit einem angenommenen Grenzprodukt des Kapitals behaupten lässt.

Eine umfassende Kritik der Neoklassik hat Steve Keen mit dem Buch Debunking Economics vorgelegt, in dem neben oben genannten auch prominente, neoklassische Autoren gegen die Neoklassik angeführt werden, deren Veröffentlichungen insofern in gängigen, neoklassischen Lehrbüchern ignoriert würden.

Neben diesen fachinternen Kontroversen wird auch Kritik von externer Seite, genauer: der Wissenschaftstheorie, geübt. Im deutschsprachigen Raum ist in diesem Zusammenhang v. a. die Kritik Hans Alberts bekannt geworden, der die Art und Weise neoklassischer Modellbildung als „Modell-Platonismus“ bezeichnet hat.[8] Albert kritisiert dabei in erster Linie die Tatsache, dass die Modellierung oft unter umfassende Ceteris-paribus-Vorbehalte gestellt wird, wobei man über alle relevanten Rand- und Anfangsbedingungen, die eine Unter-Sonst-Gleichen-Bedingungen-Situation genau kennzeichnen, oft keine Kenntnis besitzt. Diese Ceteris-paribus-Vorbehalte ermöglichen jedoch die komplette Immunisierung einer Theorie gegen die Erfahrung: Erweist sich eine Theorie als empirisch widerlegt, kann man sich immer auf den Standpunkt zurückziehen, dass die Theorie doch stimme, nur die relevanten Rand- und Anfangsbedingungen im speziellen Fall nicht vorgelegen hätten. Der Wissenschaftstheoretiker Alexander Rosenberg gelangt zu der Auffassung, dass die Neoklassik oft keine empirisch gehaltvollen Theorien vorlege, also nicht handfeste empirische Forschung betreibe, sondern lediglich komplexe Mathematik, die mit der Realität nur noch wenig zu tun habe.[9][10]

Auch der österreichische Ökonom Stephan Schulmeister kritisiert, dass die neoklassische Gleichgewichtstheorie keine empirisch-realistische, sondern eine abstrakt-idealistische Wirtschaftstheorie ist, der Mathematik den „Schein von Objektivität“[11] verleihe. Doch die Angebots- und Nachfragekurven seien empirisch nicht beobachtbar, sondern lediglich einzelne Tauschakte, von denen man nicht wisse, ob sie zu Gleichgewichtspreisen erfolgten. Da „Produktdifferenzierungen bedeutend und in der Konkurrenz der Anbieter ausschlaggebend sind, darf die Logik des Marktdiagramms nicht angewendet werden.“ Völlig sinnlos sei die Verwendung von Begriffen wie der Arbeitsmarkt, da hier das Unterschiedliche über das Gemeinsame dominiere. „Die einzigen Märkte, auf denen der jeweils gehandelte Gegenstand vollkommen homogen ist, sind die Finanzmärkte.“ Doch gerade diese produzieren keine Gleichgewichtspreise.[12]

Siehe auch

Literatur

  • Bernhard Felderer, Stefan Homburg: Makroökonomik und neue Makroökonomik. Berlin 2003, ISBN 3-540-25020-4.
  • Jürgen Kromphardt: Wirtschaftswissenschaft II: Methoden und Theoriebildung in der Volkswirtschaftslehre. In: HdWW. Bd. 9 (1982), S. 904–936.
  • Joseph Schumpeter: Geschichte der ökonomischen Analyse. 2 Bände. Hrsg.: Fritz Mann. 2007, ISBN 3-525-10526-6.
  • Arnis Vilks: Neoklassik, Gleichgewicht und Realität. Eine Untersuchung über die Grundlagen der Wirtschaftstheorie. Heidelberg 1991, ISBN 3-7908-0569-6.
  • Steve Keen: Debunking Economics: The Naked Emperor of the Social Sciences. London & New York 2011, ISBN 1-84813-992-6.
  • Arne Heise u. a.: Das Ende der Heterodoxie? Entwicklung der Wirtschaftswissenschaften in Deutschland. Wiesbaden 2017, ISBN 978-3-658-14907-9.

Einzelnachweise

  1. U. Hampicke (1992): Ökologische Ökonomie, Individuum und Natur in der Neoklassik. Natur in der ökonomischen Theorie: Teil 4. S. 20–38.
  2. St. Franz: Grundlagen des ökonomischen Ansatzes: Das Erklärungskonzept des Homo Oeconomicus. In: W. Fuhrmann (Hrsg.): Working Paper. In: International Economics. Heft 2, 2004, Nr. 2004-02, Universität Potsdam
  3. a b Gebhard Kirchgässner: Homo oeconomicus. Mohr Siebeck, Tübingen 2008, S. 13.
  4. Hartmut Kiehling, Wirtschafts- und Sozialgeschichte kompakt, Oldenbourg 2009, S. 105.
  5. „Intellektuelle Monokultur“. Wirtschaftsstudenten prangern einseitige Lehre an . In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6. Mai 2014. Abgerufen am 6. Mai 2014.
  6. Michael Heine, Hansjörg Herr: Volkswirtschaftslehre. Paradigmenorientierte Einführung in die Mikro- und Makroökonomie. München / Wien 2003, S. 233ff.
  7. Vgl. Christian Christen: Politische Ökonomie der Alterssicherung. Kritik der Reformdebatte um Generationengerechtigkeit, Demographie und kapitalgedeckte Finanzierung. Marburg 2011, ISBN 978-3-89518-872-5, S. 321 ff.
  8. Hans Albert: Modell-Platonismus: Der neoklassische Stil des ökonomischen Denkens in kritischer Beleuchtung. In: Heinz Maus, Friedrich Fürstenberg (Hrsg.): Marktsoziologie und Entscheidungslogik. Ökonomische Probleme in soziologischer Perspektive. Neuwied/ Berlin 1967, S. 331–367.
  9. Alexander Rosenberg: Economics: Mathematical Politics or Science of Diminishing Returns. University of Chicago Press, 1992.
  10. Alexander Rosenberg: The Cognitive Status of Economic theory. In: Backhouse, Nature of Economic Method. Routledge, London 1994, S. 216–235.
  11. Stephan Schulmeister: Der Weg zur Prosperität. Ecowin, München 2018, S. 18.
  12. Stephan Schulmeister: Der Weg zur Prosperität. Ecowin, München 2018, S. 369.