Thomas Piketty

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie

Thomas Piketty [tɔˈma pikɛˈti] (* 7. Mai 1971 in Clichy bei Paris, Département Hauts-de-Seine) ist ein französischer Wirtschaftswissenschaftler. Er ist Professor an der Pariser Elitehochschule École des Hautes Études en Sciences Sociales (EHESS).

Im Jahr 2014 sorgte seine Veröffentlichung Das Kapital im 21. Jahrhundert (französisch 2013: Le Capital au XXIe siècle) weltweit, besonders in den Vereinigten Staaten, für sehr große Aufmerksamkeit.

Werdegang

Piketty konnte bereits mit sechzehn Jahren 1987 sein Baccalauréat erreichen. Nach den üblichen zwei Jahren in einer Classe préparatoire begann er 1989 im Alter von achtzehn Jahren Ökonomie an der École normale supérieure (ENS) zu studieren. Mit 22 Jahren wurde Piketty mit einer Arbeit über Umverteilung promoviert, die er an der École des Hautes Études en Sciences Sociales (EHESS) und der London School of Economics geschrieben hatte, und die im European Doctoral Program in Quantitative Economics gefördert wurde. Von 1993 bis 1995 lehrte er als Assistant Professor am Massachusetts Institute of Technology (MIT). 1995 wurde er Mitglied des Centre national de la recherche scientifique (CNRS) und 2000 Direktor der École des Hautes Études en Sciences Sociales (EHESS), seit 2007 unterrichtet er auch an der dort angegliederten Paris School of Economics.[1][2]

Während des Wahlkampfes zur Präsidentschaftswahl in Frankreich 2007 war Piketty wirtschaftspolitischer Berater der sozialistischen Kandidatin Ségolène Royal, die schließlich mit 46,94 Prozent der Stimmen dem Konservativen Nicolas Sarkozy unterlag.[3]

Der breiten Öffentlichkeit wurde Piketty mit der englischsprachigen Ausgabe seines Werkes Capital in the Twenty-First Century im Jahr 2014 bekannt, das bei seinem Erscheinen sowohl innerhalb von Fachkreisen als auch in den allgemeinen Medien für ein Ökonomiebuch außergewöhnlich viel diskutiert wurde.

Er ist seit 2014 mit der Wirtschaftswissenschaftlerin Julia Cagé verheiratet.[4][5]

Forschung

Piketty forscht insbesondere zu den Themen Einkommensverteilung, Vermögensverteilung und soziale Ungleichheit. Er versteht, laut FAZ, die Wirtschaftswissenschaft als Sozialwissenschaft, der es darum gehen sollte, mit realen Daten reale Probleme zu erörtern oder gar zu lösen.[6] Sein Ansatz sei eine sozialdemokratisch-popperianische Anthropologie des Kapitals.[7]

Einkommen

Langjährige Forschungen in Zusammenarbeit mit Kollegen (insbesondere Anthony Atkinson und Emmanuel Saez) zur Einkommensverteilung zeigen, dass nach einem Rückgang der ökonomischen Ungleichheit in den westlichen Industrienationen zwischen den 1940er und 1970er Jahren die soziale Ungleichheit wieder zugenommen hat.

Piketty zeigte mithilfe der Untersuchung von Einkommensteuern, dass in Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg die Einkommensungleichheit abnahm. Er führt dies auf den Anstieg der Steuerprogression in Frankreich in der damaligen Phase zurück.

Die Zunahme der Einkommensungleichheit nach den 1970er Jahren erklärt nach Piketty auch einen Teil der Finanzkrise ab 2007: „Wenn die Finanzbranche zu stark wachse, fördere dies das Einkommensgefälle, weil entsprechende Vermögensgewinne vor allem den obersten Einkommen zugutekämen“.[8]

Die Daten von Piketty und seinen Kollegen zur Einkommensverteilung und insbesondere zu Top-Vermögen in verschiedenen Ländern führten zur Datenbank World Top Income Database, die seit 2011 online zugänglich ist.[9]

Vermögen

In Das Kapital im 21. Jahrhundert verknüpft Piketty seine vorangehenden historischen Forschungen zur Einkommensverteilung und Vermögensverteilung mit einer Theorie des Kapitalismus. Er argumentiert, dass unregulierter Kapitalismus unweigerlich zu steigender Vermögenskonzentration führt. Starke Vermögenskonzentration führe zu einer stagnierenden Wirtschaft und sei eine Bedrohung für die Demokratie. Diese Entwicklung und deren ideologische Legitimation nennt er in Kapital und Ideologie Proprietarismus. Die Sakralisierung des Eigentums sei eine Art Antwort auf das Ende der Religion.

Sobald die Kapitalrendite („r“) größer als das Wirtschaftswachstum („g“) sei, also „r > g“, trete diese Entwicklung ein. In der Geschichte sei r in der Regel größer gewesen als g, im 19. Jahrhundert sei dann erstmals g > r gewesen. Allerdings hätten Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Zeit des Ersten Weltkriegs die Kapitaleinkünfte gegenüber dem Wirtschaftswachstum stark zugenommen. Die starke Ungleichheit dieser (in Europa Belle Époque und in den USA Gilded Age genannten) Ära sei dann durch den Ersten Weltkrieg vorerst beendet worden. Dieser sowie die Great Depression und der Zweite Weltkrieg hätten zu einem Abbau der Vermögenskonzentration geführt und somit dazu, dass das Wirtschaftswachstum größer als die Kapitaleinkünfte gewesen sei (g > r). Diese Entwicklung habe um etwa 1980 aufgehört. Seitdem – so in Kapital und Ideologie – kenne die „neo-proprietistische“ Gesellschaft bei wieder steil angestiegener Ungleichheit nur schwache Wachstumsraten. Auch wurde die sozialdemokratische Wählerschaft in allen westlichen Ländern ausgetauscht: Sie umfasse heute vor allem die Kohorte der Akademiker („brahmanische Linke“) an Stelle der früheren vorwiegend bildungsfernen Arbeiterschichten, deren demütigender Repräsentationsverlust alle beunruhigen müsse.[10]

In einem Interview mit der ZEIT behauptete Piketty, dass Deutschland das Land sei, das nie seine Schulden aus den Weltkriegen bezahlt habe.[11] In einem Gastbeitrag in derselben Zeitung warf ihm Historiker Christopher Kopper daraufhin einen Irrtum bei der Analyse der historischen Präzedenzfälle vor.[12]

In Le Monde machte Piketty die ungleiche Verteilung von Reichtum auch für Terrorismus verantwortlich.[13]

CFA-Franc

Im Oktober 2021 erklärte Thomas Piketty über die verwendete Währung im französischsprachigen West- und Zentralafrika: „2021 weiterhin vom CFA-Franc zu sprechen, ist eine Form der Anomalie“. Der CFA-Franc ist eine viel kritisierte Währung.[14]

Kritik

Eine umfassende kapitalismuskritische Kommentierung des Hauptwerks von Piketty wurde von Stephan Kaufmann und Ingo Stützle vorgelegt.[15] Richard Sutch bemängelt, dass Piketty viele der zugrundeliegenden historischen Daten unvollständig und fehlerhaft interpoliert habe.[16] Auch die Wirtschaftshistorikerin Mary O’Sullivan kritisiert Piketty: «Er kann den Trend der Ungleichheit nicht erklären – weil er die Profitfrage ausblendet.»[17] Die Vertreter liberal-konservativer Think-Tanks Nicolaus Lecaussin und Jean-Philippe Delsol kritisieren, dass Piketty die Elitenzirkulation übersehe: Drei Viertel der reichsten Amerikaner seien von 1987 bis 2007 aus der Spitzengruppe herausgefallen. Die Chance, Reichtum zu erwerben, sei ein wichtiger Anreiz zur Gründung neuer Unternehmen.[18] Dem widerspricht Piketty mit dem Hinweis, dass immer mehr Menschen vom Kapitalaufbau ausgeschlossen werden.

Ehrungen und Auszeichnungen

Publikationen

Bücher

Deutsch

  • 2022: Eine kurze Geschichte der Gleichheit. Aus dem Französischen von Stefan Lorenzer. C. H. Beck, München 2022, ISBN 978-3-406-79098-0.[22]
  • 2022: Rassismus messen, Diskriminierung bekämpfen. Aus dem Französischen von Stefan Lorenzer. C. H. Beck, München 2022, ISBN 978-3-406-78875-8.[23]
  • 2020: Kapital und Ideologie (aus dem Französischen von André Hansen, Enrico Heinemann, Stefan Lorenzer, Ursel Schäfer und Nastasja S. Dresler), Beck, München 2020, ISBN 978-3-406-74571-3.[24]
  • 2018: mit Facundo Alvaredo, Lucas Chancel, Emmanuel Saez, Gabriel Zucman (Hrsg.): Die weltweite Ungleichheit: Der World Inequality Report 2018 (Übersetzt von Hans Freundl, Stephan Gebauer). C. H. Beck, München 2018, ISBN 978-3-406-72385-8.
  • 2016: Ökonomie der Ungleichheit. Eine Einführung (übersetzt von Stefan Lorenzer), C. H. Beck, München 2016 ISBN 978-3-406-69846-0.[25]
  • 2015: Die Schlacht um den Euro. Interventionen (übersetzt von Stefan Lorenzer), Beck, München 2015, ISBN 978-3-406-67527-0.
  • 2014: Das Kapital im 21. Jahrhundert (übersetzt von Ilse Utz und Stefan Lorenzer), Beck, München 2014, ISBN 978-3-406-67131-9.

Französisch

  • 2021: Une brève histoire de l’égalité. Seuil, 2021, ISBN 978-2-02-148597-4.
  • 2019: Capital et Idéologie. Seuil, 2019, ISBN 978-2-02-133804-1.[26][27]
  • 2013: Le Capital au XXIe siècle. Le Seuil, Paris, ISBN 978-2-02-108228-9.
  • 2011: mit Camille Landais und Emmanuel Saez: Pour une Révolution Fiscale. Un Impôt sur le Revenu pour le XXIème Siècle. Le Seuil, ISBN 2-02-103941-2 Materialien.
  • 2008: L’économie des inégalités. Découverte, Paris, ISBN 2-7071-5608-6.
  • 2006: Les hauts revenus en France au XXe siècle. Intégralités et redistributions, 1901–1998. Hachette, Paris 2006, ISBN 2-01-279292-8.
  • 1999: Introduction a la theorie de la redistribution des richesses. Economica, Paris 1999, ISBN 2-7178-2653-X.

Englisch

Fachaufsätze

  • mit Emmanuel Saez, Stefanie Stantcheva: Optimal taxation of top labor incomes: a tale of three elasticites. In: American economic journal: economic policy. Band 6, Nr. 1, 2014, S. 230–271 (piketty.pse.ens.fr PDF).
  • mit Facundo Alvaredo, Anthony Atkinson, Emmanuel Saz: The top 1 % in international and historical perspective In: Journal of economic perspectives. Band 27, Nr. 3, 2013, S. 1–21 (piketty.pse.ens.fr PDF).
  • mit Anthony Atkinson, Emmanuel Saez: Top Incomes in the Long Run of History. In: Journal of Economic Literature. Band 49, Nr. 1, S. 3–71 (elsa.berkeley.edu PDF).

Zeitungsartikel

Bücher über Piketty

  • Heinz-Josef Bontrup: Pikettys Krisen-Analyse. Warum die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden. pad-verlag. Bergkamen 2014, ISBN 978-3-88515-260-6.
  • Albert F. Reiterer: Der Piketty-Hype – „The great U-Turn“. Piketty’s Kapital und die neoliberale Vermögenskonzentration. pad-Verlag, Bergkamen 2014, ISBN 978-3-88515-259-0.
  • Stephan Kaufmann, Ingo Stützle: Kapitalismus: Die ersten 200 Jahre. Thomas Pikettys „Das Kapital im 21. Jahrhundert“: Einführung, Debatte, Kritik. Bertz + Fischer Verlag, Berlin 2014, ISBN 978-3-86505-730-3 (Erweiterte Neuauflage 2020, ebenda, ISBN 978-3-86505-764-8).

Weblinks

Commons: Thomas Piketty – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Thomas Piketty : Curriculum vitae – September 2013; Paris School of Economics, abgerufen am 22. April 2014 (pdf; 52 kB)
  2. Taking On Adam Smith (and Karl Marx); Steven Erlanger; The New York Times, abgerufen am 28. April 2014
  3. Thomas Piketty: a modern French revolutionary New Statesman, 3. April 2014
  4. Comment Thomas Piketty est devenu un gourou mondial. In: L'Obs. (nouvelobs.com [abgerufen am 11. Februar 2017]).
  5. On Tour With Rock-Star Economist Thomas Piketty. In: Daily Intelligencer. (nymag.com [abgerufen am 11. Februar 2017]).
  6. Nils Minkmar: Zu Besuch bei Thomas Piketty : Der neue Star der Intellektuellenszene. In: FAZ.NET. ISSN 0174-4909 (faz.net [abgerufen am 20. Juli 2022]).
  7. Nils Minkmar: Der neue Star der Intellektuellenszene. In: FAZ.net. 7. Mai 2014, abgerufen am 13. Oktober 2018.
  8. Mathias Ohanian, Thomas Fricke: Neue Denker (3): Piketty – Wenn Reiche zu wenig Steuern zahlen (Memento vom 30. Juli 2012 im Webarchiv archive.today); Porträt in der Financial Times Deutschland vom 30. März 2010.
  9. https://wid.world/
  10. Andreas Zielcke in Süddeutsche Zeitung v. 11. März 2020, S. 11 Vorwärts ohne Marx.
  11. Thomas Piketty „Deutschland hat nie bezahlt“, Interview, Die Zeit, 27. Juni 2015
  12. Christopher Kopper: „Zwei Kriege, ein Desaster“ Die Zeit, 2. August 2015
  13. washingtonpost.com Why inequality is to blame for the rise of the islamic state
  14. Thomas Piketty : « Continuer à parler en 2021 de Franc CFA, c’est une forme d’anomalie » In: Jeune Afrique TV, 1. Oktober 2021 (französisch).
    Video: Thomas Piketty : « Continuer à parler en 2021 de Franc CFA, c’est une forme d’anomalie » In: dailymotion, 2. Oktober 2021 (2:03 Minuten, französisch).
  15. Stephan Kaufmann / Ingo Stützle: Kapitalismus. Die ersten 200 Jahre.Thomas Pikettys »Das Kapital im 21. Jahrhundert« – Einführung, Debatte, Kritik. 112 Seiten, 13 Abbildungen, Paperback, 10,5 × 14,8 cm. 4., durchgesehene Auflage, Bertz + Fischer, Berlin 2015, ISBN 978-3-86505-730-3.
  16. Social Science History 2017
  17. Neue Zürcher Zeitung: Wirtschaftshistorikerin Mary O’Sullivan: «Wir wissen noch immer nicht, was Profit ist». Abgerufen am 12. Juni 2019.
  18. N. Lecaussin, J.-P. Delsol u. a.: Anti-Piketty: Vive le capital au XXIe siècle! Paris 2015.
  19. Prix du meilleur jeune économiste 2002. lecercledeseconomistes.fr, 22. Mai 2002, abgerufen am 9. Dezember 2015 (französisch).
  20. Robert-Jungk-Bibliothek für Zukunftsfragen (Hrsg.): proZukunft. Nr. 2014/4. Robert-Jungk-Bibliothek für Zukunftsfragen, Salzburg 2014, S. 32.
  21. Spiegel Online: Piketty lehnt Mitgliedschaft in der Ehrenlegion ab. Artikel vom 1. Januar, abgerufen am 1. Januar 2015.
  22. Deutschlandfunk Kultur Buchkritik vom 25. August 2022: Es gibt einen historischen Fortschritt, von Jens Balzer, abgerufen am 25. August 2022
  23. Beck Verlag [1]
  24. Beck Verlag [2] Frankfurter Rundschau [3]
  25. Jan-Otmar Hesse: Rezension zu Thomas Piketty: Ökonomie der Ungleichheit. Eine Einführung. München: Beck 2016 (C. H. Beck Wissen 2864). In: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 104 (2017), Heft 4, S. 573–574. Hesses Verriss der Übersetzung des französischen Originals aus dem Jahr 1999 im Jahr 2016 kulminiert im Satz „Inhaltlich ist das Buch damit zumindest nutzlos, aber eigentlich auch unseriös.“ (Ebd., S. 574). Konkret wirft Hesse dem Verlag vor aus ökonomischen Gründen ein Büchlein herausgegeben zu haben, das mittlerweile überholt sei, da „hier die angreifbaren und nutzlosen Statistiken der OECD der 1990er Jahre ausgebreitet [würden], die mit der Welt nach der Finanzkrise nichts mehr zu tun [hätten]“ (Ebd., S. 574). Das Literaturverzeichnis sei nur „notdürftig um einige der wichtigen neueren Arbeiten des Autors ergänzt“ (Ebd., S. 574) worden, während sich „Hinweise auf die zahlreichen und wissenschaftlich äußerst produktiven Kontroversen rund um Piketty oder auf die zwischenzeitlich erschienene Untersuchungen anderer Wissenschaftler (Branko Milanowic (sic)) [...] nicht“ fänden (Ebd., S. 574).
  26. Tanja Kuchenbecker: Thomas Pikettys zweites Buch. In: Tagesspiegel. Abgerufen am 16. September 2019.
  27. Daniel Binswanger: Ungleichheit ist kein Naturgesetz. In: Republik.ch, 12. Oktober 2019 (Rezension)