Neutronendiffusion

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2D-Neutronenfluss in 3D-Darstellung über einer Querschnittsfläche[1] eines Kernreaktors in Gestalt eines Quaders mit homogen verteiltem Kernbrennstoff. Der Neutronenfluss hat an allen Außenflächen des Quaders den Zahlenwert Null, was vorgegeben wurde. Der Neutronenfluss ist frei normierbar,[2] z. B. kann dem Maximalfluss der Zahlenwert Eins zugewiesen werden

Die Neutronendiffusion (lat.

diffundere

‚ausgießen‘, ‚verstreuen‘, ‚ausbreiten‘), ein Spezialfall in der rechnerischen Behandlung des allgemeinen Neutronentransports, ist hauptsächlich wichtig in der Berechnung von Kernreaktoren. Diffusion meint zwar auch hier einen ohne äußere Einwirkung eintretenden Vorgang, aber nicht nur den Ausgleich von Anzahldichteunterschieden; bei der Neutronendiffusion sind die Vorgänge vielgestaltiger, denn freie Neutronen können durch Kernreaktionen neu entstehen und durch Absorption verschwinden.

Vereinfachte Neutronen-Diffusionsgleichungen

Ein Raumbereich sei homogen mit Material gefüllt, das sowohl Neutronen durch Kernspaltung erzeugen als auch Neutronen absorbieren kann.

Der Neutronenfluss lässt sich durch Lösung der Differentialgleichung der Neutronendiffusion gewinnen:[3]

Es bedeuten

Zeichen Einheit Benennung
1/cm³ Neutronenanzahldichte
s Zeit
1/cm³s Lokale Neutronenquelle
1/cm²s Neutronenfluss
cm Neutronendiffusionskoeffizient
1/cm² Laplaceoperator
1/cm Makroskopischer Absorptionsquerschnitt

Die Neutronen-Diffusionsgleichungen sind Größengleichungen, also von Einheiten unabhängig. Aber es gibt übliche Einheiten in der Reaktorphysik, die in der zweiten Spalte der Tabelle angegeben worden sind. Jeder Term des obigen Differentialgleichungssystems, der als Produkt von makroskopischem Wirkungsquerschnitt und Neutronenfluss gebildet wird, z. B.

,

besitzt als physikalische Größe die Einheit

.

Das ist die Einheit einer Kernreaktionsratendichte.

Eindimensionale Neutronen-Diffusionsgleichungen

In einem Medium, das durch zwei parallele Flächen mit unendlicher Oberfläche begrenzt ist, dem sogenannten Plattenreaktor, ergibt sich die vereinfachte Neutronen-Diffusionsgleichung zu

.

In zylindrischer Geometrie, einem Reaktor in der Form eines Zylinders von unendlicher Länge (Polarkoordinaten), lautet die vereinfachte Neutronen-Diffusionsgleichung

.

In sphärischer Geometrie entsprechend

.

Im stationären Zustand ist die zeitliche Änderung der Neutronenanzahldichte Null, . Von dieser Annahme gehen wir auch bei den stationären Vielgruppen-Neutronen-Diffusionsgleichungen aus (siehe unten).

Zeitunabhängige Neutronen-Diffusionsgleichung

In einem Reaktor wird im stationären Zustand der Quellterm S durch beschrieben.

.

Dabei ist der Neutronenmultiplikationsfaktor im unendlich ausgedehnten Medium.

ist das Quadrat der Diffusionslänge . Da im kritischen Reaktor sein muss, kann man die Größe

einführen; sie heißt in der Reaktorphysik Buckling, eingedeutscht Flusswölbung. Die vereinfachte Form der Neutronen-Diffusionsgleichung lautet damit

.

Diese Gleichung ist vom Typ Helmholtz-Gleichung.

Stationäre Vielgruppen-Neutronen-Diffusionsgleichungen

Der reale Fall eines heterogenen Reaktors wird durch die stationären Vielgruppen-Neutronen-Diffusionsgleichungen beschrieben.[4][5] Der stationäre Neutronenfluss für die Energiegruppe am Ort genügt den homogenen, zeitunabhängigen Vielgruppen-Neutronen-Diffusionsgleichungen

mit der Quellratendichte , einer Summe von Spaltraten- und Streuquelldichten, in der Form

für

und alle Orte im Raumbereich, für die diese Differentialgleichungen zu lösen sind.

Diese Gleichungen bilden ein System von partiellen, elliptischen Differentialgleichungen 2. Ordnung. In der hier dargestellten Form wurde die kontinuierliche Energievariable bereits in Intervalle, in Energiegruppen, unterteilt. Die sog. Gruppenkonstanten, die in die Koeffizienten des Gleichungssystems eingehen, sind (bis auf Ausnahmen) material-, orts- und energieabhängig. Bevor man mit der Lösung der Vielgruppen-Neutronen-Diffusionsgleichungen beginnen kann, müssen diese Koeffizienten mit einem Zellprogramm berechnet worden sein und zahlenmäßig als Eingabedaten vorliegen.

Es bedeuten

Zeichen Einheit Benennung
cm Ort, die Koordinaten eines Punkts im Lösungsbereich
1/cm²s Neutronenfluss der Energiegruppe am Ort , die fundamentale Eigenfunktion des Differentialgleichungssystems
1 Effektiver Multiplikationsfaktor, der Eigenwert, der zur fundamentalen Eigenfunktion gehört
und 1 Nummer der Energiegruppe
1 Anzahl der Energiegruppen
1/cm Nabla- oder Gradientenoperator
cm Neutronendiffusionskoeffizient der Gruppe am Ort
1/cm Makroskopischer totaler Verlustquerschnitt der Gruppe am Ort , auch als makroskopischen Removalquerschnitt bezeichnet (daher Index r)
1/cm Makroskopischer Neutronen-Produktionsquerschnitt der Gruppe am Ort . Das ist ein Produkt aus der mittlere Anzahl der Neutronen pro Spaltung und dem makroskopischen Spaltquerschnitt (Index f von fission).
1/cm Makroskopischer Streuquerschnitt von der Gruppe in die Gruppe am Ort . Beachte, dass die Matrixindizes oft in der Form geschrieben werden (Index s von scattering oder Streuung)
1 Spaltspektrum der Gruppe . Ist im allgemeinen ortsunabhängig

Jede einzelne der Stück Gleichungen des Systems ist die differentielle Form einer Erhaltungsgleichung für die Anzahl der Neutronen im Raum am Ort , deren Energien in dem Intervall liegen, das durch die Grenzen der Energiegruppe festgelegt ist.

Das Differentialgleichungssystem wird vervollständigt durch zwei Stetigkeitbedingungen und eine Bedingung für alle Punkte, die auf äußeren Randflächen liegen. Ist das System symmetrisch, besitzt es zum Beispiel Spiegelebenen, dann kommen spezielle Randbedingungen an diesen Ebenen hinzu.

Anmerkungen und Einzelnachweise

  1. Der Schnitt kann parallel zu allen Außenflächen des Quaders geführt werden. Das Maximum des Neutronenflusses liegt im Mittelpunkt des Quaders. Wird der Schnitt nicht durch den Mittelpunkt geführt, verringert sich der Neutronenfluss gegenüber dem durch den Mittelpunkt geführten nur um eine Konstante, die mit dem Abstand des Schnitts vom Mittelpunkt kleiner wird.
  2. Da die Neutronendiffusionsgleichung eine homogene lineare Differentialgleichung ist, ist mit einer Neutronenfluss-Lösung auch der mit einer beliebigen Konstanten multiplizierte Neutronenfluss eine Lösung der Neutronendiffusionsgleichung.
  3. Samuel Glasstone, Milton C. Edlund: The elements of nuclear reactor theory. MacMillan, London 1952 (VII, 416 S.). Diese Monografie hat wie keine andere die damals junge Generation der Reaktorphysiker in West und Ost und die späteren Lehrbuchschreiber geprägt. Ihr 6. Druck vom Februar 1957 ist vollständig online einsehbar.[1]. Volltextsuche ist möglich. Neutronendiffusion ist auf S. 106 behandelt.
  4. C. W. J. McCallien: SNAP, Multigroup 3-D Neutron Diffusion in XZ, R-Theta-Z, Hexagonal-Z, Triangular-Z Geometry. AEA-RS-1214, 1993.
  5. Paul Reuss: Neutron physics. EDP Sciences, Les Ulis, France 2008, ISBN 978-2-7598-0041-4 (xxvi, 669, eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche). Reuss behandelt die Neutronendiffusion u. a. auf S. 650.