Nuit debout

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Pro­test in Paris, 10. April 2016
Ge­schmück­te Frei­heits­sta­tue auf dem Platz der Re­pu­blik, Paris, März 2016
Graffito mit Aufruf zum Aufstand, Paris, April 2016
Richard Stallman bei Hack­ing debout, Paris, 17. April 2016

Nuit debout (französisch [ˈnɥi ˌdə.bu], in der deutschen Presse übersetzt als „Die Nacht über wach (bleiben)“,[1] „die Nacht wach, aufrecht verbringen“,[2] auch „Die Aufrechten der Nacht“[3][4]) ist eine soziale Bewegung, die in Frankreich seit dem 31. März 2016 auf der Place de la République in Paris und anderen Städten des Landes jeden Abend und in der darauf folgenden Nacht gegen geplante Änderungen des Arbeitsrechts[5] protestiert. Später schlossen sich auch die Gewerkschaften den Protesten an. Kommentatoren haben die Tragweite der arbeits- und sozialrechtlichen Reformen mit der Agenda 2010 in Deutschland verglichen. Der französische Staatspräsident Hollande selbst sprach von einem Kernstück seiner Amtszeit, das er auf jeden Fall politisch umsetzen wolle.[6] Angesichts der Schwere der Proteste ließ Ministerpräsident Valls jedoch Ende Mai 2016 durchblicken, dass „Verbesserungen“ der geplanten Reformen möglich seien.[7]

Hintergrund

In Frankreich waren Ende Oktober 2015 fast 3,6 Millionen Menschen arbeitslos; die Arbeitslosenquote betrug etwa 10,8 %.[8] Die Regierung von Staatspräsident Hollande und Ministerpräsident Valls plante eine Arbeitsrechtsreform mit dem Ziel, die Schaffung neuer Arbeitsplätze zu erleichtern und die Wirtschaft anzukurbeln.[9] Dazu sollte unter anderem die Anzahl der Flächentarife von 750 auf 100 verringert werden.[10] Die Arbeitszeiten sollten verlängert und der Kündigungsschutz bei Arbeitsverhältnissen verschlechtert werden.[11]

Gegen dieses Vorhaben regte sich Widerstand. Nuit debout begann mit einem Facebook-Aufruf; eine Besetzung des Place de la République war zunächst für drei Tage geplant.[12] Der Protest wurde von der Presse in einen Zusammenhang mit der Occupy-Bewegung und dem 2010 veröffentlichten Aufruf Empört euch! von Stéphane Hessel[3] und mit der Indignados-Bewegung 2011/2012 in Madrid eingeordnet.[13][14] Wie François Ruffin wurde auch Frédéric Lordon der Widerstandsbewegung als intellektueller Kopf zugeordnet.[15]

Der Beginn von Nuit debout lag zeitlich vor dem Start der Fußball-Europameisterschaft 2016 in Frankreich, die am 10. Juni begann. In Frankreich haben Protestveranstaltungen, Demonstrationen und Streiks traditionell mehr Zulauf als in einigen anderen Ländern der Region.[16][17][18]

Verlauf der Proteste

Die Bewegung ging von Paris aus, wo vorwiegend junge Menschen auf dem Platz der Republik nächtliche Versammlungen abhielten, auf denen jeder Teilnehmer Rederecht hatte. Viele Redner kritisierten die seit langem andauernde hohe Jugendarbeitslosigkeit in Frankreich (etwa 25 %[19]) und eine soziale Schieflage der französischen Gesellschaft zulasten junger Menschen. Auch in Nizza, Marseille und anderen französischen Städten fanden nächtliche Versammlungen statt.[20] Ende März gingen in Frankreich 400.000 Menschen auf die Straße.[12] Zu ähnlichen Veranstaltungen wurde auch in Belgien, in Deutschland, in Italien, in den Niederlanden, Portugal, in der Schweiz und in Spanien aufgerufen.[21]

In der Nacht vom 14. auf den 15. April 2016 kam es am Rande der Nuit debout in Paris zu Ausschreitungen.[1][22][23] Am 28. April 2016 kam es in mehreren französischen Städten zu Demonstrationen mit Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und Demonstranten.[24] Die Besetzung des Platz der Republik wurde nach sechs Wochen von der Polizei geräumt.[12] Nach Angaben des Innenministeriums nahm die Zahl der Demonstranten zwischen dem 31. März und dem 1. Mai landesweit von 1,2 Millionen auf 84.000 ab.

Am 10. Mai 2016 setzte die Regierung Valls für die Verabschiedung ihrer Arbeitsrechtsreform mangels einer Mehrheit in der Nationalversammlung den Artikel 49 Absatz 3 der Verfassung Frankreichs ein. Die Opposition stellte einen Misstrauensantrag; dieser erhielt aber keine Mehrheit der Abgeordnetenstimmen.[25]

Die Gewerkschaft CGT begann im Mai mit Streiks. Der CGT-Vorsitzende Philippe Martinez rief am 24. Mai zu einer „Generalisierung des Streiks auf, überall, in allen Betrieben“.[26] Ab Mitte Mai wurde in vielen französischen Städten das Benzin knapp, weil Lastwagenfahrer Raffinerien und Treibstofflager in einem Streik blockieren. Die Abgabe an Autofahrer wurde vielfach rationiert, in einigen Bezirken wurde der Verkauf in Kanistern untersagt. Viele Tankstellen schlossen mangels Benzin.[27][6] Auch Atomkraftwerke wurden bestreikt.[28] Zum Beispiel beschlossen am 25. Mai 2016 Angestellte im Atomkraftwerk Nogent-sur-Seine, dem wichtigsten Kraftwerk für die Region Paris, die Drosselung der Stromproduktion.[29]

Am 26. Mai 2016 kündigte Ministerpräsident Valls in einem Interview mit dem privaten französischen Nachrichtensender BFM TV „Verbesserungen“ der Reformen an. Der „Rahmen“ des Vorhabens solle aber beibehalten werden.[7]

Seit Mai 2016 ließ die Beteiligung an den nächtlichen Protesten immer mehr nach. Im Juni 2016 habe sich zu einer Versammlung in Paris nur noch eine Handvoll Demonstranten zusammengefunden, die noch über die Zukunft der Bewegung diskutierten.[30]

Seitdem gab es immer wieder Versuche, Nuit debout wiederzubeleben. Im Zusammenhang mit der Affäre Fillon gab es im Februar 2017 im Vorfeld der Präsidentschaftswahl in Frankreich 2017 mehrere Proteste.[31] An einer der größeren Demonstrationen im Nachfeld der Bewegung nahmen etwa 2.500 Menschen teil.[12]

Weblinks

Commons: Nuit debout – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. a b Paris – Ausschreitungen bei Protesten der Bewegung „Nuit debout“. (Nicht mehr online verfügbar.) In: Deutschlandfunk. Archiviert vom Original am 15. April 2016; abgerufen am 15. April 2016.
  2. Ursula Welter, Suzanne Krause: Proteste in Frankreich – Die Revolution der Jugend. In: Deutschlandfunk. 28. April 2016, abgerufen am 30. April 2016.
  3. a b Georg Blume: Frankreich: Die Schlaflosen von Paris. In: Die Zeit. ISSN 0044-2070 (zeit.de [abgerufen am 14. April 2016]).
  4. Anmerkung: Nuit debout. der Slogan der Bewegung, verbindet mehrere Bedeutungen: Es kann „schlaflose Nacht“ bedeuten, weil man so viele Sorgen hat, dass man nicht schlafen kann; es kann auch „die Nacht durchmachen“ bedeuten, d. h. voller Energie ein Ziel verfolgen, sowie übertragen „die Nacht, in der man (aufrecht) seinen Standpunkt vertritt“.
  5. N° 3600 – Projet de loi visant à instituer de nouvelles libertés et de nouvelles protections pour les entreprises et les actifs. In: www.assemblee-nationale.fr. Abgerufen am 14. April 2016.
  6. a b Stefan Simons: Blockaden und Streiks: Gewerkschaften bekämpfen Frankreichs "Agenda 2010". In: SPIEGEL ONLINE. Abgerufen am 25. Mai 2016.
  7. a b Blockaden in Frankreich: Vive la grève! In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 26. Mai 2016, ISSN 0174-4909 (faz.net [abgerufen am 26. Mai 2016]).
  8. 3,59 Millionen Arbeitslose Rekordarbeitslosigkeit in Frankreich. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 27. November 2015, ISSN 0174-4909 (faz.net [abgerufen am 14. April 2016]).
  9. Frankreich So will Hollande mehr Arbeitsplätze schaffen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 18. Januar 2016, ISSN 0174-4909 (faz.net [abgerufen am 14. April 2016]).
  10. Christian Schubert: Für mehr Jobs Frankreich will das Arbeitsrecht lockern. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 9. September 2015, ISSN 0174-4909 (faz.net [abgerufen am 14. April 2016]).
  11. Frankreich: Gewerkschaften blockieren Öleinfuhren. In: Die Zeit. 26. Mai 2016, ISSN 0044-2070 (zeit.de [abgerufen am 26. Mai 2016]).
  12. a b c d Christian Jakob: Raus in den Garten. (über den Beginn der Nuit debout-Bewegung und den Stand im Mai 2017), taz vom 4. Mai 2017, S. 13.
  13. Alexandre Devecchio: #NuitDebout – Indignados à la française ou Veilleurs de gauche ? In: Le Figaro. Abgerufen am 15. April 2016.
  14. Nuit debout à Paris – Myriam El Khomri se dit « attentive à toutes les interpellations ». In: Le Monde.fr. ISSN 1950-6244 (lemonde.fr [abgerufen am 15. April 2016]).
  15. Geoffrey Pleyers: Die neue politische Bewegung. In: Der Freitag. 20. April 2016, abgerufen am 5. Mai 2020.
  16. Süddeutsche.de: Protestkultur in Frankreich – Zerfetzte Hemden, brennende Reifen, spritzende Gülle. In: Süddeutsche.de. Abgerufen am 14. April 2016.
  17. Arbeitskämpfe – Französische Protestkultur. (Nicht mehr online verfügbar.) In: www.iwkoeln.de. Archiviert vom Original am 14. April 2016; abgerufen am 14. April 2016.  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.iwkoeln.de
  18. Steffen Richter: Internationale Proteste: Wer wo demonstriert und warum. In: Die Zeit. ISSN 0044-2070 (zeit.de [abgerufen am 14. April 2016]).
  19. Barbara Kostolnik: Hollande im „Bürgerdialog“: Der Präsident müht sich ab. In: tagesschau.de. Abgerufen am 15. April 2016.
  20. „Nuit debout“-Proteste in Frankreich: Der Zorn wächst. In: SPIEGEL ONLINE. Abgerufen am 14. April 2016.
  21. Villes – NuitDebout. In: wiki.nuit-debout.fr. Abgerufen am 22. April 2016.
  22. Protestbewegung „Nuit Debout“ – Hunderte Jugendliche randalieren in Paris. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 15. April 2016, ISSN 0174-4909 (faz.net [abgerufen am 15. April 2016]).
  23. Manifestations, heurts, interpellations… La contestation de la loi travail continue. In: Le Monde.fr. 14. April 2016, ISSN 1950-6244 (lemonde.fr [abgerufen am 24. Mai 2016]).
  24. Protest gegen Arbeitsmarktreform: Dutzende Demonstranten in Frankreich schwer verletzt. In: SPIEGEL ONLINE. 28. April 2016, abgerufen am 30. April 2016.
  25. Christian Schubert: Arbeitsrechtsreform: Französische Opposition scheitert mit Misstrauensvotum. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 12. Mai 2016, ISSN 0174-4909 (faz.net [abgerufen am 24. Mai 2016]).
  26. Michaela Wiegel: Arbeitskampf in Frankreich: Der Streik bekommt einen Schnauzbart. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 24. Mai 2016, ISSN 0174-4909 (faz.net [abgerufen am 24. Mai 2016]).
  27. Frankreich: Spritmangel wegen Protesten. In: Die Zeit. 20. Mai 2016, ISSN 0044-2070 (zeit.de [abgerufen am 25. Mai 2016]).
  28. Rudolf Balmer Grandpuits: Frankreich im Würgegriff der Gewerkschaften: Kein Tropfen Benzin. In: Neue Zürcher Zeitung. Abgerufen am 25. Mai 2016.
  29. Stefan Simons: Kampf gegen Arbeitsmarktreform: Frankreich auf den Barrikaden. In: SPIEGEL ONLINE. Abgerufen am 26. Mai 2016.
  30. ELISE THIEBAUT: Soleil couchant sur Nuit debout. In: Club de Mediapart. (mediapart.fr [abgerufen am 2. November 2017]).
  31. Au rassemblement contre la corruption en politique, le retour de Nuit debout. 20. Februar 2017 (parismatch.com [abgerufen am 2. November 2017]).