Oswald Tschirtner

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie

Oswald Tschirtner (* 24. Mai 1920 in Perchtoldsdorf; † 20. Mai 2007 in Maria Gugging) war ein österreichischer bildender Künstler.

Leben und Werk

Oswald Tschirtner stammte aus einer streng katholischen Familie und war ein ausgezeichneter Schüler. Er besuchte ein erzbischöfliches Internat während der Gymnasialzeit, das Knabenseminar Hollabrunn, und wollte Priester werden. Während des Zweiten Weltkriegs konnte er jedoch kein Theologiestudium beginnen, aufgrund der kriegsbedingt eingeschränkten Studienwahl. Deshalb begann er ein Chemiestudium, bevor er zum Wehrdienst eingezogen wurde. Als Obergefreiter war er Funker in Stalingrad, das er mit dem letzten Urlauber-Transport verließ. 1946 kehrte er – nach einem Aufenthalt in einem französischen Kriegsgefangenenlager, belegbar ist hier der Aufenthalt im sogenannten Stacheldrahtseminar in Chartres vom 11. Mai bis 11. Juli 1946,[1] – aus dem Zweiten Weltkrieg zurück und wurde wegen auffälligen Verhaltens in einer Grenzstadt in ein psychiatrisches Krankenhaus eingewiesen.[2] Ab 1947 war er dauernd hospitalisiert, er litt an Halluzinationen und wurde 1954 in die damalige „Heil- und Pflegeanstalt Gugging“ überstellt.

In Maria Gugging traf er auf den Neurologen und Psychiater Leo Navratil, der ihn, im Rahmen seines von der amerikanischen Psychologin Karen Machover angeregten Zeichentest-Verfahrens,[3] zum Zeichnen ermutigte. Navratil gründete 1981 das „Zentrum für Kunst-Psychotherapie“, das spätere Haus der Künstler. Tschirtner lebte dort stets sehr in sich gekehrt. Fortwährend widmete er sich seinem Glauben in Bibelstudien und der Lektüre von Messbüchern.[2] Tschirtner begann in den 1960er Jahren zu zeichnen, dann kam es zu einer Schaffenspause bzw. sind aus dieser Zeitperiode keine Werke dokumentiert. Die für Tschirtners Schaffen charakteristischen Werke entstanden im Zeitraum zwischen 1971 und 2006.[4]

Navratil beschrieb den gemeinsamen Prozess des Zeichnens mit Tschirtner folgendermaßen:

„Dieses Zeichnen spielt sich so ab, daß O.T. mir gegenüber am Schreibtisch sitzt. Ich lege Papier, Feder und Tusche vor ihn hin und fordere ihn auf, die Feder auszuprobieren. Dann stelle ich ihm eine Aufgabe. Ich sage zum Beispiel: ‚Zeichnen Sie einen Hasen!‘ O.T. schreibt hierauf auf das Zeichenblatt: ‚einen Hasen‘. Sage ich: ‚Jetzt wollen wir einen Christbaum zeichnen‘, dann schreibt O.T. zunächst auf das Blatt: ‚Christbaum zeichnen‘. Diese Reaktionsweise hat etwas Echoartiges an sich. Meist schreibt O.T. allerdings nur den Titel der Zeichnung. Stets wiederholt er aber mündlich die Aufgabe, bevor er schreibt. Dann beginnt er zu zeichnen, ohne lange zu überlegen. Er zeichnet schnell. Man hat den Eindruck, er trachte, die Aufgabe schnell zu erledigen.“[2]

Johann Feilacher, Nachfolger von Navratil und gegenwärtig künstlerischer Direktor des museums gugging und Leiter des Hauses der Künstler, sieht die frühen 1970er Jahre als den Zeitraum, in dem Tschirtner seinen „künstlerischen Höhepunkt erreicht hat.“[5] Feilacher übernahm als Nachfolge von Navratil die spätere Rolle des Gegenübers für die zeichnerische Tätigkeit von Tschirtner.

Im Zentrum von Tschirtners künstlerischem Œuvre steht die menschliche Figur, die er im Laufe der Zeit zu sogenannten „Kopffüßlern“ reduzierte, sparsam dargestellt, ohne kennzeichnende Attribute wie Kleidung oder Geschlecht. Der Kopf verfließt mit dem Körper, die Beine sind nicht mehr getrennt, sondern vereinen sich – durchaus elegant – zu einem stammartigen Rumpf mit fingerlosen Armen.

„Eine Landschaft kann bei Tschirtner in einem einzigen Strich, ein Tier in einem einzigen Punkt dargestellt sein“, schreibt der Brandstätter Verlag in einer Beschreibung von Tschirtners Werken, die im Jänner 2007 im 128-seitigen Sammelband Das rote Zebra – Zeichnungen von Oswald Tschirtner in rund 60 Abbildungen erschienen sind.

Tschirtner zeichnete sowohl mit Feder und Tusche auf meist kleinen Papierformaten. Seine Zeichnungen wirken locker, einfach, verdichtet, jedoch auch minimalistisch und gelegentlich witzig. Er schuf ab 1980 aber auch großformatige Werke auf Leinwand mit Permanentmarker oder Acrylfarben. Außerdem entstand 1997 eine Skulptur nach dem Vorbild einer Zeichnung von Tschirtner: Das Mahnmal „Wider das Vergessen“ am Gelände des Landeskrankenhaus Innsbruck.[6]

Tschirtner gilt – neben August Walla, Johann Fischer, Johann Hauser oder Ernst Herbeck – als eine der wichtigsten künstlerischen Positionen, die bis dato aus Gugging hervorgegangen sind.

Rezeption

  • Im Jahr 1970, in unmittelbarer Reaktion auf die Ausstellung „Pareidolien – Druckgraphik aus dem Niederösterreichischen Landeskrankenhaus für Psychiatrie und Neurologie Klosterneuburg“ verglich der Kunstkritiker und Kulturpublizist Kristian Sotriffer in einem Beitrag in der österreichischen Tageszeitung Die Presse die Menschenbilder von Tschirtner mit denen von Alberto Giacometti: „Originalität ist ein Indiz für künstlerische Leistung. Oswald Tschirtner zeigt sie in seinen typischen, elongierten, an Giacometti oder manieristische Figuren erinnernden, einfach gezeichneten Gestalten.“[7]
  • Im Jahr 1983 veröffentlichte die deutsche Band Einstürzende Neubauten, formiert um Blixa Bargeld, das Album Zeichnungen des Patienten O.T. Die Zeichnungen des Patienten O.T. ist dabei auch Titel des Tracks Nr. 7 der Platte. Bargeld veröffentlichte den Text von Zeichnungen des Patienten O.T. außerdem in Stimme frißt Feuer, ein Taschenbuch, das 1988 im Merve Verlag Berlin erschien.[8] Bargeld bezog sich in diesem Zusammenhang auf eine gezeichnete Strichliste des Bandmitglieds Marc Chung: „Die Tschirtner-Verbindung war purer Zufall, ich hatte den Mann in einem Suhrkamp-Buch entdeckt, als wir in Hamburg gerade ein Theaterstück probten. Bandkollege Marc Chung hatte wegen der unregelmäßigen Struktur der Musik eine Strichliste angefertigt, wann die Schläge zu kommen hatten und wann Pausen einzuhalten waren. Ich sagte zu ihm, seine Strichliste sähe aus wie die Zeichnungen des Patienten O.T., und das blieb dann kleben.“[9]
  • Am 8. September 1994 besuchte David Bowie gemeinsam mit Brian Eno das Haus der Künstler in Maria Gugging. André Heller vermittelte für diesen Besuch. Die Fotografin Christine de Grancy dokumentierte diesen Besuch fotografisch, dabei entstanden unter anderem Fotografien auf denen Bowie und Tschirtner gemeinsam zu sehen sind.[10] Werke von Oswald Tschirtner befanden sich auch in der privaten Sammlung von Bowie, die 2016 bei Sotheby’s versteigert wurden.[11]
  • Im Jahr 2008 erschien mit The Gugging Album von den Elektronikmusikern Hans-Joachim Roedelius & Kava Fabrique Records eine musikalische Hommage an Oswald Tschirtner und weitere renommierte Künstler aus Gugging, die im Rahmen des neuen Kunst- und Musikfestivals „Gugginger Irritationen“ welturaufgeführt wurde.

Auszeichnungen

Einzelausstellungen

  • 1992: Galerie Altnöder, Salzburg, Österreich.
  • 1997: Galerie Raphael Rigassi, Bern, Schweiz; Galerie Latal, Zürich, Schweiz.
  • 1998: Collection de l’Art Brut, Lausanne, Schweiz; Museum de Stadshof, Zwolle, Niederlande; Salzburger Landessammlungen Rupertinum, Salzburg, Österreich; Kroch-Hochhaus Leipzig, Universität Leipzig, Leipzig Deutschland.
  • 2005: Galerie Yukiko Koide, Tokyo, Japan: New works by Oswald Tschirtner
  • 2007: Galerie Yukiko Koide, Tokyo, Japan: Homage to Oswald Tschirtner
  • 2020: museum gugging, Maria Gugging, Österreich: oswald tschirtner.! das ganze beruht auf gleichgewicht[12]

Ausstellungsbeteiligungen

Literatur

  • Leo Navratil: a + b leuchten im Klee. Psychopathologische Texte. München 1971, ISBN 978-3-446-11396-1.
  • Leo Navratil: Über Schizophrenie und Die Federzeichnungen des Patienten O.T. München 1974, ISBN 978-3-423-04147-8.
  • Otto Breicha: Der Himmel Elleno. Graz 1975.
  • Leo Navratil: Die Künstler aus Gugging. Wien / Berlin 1983.
  • Leo Navratil: Schizophrenie und Dichtkunst. München 1986, ISBN 978-3-423-15020-0.
  • Johann Feilacher: Sonneastro. Die Künstler aus Gugging. Wien 1990.
  • Gerhard Roth: Über Bilder. München 1990.
  • Leo Navratil: Schizophrenie und Religion. Berlin 1992, ISBN 978-3-922660-54-5.
  • Leo Navratil: Bilder nach Bildern. Salzburg / Wien 1993, ISBN 978-3-7017-0799-7.
  • Leo Navratil: Schizophrene Dichter. Frankfurt am Main 1994, ISBN 978-3-596-30820-0.
  • Johann Feilacher; Susanne Zander: Miteinander – Gegeneinander. Arnulf Rainer und die Künstler aus Gugging. Köln 1995.
  • Johann Feilacher: Menschen mit Heiligenschein. Köln 1997, ISBN 978-3-87909-563-6.
  • Johann Feilacher: Das rote Zebra. Zeichnungen von Oswald Tschirtner. Köln 1997, ISBN 978-3-85033-067-1.
  • Johann Feilacher: Carom.! Kunst aus Gugging in der Sammlung Essl. Klosterneuburg 1999, ISBN 978-3-902001-01-6.
  • Leo Navratil: Art brut und Psychiatrie. Kompendium, Wien / München 1999, ISBN 978-3-85447-876-8.
  • Bruno Decharme: Abcd. Une collection d‘art brut. Arles 2000.
  • Philippe Eternod: Solitärer. Särlingskonst från samling Eternod-Mermod. Lausanne, Malmö 2000.
  • Leo Navratil: Gespräche mit Schizophrenen. Die Gugginger Künstler Hagen Reck, Ernst Herbeck, Karl R., Aurel, Max, Edmund Mach, Johann G., August Walla, Josef B., Oswald Tschirtner, Hans Grausam. Neumünster 2000, ISBN 978-3-423-01404-5.
  • Carl Aigner, Leo Navratil: Ernst Herbeck. Die Vergangenheit ist klar vorbei. Wien 2002, ISBN 978-3-85498-164-0.
  • Johann Feilacher: Sovären. Das Haus der Künstler in Gugging. Heidelberg 2004, ISBN 978-3-89904-127-9.
  • Roger Cardinal: m3. Arnulf Rainer et sa collection d’Art Brut. Gent 2005.
  • Johann Feilacher: blug. gugging – ein ort der kunst. Wien 2006.
  • Gregor Gatscher-Riedl: „Eine Landschaft kann in einem einzigen Strich bestehen …“. Oswald Tschirtner gestorben. In: Perchtoldsdorfer Rundschau, 7/8, (Perchtoldsdorf, Juli/August 2007), S. 5.
  • Johann Feilacher: duo.! anton dobay. oswald tschirtner. St. Pölten; Salzburg 2009.
  • Gerhard Roth: Im Irrgarten der Bilder. Die Gugginger Künstler. Wien 2012.
  • Johann Feilacher: small formats.! Zeichnungen der Künstler aus Gugging. Salzburg; St. Pölten 2013.
  • Johann Feilacher: gugging meisterwerke.!. St. Pölten / Salzburg 2014.
  • Brigitte Reutner (Hrsg.): Art brut aus Gugging. Die Sammlung Leo Navratil und spätere Erwerbungen. Wien 2017.
  • Nina Ansperger; Johann Feilacher (Hrsg.): gehirngefühl.! kunst aus gugging von 1970 bis zur gegenwart. Salzburg / Wien 2018.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Karl Heinz Kloidt: Chartres 1945. Seminar hinter Stacheldraht. Eine Dokumentation. Hrsg.: Karl Heinz Kloidt. 1. Auflage. Herder, 1988, ISBN 978-3-451-21198-0.
  2. a b c Leo Navratil: Über Schizophrenie und die Federzeichnungen des Patienten O.T. Deutscher Taschenbuch-Verlag, München 1974, ISBN 3-423-04147-1.
  3. Leo Navratil: Art brut und Psychiatrie: Gugging 1946-1986 : Kompendium. Band 1. Verlag Christian Brandstätter, Wien 1999, ISBN 3-85447-876-3.
  4. Nina Ansperger, Johann Feilacher, Maria Höger, Nina Katschnig, Lisa Windischbauer, museum gugging: oswald tschirtner.! das ganze beruht auf gleichgewicht. Hrsg.: Nina Ansperger, Johann Feilacher, Maria Höger, Nina Katschnig, Lisa Windischbauer, museum gugging. Residenz Verlag, Salzburg 2020, ISBN 978-3-7017-3513-6, S. 468.
  5. Johann Feilacher: Das rote Zebra. Zeichnungen von Oswald Tschirtner. 2. Auflage. Brandstätter, Wien 2006, ISBN 978-3-85033-067-1.
  6. Horst Schreiber: Gedächtnislandschaft Tirol. Zeichen der Erinnerung an Widerstand, Verfolgung und Befreiung 1938-1945. StudienVerlag, 2019, ISBN 978-3-7065-1998-4.
  7. Kristian Sotriffer: Können Geisteskranke Kunst machen? Gespräch mit Leo Navratil über die Erfahrungen mit seinen Patienten. Wien 24. September 1970.
  8. Blixa Bargeld: Stimme frißt Feuer. Merve, Berlin 1988, ISBN 3-88396-056-X, S. 128.
  9. Stefan Grissemann: Blixa Bargeld: „Wie sollte ich denn sonst weiter provozieren?“ In: profil.at. 24. April 2017, abgerufen am 3. Februar 2020.
  10. Anne Katrin Feßler: Bowies Nachmittagskaffee in Gugging. In: Der Standard. 27. November 2017, abgerufen am 3. Februar 2020.
  11. Bowie Collector Part II: Modern and Contemporary Art. In: sothebys.com. Abgerufen am 3. Februar 2020 (englisch).
  12. oswald tschirtner.! das ganze beruht auf gleichgewicht. In: museum gugging. Abgerufen am 3. Februar 2020.