Paria

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie

Der Begriff Paria wird im Deutschen im Sinne von Ausgestoßener bzw. Außenseiter verwendet. Das Wort leitet sich vom tamilischen Namen Paraiyar (Tamil பறையர் paṟaiyar) für eine untere Kastengruppe in den südindischen Bundesstaaten Tamil Nadu und Kerala her.

Indien

Der Name der Berufsgruppe Paraiyar in Tamil Nadu ist nach verbreiteter Ansicht von einer alten Rahmentrommel abgeleitet, die auf Tamil und Malayalam parai heißt. Die Paraiyar könnten auch umgekehrt für die von ihnen mitgeführte Trommel namensgebend gewesen sein.[1] Den Paraiyar oblag Herstellung und Spielen dieser Trommel. Zur Herstellung von Trommeln gehört die Verarbeitung von Fellen, die von geschlachteten Tieren abgezogen werden, was als unreine Tätigkeit gilt und einzig die Aufgabe der „Unberührbaren“ und allgemein von unteren Bevölkerungsschichten ist. Ein entsprechend verallgemeinerter Ausdruck in Nordindien ist Chamar (Hindi चमार camār). Mit Chamar wurde die Bezeichnung für „Schuhmacher“ – die ebenso durch die Verarbeitung von Tierhaut als unrein gelten – auf andere sozial Niedrigstehende und Ausgegrenzte ausgeweitet.[2] Auf Kanaresisch heißt die entsprechende Gruppe Holeya und auf Telugu Malavadu.

Andere Benennungen für ausgegrenzte Bevölkerungsgruppen sind Harijan, eine von Mahatma Gandhi eingeführte, beschönigende Umschreibung („Kind[er des Gottes] Hari bzw. Vishnu“), und Dalit, heute die übliche Eigenbezeichnung für Gruppen außerhalb des Kastensystems.

Der englische Begriff pariah wurde mit der Zeit über ganz Indien ausgedehnt. Paria dient auch als Bezeichnung für Kastenlose. Sie werden gesellschaftlich gemieden und dürfen nur als unrein angesehene Arbeiten verrichten, darunter fallen auch die Arbeiten, bei denen man mit Blut in Berührung kommt. Zu den Paria können zum Beispiel Hebammen, Schlachter, Straßenfeger oder Wäscher gehören. Die Ausgrenzung und Diskriminierung hält bis heute in bestimmten Teilen Indiens an.

Japan

In Japan existiert ein ähnliches gesellschaftliches Phänomen, da eine Minderheit der japanischen Bevölkerung Nachkommen einer als Burakumin („Bewohner der Sondergemeinde“) bezeichneten Minderheit sind. Im deutschen Sprachraum wird diese gesellschaftliche Problematik oft als japanische „Paria-Kaste“ bezeichnet.

Paria als politischer und soziologischer Begriff

Das Wort „Paria“ ist seit dem 17. Jahrhundert in europäischen Sprachen bekannt. Goethe veröffentlichte 1823 seine Paria-Trilogie.[3] Max Weber, der Anfang des 20. Jahrhunderts „Paria“ als allgemeinen soziologischen Begriff für Ausgestoßene einführte, bezeichnet die Juden an mehreren Stellen seines Werkes Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen als ein „Pariavolk“:

„Das eigentümliche religionsgeschichtlich-soziologische Problem des Judentums lässt sich weitaus am besten aus der Vergleichung mit der indischen Kastenordnung verstehen. Denn was waren, soziologisch angesehen, die Juden? Ein Pariavolk.“

Max Weber[4]

Hannah Arendt greift den Begriff auf und benutzt ihn ähnlich wie vor ihr der Journalist Bernard Lazare. Angesichts der antisemitischen Dreyfus-Affäre wollte Lazare den jüdischen Paria in einen politischen Kampf gegen die Gesellschaft und den jüdischen Parvenü führen.

Nach Arendt ist das jüdische Volk ein Pariavolk. Die Juden lebten vor dem 20. Jahrhundert außerhalb der Gesellschaft, waren nicht integriert. Im 19. und 20. Jahrhundert assimilierten sich fast alle Juden im westlichen Europa, wurden aber trotzdem von der Gesellschaft nicht als ebenbürtig anerkannt. Der Paria ist nach Arendt ein Mensch, der wegen seines Andersseins zum Außenseiter gemacht wird und von der Gesellschaft verachtet wird. Der Paria als Parvenü verleugnet unbewusst sein Anderssein, um von der herrschenden Gesellschaft anerkannt zu werden.

Arendt unterscheidet weiter zwei Pariaformen – den Revolutionär und den auch außerhalb der herrschenden Gesellschaft stehenden Schnorrer.

„In beiden Formen, als Revolutionär in der Gesellschaft der anderen wie als Schnorrer in der eigenen, von den Brosamen und den Idealen der Wohltäter lebend, bleibt der Paria dem Parvenu verhaftet, ihn schützend und unter seinem Schutz.“

Hannah Arendt[5]

Der bewusste Paria stünde wirklich außerhalb der Gesellschaft und könnte durch seine Distanz bessere Einblicke in diese erhalten. Als Beispiel nennt Hannah Arendt Franz Kafka, Rahel Varnhagen, Charlie Chaplin und als geglückte Gestalt der europäischen Assimilation Heinrich Heine. Zu Varnhagen schrieb sie in ihrer Habilitationsarbeit Rahel Varnhagen. Lebengeschichte einer Jüdin in der Romantik, diese sei „Jüdin und Paria geblieben“ und hätte nur deshalb, weil sie an beidem festgehalten habe, ihren „Platz in der Geschichte der europäischen Menschheit“ gefunden.

Siehe auch

Weblinks

Wiktionary: Paria – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Literatur

  • Antonia Grunenberg: Die Figur des Parias zwischen Bohème und Politik. Überlegungen zu einer unterschätzten Denkfigur im Arendtschen Denken. In: Denken ohne Geländer. Hannah Arendt zum 100. Geburtstag (= Reihe Polis). Band 47. Hessische Landeszentrale für politische Bildung HLZ, Wiesbaden 2007, ISBN 3-927127-74-4 (Online auf hlz.hessen.de [PDF; abgerufen am 7. August 2021]).[6]
  • Jan Eike Dunkhase: Pariavolk. In: Dan Diner (Hrsg.): Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur (EJGK). Band 4. Metzler, Stuttgart / Weimar 2013, ISBN 978-3-476-02500-5, S. 496–500.
Paria in Indien

Fußnoten

  1. Gustav Salomon Oppert: On the original inhabitants of Bharatavarsa or India. Archibald Constable & Co., Westminster 1893, S. 31 (bei Internet Archive)
  2. Horst Brinkhaus: „Unberührbare“ im Hindu-Königreich Nepal. In: Anja Pistor-Hatam, Antje Richter (Hrsg.): Bettler, Prostituierte, Paria. Randgruppen in asiatischen Gesellschaften (= Asien und Afrika. Beiträge des Zentrums für Asiatische und Afrikanische Studien [ZAAS] der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Band 12). EB-Verlag, Hamburg 2008, S. 15 f.
  3. Paria-Trilogie: die drei Gedichte Des Paria Gebet (3 Strophen zu 8 Versen), Legende (11 Strophen zu 14, 22, 13, 22, 5, 9, 17, 14, 8, 10 und 11 bzw. insgesamt 145 Versen) und Dank des Paria (3 Strophen zu 4 Versen), online auf Zeno.org.
  4. Max Weber: Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Mohr Siebeck, 2008, ISBN 978-3-16-149084-2.
  5. Hannah Arendt: Die verborgene Tradition. Acht Essays. Suhrkamp, Ffm. 2000, ISBN 3-633-54163-2, S. 46–73, zit. S. 58 (Erstausgabe: 1976).
  6. auch Darstellung des Motivs bei anderen Autoren als Arendt