Politische Novelle

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Aristide Briand und Gustav Stresemann, 1926.

Politische Novelle ist eine Erzählung von Bruno Frank aus dem Jahr 1928. Sie wurde am 11. Februar desselben Jahres im „Tage-Buch“ auszugsweise vorabgedruckt.[1] Bis Winter 1930 erschienen Übersetzungen in fünf Sprachen.[2] Der französische Außenminister Aristide Briand, der sich als Protagonist porträtiert sah, dankte dem Autor im April 1929 schriftlich.[3]

Thematisiert wird die deutsch-französische Aussöhnung nach dem Ersten Weltkrieg. Als Stoff diente dem Autor unter anderem das Treffen Briands mit dem deutschen Außenminister Gustav Stresemann im Herbst 1925 in Locarno, bei dem sie die Verträge von Locarno unterzeichneten.[4]

Handlung

Der 1879 geborene ehemalige Kammergericht­srat Carl Ferdinand Carmer, ein Nachfahre des Großkanzlers von Carmer, hatte schon vor dem Kriege Ministerposten in Preußen sowie im Deutschen Reich bekleidet und war auch in den ersten Jahren der Weimarer Republik Minister gewesen. Seine Ehefrau hatte er bereits in den ersten Kriegswochen verloren. Sie hatte sich als Pflegerin an die Front gemeldet und war dort im Dienst einer Infektion erlegen.

Zusammen mit seinem Sekretär Dr. Erlanger hält sich Carmer in Ravello auf. Die Tage in dieser Gegend nahe bei dem Cap Licosa, dem Golf von Policastro und dem Poseidontempel in Paestum sind gezählt. Von Paris aus lädt der viel ältere französische Außenpolitiker Achille Dorval den Deutschen zu einer Konsultation nach Cannes ein. Carmer und Erlanger reisen ab. Am Tage der Abreise – es ist ein Sonntag – wird Carmer am Urlaubsort mit dem Führerkult des italienischen Faschismus konfrontiert.

Carmer erlebt in Cannes, dem seinerzeit „elegantesten Ort der Erde“[5], einen Auftritt der afroamerikanischen Tänzerin Becky Floyd und hat die Empfindung einer ganz neuartigen Kraft. Erlander tauscht sich in Cannes mit François Bloch, dem Begleiter des Franzosen, über Eigenheiten deutscher und französischer Kultur sowie Sprache aus. Beide Assistenten sind Juden, und beide erweisen sich im Gespräch als zutiefst engagierte Vertreter der Kultur ihres jeweiligen Heimatlandes. Währenddessen diskutieren Außenminister Dorval und Carmer verständigungsbereit, aber stellenweise durchaus kontrovers, – Fragen, die die Nachkriegsgrenzen Deutschlands, die Besetzung des Rheinlandes und Reparationen betreffen. Die Erben Karls des Großen müssten sich doch wieder zusammenraufen, hofft Dorval.

In Berlin wird eine neue Regierung gebildet. Carmer soll darin Außenminister werden. Er begleitet Dorval noch bis Marseille. Unterwegs übernachten die beiden Politiker in einem Fischerdorf hinter Toulon. Bis zur Abfahrt des Zuges nach Deutschland hat Carmer anderntags in Marseille noch Stunden Zeit. Er spaziert allein in das belebte Hafenviertel. Im Gewühl in der Dirnenstraße verstellen ihm Räuber, die Beute wittern, den Rückweg. Carmer will sein Geld nicht herausgeben. Ein Messerstich unter das linke Schulterblatt beendet das Leben Carmers. Im Vielvölkergemenge der Hafenstadt wird der Tote von dem Mörder, einem jungen blonden, blauäugigen Weißen, ausgeraubt.

Form

Die Einleitung – in den ersten acht der zwölf Kapitel versteckt – gibt dem Leser Raum und Zeit für Spekulationen zum Textsinn. Gemeint ist zum Beispiel der Auftritt von Becky Floyd in Cannes. Bruno Frank habe sich Josephine Baker als Vorbild für die Tänzerin genommen.[6]

Rezeption

Äußerungen im Erscheinungsjahr
  • Am 28. Februar 1928 schreibt Max Krell in der „Vossischen Zeitung“: „Mit seiner Novelle wurde Bruno Frank der tapfere dichterische Fürsprecher des europäischen Gedankens.“[7]
  • Paul Block (1862–1934) bespricht das Buch im Beiblatt des „Berliner Tageblattes“ vom 15. März 1928.[8]
  • Beinahe sieht es so aus, als suche Carmer im gefahrenvollen Marseiller Hafenviertel den Tod. Julius Bab (Wochenzeitschrift „Deutsche Republik“ vom 23. März 1928, S. 783–788)[9] hält diese finale Variante weder für motiviert noch für stimmig.
  • Stefan Großmann[10] („Das Tage-Buch“ vom 14. April 1928, S. 632–635) dagegen nimmt den Schluss symbolisch. Carmer werde Opfer der eigenen Arglosigkeit. Führende Politiker der Weimarer Republik hätten unlautere oder gar verbrecherische Absichten der politischen Gegner nicht wahrhaben wollen.
  • Bernard von Brentano[11] („Frankfurter Zeitung“ vom 22. April 1928, Literaturbeilage 17) verwahrt sich gegen diese – seiner Ansicht nach völlig deplatzierte – Zeichnung eines deutschen Politikers aus der Feder eines „Befürworters der Republik“[12].
  • Daraufhin verteidigt Thomas Mann[13] den Autor und lobt die „schöne, genaue Arbeit“. Es werde keine Spannung erzeugt[14]. Thomas Mann räumt ein, Carmers Sterben könne auf den Leser zufällig wirken[15], sei aber symbolisch gemeint: Von „der Verführung und des Unterganges, der tiefen Gefährdung des Edlen selbst, des Deutschtums, des Europäertums“[16] sei die Rede.
  • Carl von Ossietzky[17] verreißt die Novelle in seiner „Weltbühne“ vom 6. März 1928 auf den Seiten 351–354. Der Text, am Leben vorbeigeschrieben, widerspiegele ein nicht charakteristisches „Grandhoteleuropa“. In derselben Zeitschrift (genauer: in der Ausgabe vom 8. Mai 1928, S. 717–721[18]) spottet Kurt Tucholsky[19] über die Erzählung. Kirchner weiß die Ursache: Beide Kritiker seien gegen Locarno und für den Bolschewismus gewesen.[20]
Spätere Äußerungen
  • Erika Mann und Klaus Mann schreiben in ihrer Darstellung des deutschen Exils „Escape to life“ von 1939: „Frank hat einmal die europäische Idee – Europa als Idee, als Tradition und als Ziel – zum geistigen Helden eines seiner Bücher gemacht: die Politische Novelle gehört zu seinen besten, wirkungsvollsten und persönlichsten Arbeiten. Sie hat alle jene Eigenschaften, denen er, auch als Theater-Schriftsteller, die großen Erfolge verdankt: neben der Intensität und Lauterkeit des Gefühls die Eleganz der Form, die Bravour der Technik, den artistischen Reiz – französische, europäische valeurs also neben den gemütvollen deutschen.“[21]
  • Andrea Mork und Bernd Witte besprechen im Juni-Heft 1992 des „Magazins für Kultur und Politik“ auf den Seiten 54–76 die Novelle.[22]
  • Kirchner setzt sich in dem Kapitel „IV. Dionysischer Untergang - Die Politische Novelle[23] seiner Dissertation mit der Novelle auseinander. Bruno Frank habe im Faschismus jener Tage die Krankheit Europas gesehen.[24] Mit Carmer sei nicht Stresemann porträtiert. Carmers Sterben folge notwendig aus dem Plot und sei nicht zufällig. Der Alte Hafen von Marseille markiere die Hinterlassenschaft des Krieges.[25] Für Kirchner ist Dorval der Gegenspieler Mussolinis und so etwas Ähnliches wie eine Neuauflage Friedrichs II.[26] Kirchner sieht eine Gemeinsamkeit zwischen den „Tagen des Königs“, der „Politischen Novelle“ und dem „Magier“. Große alte Männer stehen jeweils im Hintergrund: Friedrich II., Briand und Max Reinhardt.[27]

Literatur

Erstausgabe

  • Bruno Frank: Politische Novelle. Ernst Rowohlt, Berlin 1928. 161 Seiten. Leinen. Mit Illustrationen nach Adolph von Menzel

Andere Ausgaben

  • Bruno Frank: Le Roman de Locarno : Politische Novelle (französisch-deutsch). Traduit de l'allemand par Joseph Delage. Préface de Bernard Zimmer. Paris : Attinger, 1928.
  • Bruno Frank: The Persians are coming. Translated by Helen Tracy Porter-Lowe. London : Knopf, 1929.

Verwendete Ausgabe

  • Bruno Frank: Politische Novelle. S. 147–253 in: Tage des Königs und andere Erzählungen. (enthält noch: „Tage des Königs“, „Der Magier“ und eine Betrachtung Thomas Manns zur Politischen Novelle). Buchverlag Der Morgen, Berlin 1977 (1. Aufl., Lizenzgeber: Nymphenburger Verlagshandlung, München und für Thomas Manns Betrachtung: S. Fischer, Frankfurt am Main), ohne ISBN, 328 Seiten, Leinen

Sekundärliteratur

  • Erwin Ackerknecht: Nachwort. In: Bruno Frank: Politische Novelle. Stuttgart 1956, Seite 127–136, hier: 131, 132–134.[28]
  • #Grimm 1974, Seite 121–126.
  • #Günther 1946, Seite 135–136.
  • Herbert Günther: Drehbühne der Zeit. Freundschaften, Begegnungen, Schicksale. Hamburg 1957, Seite 89–90.
  • Sascha Kiefer: Die deutsche Novelle im 20. Jahrhundert. Eine Gattungsgeschichte. Köln 2010, Seite 145–157, 165–169, 55, 77, 295, 315, 377.
  • Frank, Bruno – Politische Novelle. In: Munzinger Online/Kindlers Literatur Lexikon in 18 Bänden., 3., völlig neu bearbeitete Auflage 2009, nur online (Zugang erforderlich).
  • Sascha Kirchner: Der Bürger als Künstler. Bruno Frank (1887–1945) – Leben und Werk. Grupello, Düsseldorf 2009, ISBN 978-3-89978-095-6 (zugleich Diss. Uni Düsseldorf), Seite 161–179, 34, 149, 160, 180, 186, 213, 217, 246, 253, 292, 304, 335, 338, 363–364, 392, 398, 399, 400.
  • Klaus Mann: Was arbeiten Sie? Gespräch mit Bruno Frank. In: Die literarische Welt, 2. Jahrgang, Nummer 29, 16. Juli 1926, Seite 1.
  • Thomas Mann: „Politische Novelle“. In: #Mann 1984.1, Seite 367–382.
  • Ulrich Müller: Schreiben gegen Hitler. Vom historischen zum politischen Roman. Untersuchungen zum Prosawerk Bruno Franks. Mainz 1994, Seite 28–44.
  • Carl von Ossietzky: Carmer und Lichnowsky. In: Die Weltbühne, 24. Jahrgang, 1. Halbjahr 1928, Nummer 10, 6. März, Seite 351–354, hier: 351–353.
  • Konrad Paul: Nachwort. In: Bruno Frank: Politische Novelle. Berlin 1982, Seite 381–395, hier: 382, 389–390.
  • Kurt Tucholsky (alias Peter Panter): Auf dem Nachttisch. In: Die Weltbühne, 24. Jahrgang, 1. Halbjahr 1928, Nummer 19, 8. Mai, Seite 717–721, hier: 718.
  • #Umlauf 1982, Seite 109–111, 121.
  • Bernd Widdig: Bruno Franks Politische Novelle: „Im Grunde läuft doch alles auf das Körperliche hinaus“. In: Männerbünde und Massen : zur Krise männlicher Identität in der Literatur der Moderne. Opladen 1992, Seite 73–100.

Einzelnachweise

  1. Kirchner, S. 392, Eintrag Politische Novelle
  2. Kirchner, S. 178, 7. Z.v.u.
  3. Kirchner, S. 178, 6. Z.v.u.
  4. Kirchner, S. 161–162
  5. Verwendete Ausgabe, S. 176, 12. Z.v.o.
  6. Kirchner, S. 167 oben
  7. Max Krell, zitiert bei Kirchner, S. 178, 15. Z.v.u. und S. 397, Eintrag Krell, Max
  8. Kirchner, S. 395, Eintrag Block, Paul
  9. Bab, zitiert bei Kirchner, S. 177, 11. Z.v.o. und S. 395, erster Eintrag Bab
  10. Großmann, zitiert bei Kirchner, S. 177, 15. Z.v.o. und S. 396, 4. Eintrag v.u.
  11. Bernard von Brentano, zitiert bei Kirchner, S. 177, 5. Z.v.u. und S. 397, Eintrag Bernard von Brentano
  12. Kirchner, S. 178, 20. Z.v.o.
  13. Thomas Mann, S. 307–327 in der verwendeten Ausgabe (übernommen aus Thomas Mann: „Altes und Neues“, S. Fischer, Frankfurt am Main 1953; Erstveröffentlichung am 21. Juli 1928 in „Das Tage-Buch“, S. 1209–1220). Siehe auch Kirchner, S. 398, zweiter Eintrag Mann, Thomas
  14. Thomas Mann, zitiert in der verwendeten Ausgabe, S. 316, 10. Z.v.u.
  15. Thomas Mann, zitiert in der verwendeten Ausgabe, S. 325, 8. Z.v.u.
  16. Thomas Mann, zitiert in der verwendeten Ausgabe, S. 326, 16. Z.v.o.
  17. Carl von Ossietzky, zitiert bei Kirchner, S. 179 oben und S. 398, Eintrag Ossietzky, Carl von
  18. Kirchner, S. 398, Eintrag Panter, Peter
  19. Kirchner, S. 178, 14. Z.v.o.
  20. Kirchner, S. 178, 11. Z.v.o.
  21. #Mann, Erika 1991, Seite 315.
  22. Kirchner, S. 400, erster Eintrag v.o.
  23. Kirchner, S. 161–179
  24. Kirchner, S. 166, 8. Z.v.o.
  25. Kirchner, S. 176, 3. Z.v.o.
  26. Kirchner, S. 173, 15. Z.v.u.
  27. Kirchner, S. 181, 16. Z.v.u.
  28. Erwin Ackerknecht war ein Bruder von Eberhard Ackerknecht. Dieser und Bruno Frank waren Schulkameraden am Karlsgymnasium in Stuttgart und langjährige Freunde.