Chemisch-mechanischer Langzeitzünder

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Chemisch-mechanische Langzeitzünder (LZZ) sind eine Form von Zeitzündern. Im Luftkrieg des Zweiten Weltkriegs wurden sie in großem Umfang in Sprengbomben der britischen Royal Air Force und der United States Army Air Forces (USAAF) verwendet. Sie sollten Lösch- und Bergungsarbeiten behindern bzw. unmöglich machen und durch die Detonation noch Stunden nach Ende des Luftangriffs auch Personen treffen, die ihre Schutzräume verlassen hatten. Die Heimtücke dieser Fliegerbomben wurde daher von der NS-Propaganda besonders angeprangert. Ob ihr Einsatz ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit war, wird bis heute diskutiert (siehe auch Haager Landkriegsordnung von 1907, Art. 25).

Nicht detonierte Bomben (auch solche mit konventionellen Aufschlagzündern) befinden sich aufgrund von Alterungsprozessen heute in einem äußerst gefährlichen Zustand. Diese Blindgänger dürfen auf keinen Fall in ihrer Lage verändert werden. Nach Meldung an die Polizei wird der Kampfmittelräumdienst informiert, der die Bombe entweder entschärft oder kontrolliert zur Explosion bringt.

Umgangssprachlich werden die LZZ auch Säurezünder genannt, obwohl das verwendete Aceton zu den Ketonen gehört und keine Säure, sondern ein Lösungsmittel ist.

Funktionsprinzip

Verzögerungszünder waren meist im Heck der Bombe eingebaut (Bodenzünder), um nicht beim Aufschlag beschädigt zu werden. Der Schlagbolzen wird durch eine oder mehrere Scheiben aus Zelluloid gehalten, über denen sich eine mit Aceton gefüllte Glasampulle befindet. Die Glasampulle wird bei oder während des Abwurfs zerstört, das austretende Aceton löst die Zelluloidplättchen auf. Abhängig von der Anzahl bzw. Dicke der Scheiben wird der Schlagbolzen nach einigen Stunden oder Tagen freigegeben und bringt die Bombe zur Detonation. Um zu vermeiden, dass Fliegerbomben vor Ablauf der Verzögerungszeit durch Herausschrauben des Zünders entschärft werden, waren vereinzelt Ausbausperren eingebaut, die beim Versuch einer Entschärfung die Bombe sofort zur Detonation brachten.

USA

Bei amerikanischen Bodenzündern für GP- und SAP-Bomben von 100 bis 2000 Pfund vom Typ M123, 124 und 125 (ältere Modelle) bzw. M123A1, M124A1 und M125A1 (neuere Modelle) wurde die Glasampulle nach dem Abwurf im freien Fall durch eine von einem Windrad angetriebene Auslösespindel zerstört. Für diesen Prozess war eine Mindestfallhöhe von 100 Fuß (etwa 30 Meter) bzw. bei älteren Modellen bis zu 1800 Fuß (550 Meter) notwendig. Die Verzögerung des Auslösemechanismus konnte durch einen Zelluloid-Ring bzw. Hohlzylinder mit variabler Wandstärke auf 1 bis 144 Stunden (6 Tage) Verzögerung eingestellt werden. Nach Freigabe des Schlagbolzens schlägt dieser auf den Detonator mit dem Initialsprengstoff und bringt die Hauptladung zur Detonation.[1]

Die Zünder sind im Aufbau weitgehend identisch und unterscheiden sich nur durch die Länge und Funktionsweise der Auslösespindel, die durch das Leitwerk der Bombe führt, das je nach Bombengröße unterschiedlich groß war. Bei den neueren A1-Modellen wurde die Auslösespindel direkt über ein Windrad mit acht Schaufeln angetrieben, während die älteren Modelle ein Getriebe und vier Schaufeln hatten. Diese Zünder reagieren sehr spezifisch auf Temperaturschwankungen: Temperaturen über 10 °C beschleunigen den Prozess, unter 10 °C wird der Prozess gehemmt.[2] Bei einer Temperatur von rund −4 °C erfolgt die Detonation bei einer nominellen Verzögerung von 1 Stunde erst nach rund 212 Stunden – bei einer Temperatur von etwa 32 °C löst der Zünder bei einer voreingestellten Zeit von 144 Stunden bereits nach 52 Stunden aus.[3] Ein Überschreiten von bestimmten Temperaturschwellwerten während des Transports konnte zudem zu spontaner Detonation führen, weshalb die Zünder teilmontiert ohne Detonator und einem Temperaturindikator geliefert und erst unmittelbar vor dem Einsatz montiert wurden.

Zudem verfügen diese Zünder ausnahmslos über eine Ausbausperre,[4] die nach Einbau des Zünders in die Bombe nicht mehr entfernt werden konnte. Um eine unabsichtliche Detonation im Flugzeug zu verhindern, wurde das Windrad und die Auslösespindel durch einen Sicherheitsdraht blockiert. Dieser Draht wurde während des Abwurfs herausgezogen – ein nachträgliches Entschärfen, selbst für geschultes Personal war in der Konstruktion nicht vorgesehen – die Bomber-Besatzungen waren angewiesen, nicht abgeworfene Bomben über feindlichem Territorium oder über tiefen Gewässern abzuwerfen.[5]

Vereinigtes Königreich

Nach einem anderen chemischen Prinzip funktionierten die britischen Bleistiftzünder (Switch No. 10), die z. B. beim Attentat vom 20. Juli 1944 auf Adolf Hitler verwendet wurden.

Deutsches Reich

Von der deutschen Luftwaffe wurden ebenfalls Langzeitzünder eingesetzt. Diese verfügten entweder über eine vergleichbare chemisch-mechanische Funktion (LZtZ (57)) mit Verzögerungszeiten bis zu 100 Stunden oder über ein mechanisches Uhrwerk mit einer Laufzeit von bis zu 72 Stunden (LZtZ (17)). Die Ausbausperre wurde durch einen separaten Zusatzzünder (ZusZ 40), der unter dem LZtZ (17) eingebaut wurde, bewirkt bzw. war im LZtZ (57) bereits integriert.

Besonderheiten

Da die schweren Sprengbomben bei einem flachen Einschlagwinkel, besonders in Sand- und Lehmboden, häufig eine bogenförmige Bewegung machten, blieben sie im Erdreich oft mit der Spitze nach oben liegen. Da Aceton schnell verdunstet, konnte die verbleibende Menge die Zelluloidplättchen nicht mehr vollständig auflösen und die Bombe wurde zum Blindgänger. Da äußerlich nicht zu erkennen ist, ob z. B. der Zünder beschädigt bzw. blockiert ist oder lediglich noch nicht ausgelöst hat, stellen diese Blindgänger eine latente Gefahr dar.

Probleme in heutiger Zeit

Alle Blindgänger sind aufgrund von Alterungsprozessen heute in einem äußerst gefährlichen Zustand; kleinste äußere Einwirkungen wie Erschütterungen können zur Explosion führen. Ebenso kann Korrosion den Zünder auslösen. Etwa einmal jährlich kommt es auf dem Gebiet des früheren Deutschen Reiches zu einer solchen Selbstdetonation.[6][7]

Die Entschärfung von Blindgängern mit chemisch-mechanischen Langzeitzündern ist aufgrund des unbekannten Zustands der Zünder und eventueller Ausbausperren ausgesprochen schwierig. Es werden nach Möglichkeit Verfahren eingesetzt, die „unter Sicherheit“, d. h. ferngesteuert, erfolgen können. Trotzdem muss die Bombe freigelegt und die für die Entschärfung nötigen Geräte am Zünder bzw. an der Bombe angebracht werden. In der Folge kommt es immer wieder zu tragischen Unfällen, bei denen die Entschärfer ums Leben kommen (z. B. Wetzlar 1990[8] bei der Entschärfung selbst, Salzburg 2003[9] und Göttingen 2010[10] bei der Vorbereitung).

Bekanntgewordene Selbstdetonationen seit 1999

Erfolgreiche Entschärfungen

Am 16. März 2011 wurde am Duisburger Innenhafen eine Bombe mit einem chemisch-mechanischen Langzeitzünder gefunden, die ohne Zwischenfall entschärft werden konnte.[17] Eine ähnliche Situation ereignete sich am 23. August 2011 in Koblenz. Die entdeckte Fliegerbombe mit Langzeitzünder führte zu einer sofort eingeleiteten Evakuierung, da die Bombe zu explodieren drohte. Die Entschärfung selbst wurde mittels einer Vorrichtung aus 100 m Entfernung durchgeführt.[18]

Am 29. November 2012 wurde bei Bauarbeiten im Klinikviertel in der Dortmunder Innenstadt eine Fliegerbombe mit Langzeitzünder entdeckt. Nach umfangreichen Evakuierungsmaßnahmen konnte sie am späten Abend desselben Tages entschärft werden.[19]

16. Oktober 2019 wurde in einem Wohngebiet in Hamburg-Schnelsen eine Bombe mit einem chemisch-mechanischen Langzeitzünder gefunden, die ebenfalls ohne Zwischenfall entschärft werden konnte. Evakuiert wurde in einem Umkreis von 300 m; Straßen sowie der Hamburger Flughafen wurden für mehrere Stunden gesperrt.

In Oranienburg wurden seit 1990 bereits die 200. Bombe mit chemisch-mechanischem Langzeitzünder unschädlich gemacht.[20]

Am 27. November 2015 wurden auf einem nur 700 Quadratmeter großen Grundstück nacheinander vier 250 kg-Bomben entschärft; davon lagen zwei Bomben direkt übereinander.[21]

Am 30. Januar 2021 wurden in Göttingen vier 500-kg-Bomben mit Langzeitzündern kontrolliert gesprengt; zuvor waren 8000 Menschen evakuiert worden.[22]

Kontrollierte Sprengungen (Auswahl)

Datei:FliegerbombensprengungMuenchen2012.ogv

Weblinks

Einzelnachweise

  1. a b c d e f g h i j k Hans Frenken: Langzeitzünder. (PDF; 230 kB) Bund Deutscher Feuerwerker und Wehrtechniker e.V., April 2012, archiviert vom Original am 2. April 2015; abgerufen am 15. März 2015.
  2. http://bulletpicker.com/tail_-delay_-m123a1.html
  3. http://bulletpicker.com/pdf/TM%209-1325-200,%20Bombs%20and%20Bomb%20Components.pdf#page=195
  4. http://bulletpicker.com/tail_-delay_-m123a1.html
  5. http://bulletpicker.com/pdf/TM%209-1325-200,%20Bombs%20and%20Bomb%20Components.pdf#page=197
  6. Polizei Bremen: Unfälle mit Kampfmitteln auf Baustellen 1985 bis 2015 (eingesehen am 17. April 2018; pdf; 1,4 MB).
  7. Gutachten Prof. Spyra vom 12. Februar 2008 (Memento vom 7. März 2016 im Internet Archive).
  8. Die Entschärfung der zehn-Zentner-Bombe misslang. Wetzlarer Neue Zeitung. 11. August 1990. Archiviert vom Original am 22. Februar 2014. Abgerufen am 12. Februar 2014.
  9. ENTMINUNGS- UND ENTSCHÄRFUNGSDIENST Sichern, bergen, entsorgen. Bundesministerium für Inneres, 12. Februar 2014, archiviert vom Original am 21. Februar 2014; abgerufen am 12. Februar 2014.
  10. Fliegerbombe: Ursache gesucht. Tagesspiegel. 2. Juni 2010. Archiviert vom Original am 5. Juni 2010. Abgerufen am 3. Juni 2010.
  11. Fliegerbombe explodiert direkt neben Spazierweg. tz, 15. Juni 2011, archiviert vom Original am 21. September 2012; abgerufen am 31. August 2012.
  12. Fliegerbombe ist explodiert. Niederösterreichische Nachrichten, 29. November 2011, archiviert vom Original am 31. August 2012; abgerufen am 28. August 2012.
  13. Wien: Heftige Explosion in der Donau (Memento vom 23. Januar 2016 im Internet Archive), zuletzt abgerufen am 28. August 2012.
  14. Weltkriegsbombe in Buseck explodiert, zuletzt abgerufen am 22. Juli 2013.
  15. Rebecca Röhrich: Riesenkrater in Limburg: Wie die Bombe explodieren konnte - und wie es jetzt weitergeht. Frankfurter Neue Presse, abgerufen am 24. Juni 2019.
  16. hessenschau de, Frankfurt Germany: Bombenkrater in Limburg. Abgerufen am 28. Juni 2019.
  17. Bombe in Duisburg entschärft. wdr.de. 16. März 2011. Abgerufen am 16. März 2011.
  18. Explosive Situation: Koblenzer Bombe wurde aus 100 Metern Entfernung entschärft (Memento vom 30. August 2012 im Internet Archive) in: Rhein-Zeitung, 25. August 2011.
  19. Bombe in Dortmund erfolgreich entschärft - die Chronik (Memento vom 1. Dezember 2012 im Internet Archive). Auf: derwesten.de am 30. November 2012.
  20. 200. Bombe seit der Wende unschädlich gemacht. Stadt Oranienburg, 14. Dezember 2016, archiviert vom Original am 16. November 2017; abgerufen am 7. Mai 2017.
  21. Vier Bombenblindgänger in Lehnitz erfolgreich entschärft. Stadt Oranienburg, 27. November 2015, archiviert vom Original am 16. November 2017; abgerufen am 7. Mai 2017.
  22. Vier Blindgänger in Göttingen gesprengt. In: n-tv.de. 31. Januar 2021, abgerufen am 31. Januar 2021.
  23. Fliegerbombe legte Graz lahm. Kleine Zeitung, 26. März 2011, archiviert vom Original am 14. April 2014; abgerufen am 26. März 2014.
  24. Bombe kontrolliert gesprengt. Rheinische Post, 27. Juli 2012, abgerufen am 27. Juli 2012.
  25. Bombe in Münchner Innenstadt detoniert. Süddeutsche Zeitung, 28. August 2012, archiviert vom Original am 30. August 2012; abgerufen am 28. August 2012.
  26. Bombe in Viersen gesprengt. n-tv, 18. September 2012, archiviert vom Original am 19. September 2012; abgerufen am 18. September 2012.
  27. Archivversion: Bombe in Duisburg erfolgreich gesprengt. Rheinische Post, 27. November 2012, abgerufen am 27. November 2012.
  28. Bombe am Kölner Uni-Center kontrolliert gesprengt. Rheinische Post, 31. Januar 2014, archiviert vom Original am 31. Januar 2014; abgerufen am 31. Januar 2014.
  29. A3 bei Offenbach: Weltkriegsbombe reißt Krater in Autobahn. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20. August 2014, archiviert vom Original am 19. August 2014; abgerufen am 20. August 2014.
  30. Weltkriegs-Bombe ist um 18.45 Uhr gesprengt worden. Westdeutsche Allgemeine Zeitung, 3. April 2016, archiviert vom Original am 3. März 2016; abgerufen am 3. März 2016.
  31. Bombensprengung in Kiel. 7. Dezember 2018, abgerufen am 18. Oktober 2020.
  32. Klaus-Maria Mehr, Thomas Fischhaber: Gewaltiger Krater in Nürnberg nach Sprengung - Gebäude in der Nähe müssen geprüft werden. In: Münchner Merkur. 17. Februar 2019, abgerufen am 14. August 2019.
  33. Bombenfund in Bergkamen: Erste Sprengung geht schief - der zweite Versuch glückt. In: Westfälischer Anzeiger. 13. August 2019, abgerufen am 14. August 2019.
  34. Radio Essen: Bombe im Nordviertel. Abgerufen am 29. August 2019.
  35. Robert Baumanns: Sprengung der Weltkriegsbombe in Köln-Klettenberg steht bevor. 7. Oktober 2020, abgerufen am 17. Oktober 2020.
  36. Vier Blindgänger in Göttingen gesprengt. Abgerufen am 31. Januar 2021.
  37. NDR: Weltkriegsbombe auf Gelände von TKMS-Werft in Kiel entdeckt. Abgerufen am 1. April 2022.