Sühnebefehl (OKW)

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Mit dem Sühnebefehl (888/41) erließ Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel für das Oberkommando der Wehrmacht am 16. September 1941 die Weisung an die Truppe, für jeden aus dem Hinterhalt getöteten deutschen Soldaten 50–100 Zivilpersonen hinzurichten.[1] Der Sühnebefehl führte zu Geiselnahmen unter der Zivilbevölkerung (speziell Kommunisten, Juden und Zigeunern) und war ein Element des Holocaust und des Porajmos.[2][3] Keitel wurde u. a. für diesen verbrecherischen Befehl im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher zum Tode verurteilt und hingerichtet.

Entstehung

Seit 1940 gab es an verschiedenen Kriegsschauplätzen von deutscher Seite Geiselerschießungen als Repressalien. Im Herbst 1941 wurde die Missachtung des Kriegsrechts vom OKW auf Weisung Hitlers im Sühnebefehl zusammengefasst:[4]

„a) Bei jedem Vorfall der Auflehnung gegen die deutsche Besatzungsmacht, gleichgültig wie die Umstände im einzelnen liegen mögen, muß auf kommunistische Ursprünge geschlossen werden.

b) Um die Umtriebe im Keime zu ersticken, sind beim ersten Anlaß unverzüglich die schärfsten Mittel anzuwenden, um die Autorität der Besatzungsmacht durchzusetzen und einem weiteren Umsichgreifen vorzubeugen. Dabei ist zu bedenken, daß ein Menschenleben in den betroffenen Ländern vielfach nichts gilt und eine abschreckende Wirkung nur durch ungewöhnliche Härte erreicht werden kann. Als Sühne für ein deutsches Soldatenleben muß in diesen Fällen im allgemeinen die Todesstrafe für 50-100 Kommunisten als angemessen gelten. Die Art der Vollstreckung muß die abschreckende Wirkung noch erhöhen.“[5]

Am 1. Oktober befahl Keitel den militärischen Kommandeuren, stets Geiseln in Bereitschaft zu halten, damit sie bei Überfällen auf Soldaten hingerichtet werden könnten.[6]

Hintergrund

Auf dem zerklüfteten Gebiet des Balkan standen nach dem Überfall auf die Sowjetunion in der 2. Jahreshälfte 1941 nur relativ kampfschwache Verbände der Achsenmächte. Gleichzeitig verstärkte sich die Partisanentätigkeit, weil die Stillhaltestrategie des kommunistischen Untergrunds entfiel. Die Teilnahme einzelner Juden an den von der Kommunistischen Partei Jugoslawiens geführten Widerstandsaktionen lieferte dabei einen willkommenen Vorwand, unter kollektiver Gleichsetzung von Juden mit Kommunisten und Partisanen, gerade die jüdische Bevölkerung zu ermorden. Die Wehrmacht reagierte wie in Russland mit der Erschießung meist jüdischer Geiseln. Vor diesem Hintergrund forderte Hitler mit der Führerweisung Nr. 31a vom 16. September 1941 den Wehrmachtsbefehlshaber Südost Feldmarschall Wilhelm List auf, die Aufstandsbewegung im Südostraum mit schärfsten Mitteln niederzuschlagen.[1][7]

Umsetzung

Belgien

Der Militärbefehlshaber für Belgien und Nordfrankreich Alexander von Falkenhausen autorisierte in Übereinstimmung mit dem Sühnebefehl am 19. September 1941 die Tötung von mindestens fünf Geiseln je getötetem Soldaten, wenn der Täter nicht ermittelt werden könne. Am 16. September 1942 beschwerte sich Falkenhausen bei Keitel, dass die Maßnahme statt einer abschreckenden Wirkung eher das Vertrauen der Bevölkerung für Recht und Sicherheit beschädige und den Hass auf die Besatzungsmacht schüre. Das Geiselsystem wurde aber nicht beendet.[8]

Frankreich

Der Militärbefehlshaber Frankreich Otto von Stülpnagel stellte sich zunächst gegen Massenexekutionen in Frankreich, musste aber Ende 1941 nach mehreren Aktionen des französischen Untergrunds einlenken und ließ 95 Geiseln hinrichten. Am 5. Februar 1942 meldete er sich krank und ließ sich von seinem Posten ablösen.[9] Beim Nürnberger Prozess wurden für Frankreich 29.660 erschossene Geiseln angeführt.[10]

Serbien

Datei:Kragvjevac Serbia 1941.jpg
Wehrmachtsoldaten führen Männer zur Exekution, Kragujevac, Serbien, 21. Oktober 1941
Bekanntmachung der Hinrichtung von 250 Geiseln, Kommandierender General in Serbien, 26. Dezember 1942

Als am 2. Oktober 1941 ein Hinterhalt in der Stadt Topola 22 Wehrmachtsangehörige das Leben kostete, entschied der deutsche Befehlshaber für Serbien, General Franz Böhme, 2100 meist jüdische Insassen des Konzentrationslagers in Šabac erschießen zu lassen. Anschließend verfolgte Böhme diesen Weg weiter und ließ alle Kommunisten und sämtliche Juden als Geiseln verhaften.[11] Es kam zu einer Verschränkung von verbrecherischer Besatzungspraxis der Geiselerschießung mit der rassistischen Vernichtungslogik, sodass Serbien Ende 1942 als judenfrei gemeldet wurde.[3] Während des Zweiten Weltkriegs wurden schätzungsweise 41.000 bis 45.000 Personen im Zuge von Vergeltungsmaßnahmen getötet.[12]

Sowjetunion

In der Militärverwaltung im Osten gab es kaum Bezugnahmen auf den Sühnebefehl. Dort wurde die Truppe in der zunehmenden Partisanenbekämpfung im September und Oktober 1941 durch die Führungsstellen zu immer größerer Brutalität getrieben, das Geschehen wurde aber weiterhin von den einzelnen Befehlshabern und Truppenführern bestimmt, die ihre eigenen Quoten festsetzten.[13]

Juristische Aufarbeitung

In der Denkschrift Das Deutsche Heer von 1920–1945 wurde für den Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher von fünf hochrangigen Generalen 1945 eine beschönigende und verharmlosende Darstellung der Wehrmacht erstellt, die dazu beitrug, das Bild der sauberen Wehrmacht in der Öffentlichkeit zu prägen.[14][15][16] Darin wurde behauptet, der Geiselbefehl wäre einheitlich abgelehnt worden, das OKW hätte auf Untersuchung jedes einzelnen Partisanenvorwurfs bestanden und die Untersuchungen wären meist im Sande verlaufen. Nur gelegentlich seien Heereseinheiten von SS-Offizieren zum Partisanenkampf eingesetzt worden.[17] Keitel wurde beim Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher unter anderem wegen des Sühnebefehls wie auch seines Befehls vom 1. Oktober 1941, stets Geiseln bereitzuhalten, am 1. Oktober 1946 zum Tode verurteilt.[18]

Im Geisel-Prozess wurde festgestellt, dass der Sühnebefehl von Wilhelm List an seine unterstellten Einheiten weitergegeben wurde und sein Nachfolger Walter Kuntze an der Quote festhielt. Verschiedene angeklagte Offiziere versuchten sich mit dem Hinweis, dass sie auf Befehl handelten, zu verteidigen. Das Gericht stellte klar, dass ein Befehl zu Vergeltungsmaßnahmen mit einer willkürlich festgesetzten Quote unter allen Umständen verbrecherisch ist und dass sie dies wussten oder hätten wissen müssen und somit zur Verantwortung gezogen würden.[19]

Walter Warlimont, der im Wehrmachtführungsstab bei der Formulierung des Befehls beteiligt war, wurde am 27. Oktober 1948 im Prozess Oberkommando der Wehrmacht verurteilt, wobei das Gericht seiner Verteidigungsstrategie, er hätte Schritte gegen die Umsetzung im ganzen Bereich der Wehrmacht unternommen, keinen Glauben schenkte, da er andererseits angegeben hatte, in einer untergeordneten Position gewesen zu sein.[20] Weitere angeklagte Generale wurden wegen der unverhältnismäßigen Vergeltungsmaßnahmen gegen Zivilisten im gleichen Verfahren verurteilt.[21]

Siehe auch

Weblinks

Einzelnachweise

  1. a b Wolfgang Benz, Barbara Distel (Hrsg.): Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Band 9: Arbeitserziehungslager, Ghettos, Jugendschutzlager, Polizeihaftlager, Sonderlager, Zigeunerlager, Zwangsarbeiterlager. C.H. Beck, München 2009, ISBN 978-3-406-57238-8, S. 341 ff.
  2. Leon Poliakov und Josef Wulf: Das Dritte Reich und seine Diener - Dokumente, Verlags-GmbH Berlin-Grunewald, 1956, S. 350 ff.
  3. a b Walter Manoschek: Gehst mit Juden erschießen?, erschienen in Vernichtungskrieg - Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944. Zweitausendeins, 1995, ISBN 3-86150-198-8, S. 39f.
  4. Beate Ihme-Tuchel: Fall 7: Der Prozess gegen die "Südost-Generale", erschienen in Der Nationalsozialismus vor Gericht, 1999, Fischer, ISBN 3-596-13589-3, S. 147.
  5. Nürnberger Prozess, Vormittagssitzung, 27. Juli 1946 offizielle deutsche Fassung,zeno.org
  6. Urteil Keitel, offizielle deutsche Fassung, zeno.org
  7. Holm Sundhaussen: Jugoslawien. In: Dimensionen des Völkermords: Die Zahl der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus. Hrsg.: Wolfgang Benz, Oldenbourg 1991, ISBN 3-486-54631-7, S. 315.
  8. Whitney R. Harris: Tyranny on Trial, Southern Methodist University Press, 1954, S. 211 f.
  9. Sven Olaf Bberggötz: Ernst Jünger und die Geiseln, pdf, Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 2003, Heft 3
  10. Joe J. Heydecker, Johannes Leeb: Der Nürnberger Prozess. Kiepenheuer und Witsch, 2015, ISBN 978-3-462-04837-7, S. 509
  11. Raul Hilberg: Die Vernichtung der europäischen Juden. Fischer Taschenbuch 1982, Band 2, ISBN 3-596-24417-X, S. 728 ff.
  12. Michael Portmann, Arnold Suppan: Serbien und Montenegro im Zweiten Weltkrieg. erschienen in Serbien und Montenegro: Raum und Bevölkerung, Geschichte, Sprache und Literatur, Kultur, Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, Recht. Hrsg. Walter Lukan, LIT Verlag 2006, ISBN 3-8258-9539-4, S. 272
  13. Dieter Pohl: Die Herrschaft der Wehrmacht, Fischer Verlag 2011, ISBN 978-3-596-18858-1, S. 167
  14. Manfred Messerschmidt: Vorwärtsverteidigung. Die „Denkschrift der Generäle“ für den Nürnberger Gerichtshof. In: Hannes Heer, Klaus Naumann (Hg.): Vernichtungskrieg – Verbrechen der Wehrmacht 1941–1944. HIS Verlag Hamburger Edition, Hamburg 1995, S. 531–550, hier insbesondere S. 546 f.
  15. Wolfram Wette: Die Wehrmacht. Fischer 2002, ISBN 3-7632-5267-3, S. 206 f.
  16. Valerie Geneviève Hébert: Befehlsempfänger und Helden oder Verschwörer und Verbrecher? In: NMT : die Nürnberger Militärtribunale zwischen Geschichte, Gerechtigkeit und Rechtsschöpfung. Hrsg.: Priemel und Stiller, Hamburger Edition 2013, ISBN 978-3-86854-278-3, S. 274 f.
  17. Manfred Messerschmidt: Vorwärtsverteidigung. Die „Denkschrift der Generäle“ für den Nürnberger Gerichtshof, S. 545.
  18. Das Urteil von Nürnberg. DTV, 6. Auflage 2005, ISBN 3-423-34203-X, S. 186.
  19. Matthew Lippman: Conundrums of Armed Conflict: Criminal Defenses to Violations of the Humanitarian Law of War pdf, Penn State International Law Review, 1996, Volume 15, S. 25ff.
  20. High Command Trial, Judgement, pdf, S. 157.
  21. Valerie Geneviève Hébert: Hitler’s Generals on Trial: The Last War Crimes Tribunal at Nuremberg. University Press of Kansas, 2010, ISBN 978-0-7006-1698-5, S. 151 ff.