Sanhedrin

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie

Der Sanhedrin (סנהדרין) oder Hohe Rat war lange Zeit die oberste jüdische religiöse und politische Instanz und gleichzeitig das oberste Gericht. Das Wort Sanhedrin ist eine Hebräisierung des griechischen συνέδριον Synhedrion (Versammlung, Rat).[1] Außerdem bezeichnet Sanhedrin den gleichnamigen Traktat der Mischna.[2]

Der Sanhedrin zur Zeit des Jerusalemer Tempels

Die erste historische Erwähnung des Sanhedrin findet sich bei Flavius Josephus. Er berichtet, wie im Jahr 57 v. Chr. Aulus Gabinius das Land in fünf synedria oder synodoi einteilte.[3] Im Traktat Sanhedrin im Talmud ist die Rede von einem großen Sanhedrin mit 71 Mitgliedern[4] und von einem kleineren mit 23 Mitgliedern. Laut Tradition seien sie von Moses einberufen und eine Fortsetzung der Großen Versammlung (Knesset Gedola), die 200 v. Chr. erwähnt wird. Die 71 Mitglieder des Hohen Rates waren Priester, jüdische „Älteste“ und Schriftgelehrte. Abgesehen von einigen pharisäischen[5] Schriftgelehrten waren die Mitglieder wohl hauptsächlich Sadduzäer, die überwiegend den adligen Volksgruppen angehörten. Den Vorsitz hatte der Hohepriester, nach 191 v. Chr. der Nasi.

Seinen Sitz hatte der Sanhedrin zunächst in Jerusalem. Zu Beginn der römischen Herrschaft über Judäa verfügte die Versammlung noch über einen erheblichen Einfluss und eine gewisse Autonomie, hatte allerdings vermutlich nicht mehr das Recht, über Tod und Leben zu entscheiden.[6] König Herodes, dem ein konkurrierendes Machtzentrum ein Dorn im Auge war, ließ fast alle Mitglieder des Sanhedrin hinrichten.[7] Er setzte einen neuen, ihm gefügigen Sanhedrin ein.[8]

Im Neuen Testament kommt die Bezeichnung Synhedrion in den Evangelien und der Apostelgeschichte 22 Mal vor. Nach neutestamentlicher Überlieferung hatte der Hohe Rat einen wichtigen Anteil am Tod Jesu. Er konnte zwar das Todesurteil nicht selbst vollstrecken, habe Jesus jedoch mit der Anklage eines Messiasanspruchs an den römischen Statthalter Pontius Pilatus überstellt und auf seine Hinrichtung gedrungen.[9]

Der Sanhedrin in Jawne nach der Tempelzerstörung

Als im Jahr 70 der Jerusalemer Tempel und Jerusalem von den Römern nach einem jüdischen Aufstand zerstört wurden, gingen auch die jüdischen Behörden unter, also auch der Sanhedrin.[10]

Rabbi Jochanan ben Sakkai erhielt von den Römern die Erlaubnis, den Sitz des Hohen Rates nach Jawne zu verlegen; gleichzeitig wurde dort eine jüdische Schule errichtet.[11] Da der Tempel zerstört war, wurde der Sanhedrin nicht mehr vom Hohenpriester, sondern von einem Patriarchen geleitet; gleichzeitig übernahm die frühere Opposition, die Gruppe der Pharisäer, die Führung der Versammlung.[12]

Die Wiedererrichtung des Sanhedrin

Die vorherrschende Meinung im Judentum ist, dass erst nach Errichtung des Dritten Tempels ein neuer Sanhedrin gebildet werden wird. Jedoch gab es bereits in den Arbeiten einiger der größten halachischen Autoritäten zumindest Überlegungen, welche Anforderungen für eine Wiedererrichtung gegeben sein müssten. Insbesondere Maimonides erörtert diese Fragestellung in seinem Opus magnum zur Halacha, der Mischne Tora, und vertritt die Position, dass ein neuer Sanhedrin durch den Konsens der „Weisen Israels“ zu Stande kommen kann.

„Es scheint mir, dass wenn alle Weisen des Landes Israel (Eretz Israel) darin übereinkommen, Richter (dayanim) zu ernennen und diesen die Smicha zu erteilen, jene Richter mit Smicha (musmachim) in Strafsachen Urteile fällen und selbst Smichot erteilen können.“

Rambam, Mischne Tora, Hilchot Sanhedrin 4:11[13]
Datei:Napoleonic Medal.jpg
Medaille von 1806, den napoleonischen Sanhedrin gewidmet, in der Sammlung des Jüdischen Museums der Schweiz.  

Ebenso geht der Autor des bis heute als allgemein verbindlich geltenden Halachakompendiums Schulchan Aruch, Rabbi Joseph Karo, davon aus, dass ein Konsens aller halachischen Autoritäten prinzipiell die Wiedererrichtung des Sanhedrins ermöglichen würde.[14] Mit Bezug auf die Arbeiten dieser beiden Gelehrten unternahm eine Gruppe Rabbiner seit 2003 Vorbereitungen zur Wiedereinsetzung des Sanhedrin in Israel.[15] Dieses sehr umstrittene Vorgehen erhielt mehr Beachtung, als nach einem geheim gehaltenen ersten Nasi im Juni 2005 der angesehene Gelehrte und Rabbiner Adin Steinsaltz den Vorsitz übernahm. Im Juni 2008 erklärte er indes seinen Austritt aus dem Sanhedrin und begründete dies mit Bedenken über die Entwicklung des Rates und seine Sorge über den möglichen Verstoß gegen die Halacha.[16]

Der Sanhedrin im napoleonischen Frankreich

Am 23. August 1806 wurde unter Napoleon Bonaparte eine „Großer Sanhedrin“ genannte Versammlung von 71 jüdischen Notabeln, darunter Rabbiner unter Vorsitz von David Sinzheim und Laien unter dem Sprecher Abraham Furtado, einberufen.[17][16] Sie sollten aus der Halacha und aus dem Tanach Antworten auf Fragen zum Verhältnis von jüdischem und staatlichem Recht finden. Aus ihr ging das heutige Consistoire central israélite hervor.

Literatur

in der Reihenfolge des Erscheinens

  • Shelomoh Yosef Zevin: Encyclopedia Talmudica, Band IV, Yad Harav Herzog Press, 1992, ISBN 0-87306-714-2, Seite 22 ff.
  • Karlheinz MüllerSanhedrin, Synhedrium. In: Theologische Realenzyklopädie (TRE). Band 30, de Gruyter, Berlin/New York 1999, ISBN 3-11-016243-1, S. 32–42.
  • Heinrich W. Guggenheimer: The Jerusalem Talmud – Tractates Sanhedrin, Makkot, and Horaiot. Walter de Gruyter, Berlin 2010, ISBN 978-3-11-021961-6.
  • Pierre Birnbaum: Sanhédrin. In: Dan Diner (Hrsg.): Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur (EJGK). Band 5: Pr–Sy. Metzler, Stuttgart/Weimar 2014, ISBN 978-3-476-02505-0, S. 319–323.

Zum napoleonischen Sanhedrin:

Weblinks

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. Karlheinz Müller: Sanhedrin, Synhedrium. In: Theologische Realenzyklopädie (TRE). Band 30, de Gruyter, Berlin/New York 1999, ISBN 3-11-016243-1, S. 32.
  2. Heinrich W. Guggenheimer: The Jerusalem Talmud – Fourth Order: Neziqin – Tractates Sanhedrin, Makkot, and Horaiot, Walter de Gruyter, 2010, ISBN 978-3-11-021960-9, S. 1 ff.
  3. Flavius Josephus: Jüdische Altertümer 14, 90–91.
  4. Meir Holder: History of the Jewish People – From Yavneh to Pumbedisa. Mesorah Publications, 1986, ISBN 0-89906-499-X, S. 19.
  5. Jens Schröter: Jesus von Nazaret. Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2006, ISBN 3-374-02409-2, S. 113.
  6. Dazu ausführlich: Karlheinz Müller: Sanhedrin, Synhedrium. In: Theologische Realenzyklopädie (TRE). Band 30, de Gruyter, Berlin/New York 1999, ISBN 3-11-016243-1, S. 35–38.
  7. Flavius Josephus: Jüdische Altertümer 14, 168–171.
  8. Karlheinz Müller: Sanhedrin, Synhedrium. In: Theologische Realenzyklopädie (TRE). Band 30, de Gruyter, Berlin/New York 1999, ISBN 3-11-016243-1, S. 34.
  9. Thomas Söding: Der Prozess Jesu – die historischen Umstände. (pdf; 40 kB) Ruhr-Universität Bochum, 9. März 2011, abgerufen am 5. April 2021.
  10. Emil Schürer: Geschichte des jüdischen Volkes im Zeitalter Jesu Christi, Bd. 2. Leipzig, 2. Aufl. 1907, überarbeitete englische Übersetzung von Géza Vermes und Pamela Vermès, unter dem Titel The history of the Jewish people in the age of Jesus Christ. A new English version, Bd. 2. Clark, Edinburgh 1979, ISBN 0-567-0-2243-9, S. 209.
  11. Shmuel Safrai: Das Zeitalter der Mischna und des Talmuds (70–640). In: Haim Hillel Ben-Sasson (Hrsg.): Geschichte des jüdischen Volkes. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. C. H. Beck, München 2. Aufl. 1981, ISBN 978-3-406-55918-1, S. 375–470, hier S. 392–393.
  12. Karlheinz Müller: Sanhedrin, Synhedrium. In: Theologische Realenzyklopädie (TRE). Band 30, de Gruyter, Berlin/New York 1999, ISBN 3-11-016243-1, S. 40.
  13. Rambam/Maimonides: Mishne Torah, Hilchot Sanhedrin 4:11
  14. Rabbi Joseph Karo: Maʿaseh Beit Din. Ähnlich auch in Beit Josef: Choschen Mischpat 295.
  15. The Sanhedrin Initiative – The Sanhedrin English. In: thesanhedrin.org. Abgerufen am 9. April 2012.
  16. a b Sue Fishkoff: Steinsaltz completes Talmud translation with Global Day of Jewish Learning. In: Jewish Telegraphic Agency. 31. Oktober 2010, abgerufen am 6. April 2021 (englisch).
  17. John F. Oppenheimer (Red.) u. a.: Lexikon des Judentums. 2. Auflage. Bertelsmann Lexikon Verlag, Gütersloh u. a. 1971, ISBN 3-570-05964-2, Sp. 694.