Sankt-Petersburg-Paradoxon

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie

Das Sankt-Petersburg-Paradoxon (auch Sankt-Petersburg-Lotterie) beschreibt ein Paradoxon in einem Glücksspiel. Die Zufallsvariable hat hier einen unendlichen Erwartungswert, was gleichbedeutend mit einer unendlich großen erwarteten Auszahlung ist. Trotzdem scheint der Spieleinstieg nur einen kleinen Geldbetrag wert zu sein. Das St.-Petersburg-Paradoxon ist eine klassische Situation, in der eine naive Entscheidungstheorie, die nur den Erwartungswert als Kriterium verwendet, eine Entscheidung empfehlen würde, die keine (reale) rationale Person fällen würde. Das Paradoxon kann gelöst werden, indem das Entscheidungsmodell durch die Verwendung einer Nutzenfunktion verfeinert wird oder indem endliche Varianten der Lotterie betrachtet werden.

Das Paradox erhielt seinen Namen von Daniel Bernoullis Präsentation des Problems und seiner Lösung, die er 1738 in den Commentarii Academiae Scientiarum Imperialis Petropolitanae (Sankt Petersburg) veröffentlichte. Nikolaus I Bernoulli erwähnte das Problem jedoch schon 1713 in einem Briefwechsel mit Pierre Rémond de Montmort. In der ursprünglichen Darstellung spielt sich diese Geschichte in einem hypothetischen Kasino in Sankt Petersburg ab, daher der Name des Paradoxons.

Das Paradoxon

In einem Glücksspiel, für das eine Teilnahmegebühr verlangt wird, wird eine faire Münze so lange geworfen, bis zum ersten Mal „Kopf“ fällt. Dies beendet das Spiel. Der Gewinn richtet sich nach der Anzahl der Münzwürfe insgesamt. War es nur einer, dann erhält der Spieler 1 Euro. Bei zwei Würfen (also einmal „Zahl“, einmal „Kopf“) gibt es 2 Euro, bei drei Würfen 4 Euro, bei vier Würfen 8 Euro und bei jedem weiteren Wurf verdoppelt sich der Betrag.[1] Man gewinnt also Euro, wenn die Münze -mal geworfen wurde.

Welcher Geldbetrag würde für die Teilnahme an diesem Spiel bezahlt werden wollen?

Sei die Wahrscheinlichkeit, dass beim -ten Münzwurf Zahl fällt, und die Wahrscheinlichkeit, dass beim -ten Münzwurf Kopf fällt. Man kommt genau dann zum -ten Wurf, wenn man vorher -mal Zahl geworfen hat. Also ist die Wahrscheinlichkeit, dass das erste Mal beim -ten Münzwurf „Kopf“ fällt:

Wie viel kann man im Durchschnitt erwarten zu gewinnen? Mit Wahrscheinlichkeit 1/2 ist der Gewinn 0 Euro, mit Wahrscheinlichkeit 1/4 ist er 1 Euro, mit Wahrscheinlichkeit 1/8 ist er 2 Euro usw. Der Erwartungswert ist daher

Diese Summe divergiert gegen unendlich, das heißt, im Mittel erwartet man daher einen unendlichen hohen Gewinn.

Allerdings ist die Wahrscheinlichkeit, z. B. 512 Euro oder mehr zu gewinnen, sehr klein, nämlich gerade 1:1024 (1:2048 für mindestens 1024 Euro).

Gemäß einer Entscheidungstheorie, die auf dem Erwartungswert basiert, sollte man daher jede beliebige Teilnahmegebühr akzeptieren. Dies widerspricht natürlich einer tatsächlichen Entscheidung und scheint auch irrational zu sein, da man in der Regel nur einige Euro gewinnt. Diese offenbar paradoxe Diskrepanz führte zu dem Namen Sankt-Petersburg-Paradoxon.

Lösungen des Paradoxons

Es gibt mehrere Ansätze, dieses Paradoxon zu lösen.

Erwartungsnutzentheorie

Ökonomen nutzen dieses Paradoxon, um Konzepte in der Entscheidungstheorie zu demonstrieren.[2] Das Paradoxon wird dabei gelöst, indem die naive Entscheidungstheorie, die auf dem Erwartungswert basiert, durch die (vernünftigere) Erwartungsnutzentheorie (Expected Utility Theory) ersetzt wird.

Diese Theorie des sinkenden Grenznutzens des Geldes wurde schon von Bernoulli erkannt. Die Hauptidee ist hierbei, dass ein Geldbetrag unterschiedlich bewertet wird: Zum Beispiel ist der relative Unterschied in der (subjektiven) Nützlichkeit von 2 Billionen Euro zu 1 Billion Euro sicher kleiner als der entsprechende Unterschied zwischen 1 Billion Euro und gar keinem Geld. Die Beziehung zwischen Geldwert und Nutzen ist also nicht-linear. Verallgemeinert man diese Idee, so hat eine 1:100.000.000.000 Chance, 100.000.000.000 Euro zu gewinnen, zwar einen Erwartungswert von einem Euro, muss aber nicht zwingend einen Euro wert sein.

Wenn wir nun eine Nutzenfunktion, wie die von Bernoulli vorgeschlagene Logarithmusfunktion , verwenden, so hat die Sankt-Petersburg-Lotterie einen endlichen Wert:

In Bernoullis eigenen Worten:

„[…] es ist hier nämlich der Wert einer Sache nicht aus ihrem bloßen Preise (Geld- oder Tauschwert) zu bestimmen, sondern aus dem Vorteil, den jeder einzelne daraus zieht. […] So muß es zweifellos für einen Armen mehr wert sein, tausend Dukaten zu gewinnen, als für einen Reichen, obschon der Geldwert für beide der gleiche ist.“[3]

Diese Lösung ist jedoch noch nicht vollauf befriedigend, da die Lotterie in einer Weise geändert werden kann, dass das Paradox wieder auftritt: Dazu müssen wir lediglich die Lotterie so ändern, dass die Auszahlungen betragen, dann ist der Wert der Lotterie, berechnet mit der logarithmischen Nutzenfunktionen, wieder unendlich.

Allgemein kann man für jede unbeschränkte Nutzenfunktion eine Variante des Sankt-Petersburg-Paradoxon finden, die einen unendlichen Wert liefert, wie von dem österreichischen Mathematiker Karl Menger als erstem bemerkt wurde.[4]

Es gibt nun im Wesentlichen zwei Möglichkeiten, dieses neue Paradoxon, das zuweilen Super-Sankt-Petersburg-Paradoxon genannt wird, zu lösen:

  • Man kann berücksichtigen, dass ein Kasino nur Lotterien mit einem endlichen Erwartungswert anbieten würde. Unter dieser Annahme lässt sich zeigen, dass das Paradoxon verschwindet, falls die Nutzenfunktion konkav ist, was bedeutet, dass man eine Risikoaversion (zumindest für hohe Geldbeträge) voraussetzt.[5]
  • Man kann annehmen, dass die Nutzenfunktion nach oben beschränkt ist. Dies bedeutet nicht, dass die Nutzenfunktion ab einem bestimmten Wert konstant sein muss. Als Beispiel betrachte .

In den letzten Jahren wurde die Expected Utility Theory erweitert, um Entscheidungsmodelle zu erhalten, die das reale Verhalten von Testpersonen quantitativ besser beschreiben. In einigen dieser neuen Theorien, wie der Cumulative Prospect Theory, taucht das Sankt-Petersburg-Paradox in einigen Fällen auch dann auf, wenn die Nutzenfunktion konkav und der Erwartungswert endlich ist, jedoch nicht, wenn die Nutzenfunktion beschränkt ist.[6]

Endliche Sankt-Petersburg-Lotterie

In der klassischen Variante der Sankt-Petersburg-Lotterie hat das Kasino unbegrenzte Geldvorräte. Es gibt also keinen Gewinn, den das Kasino nicht auszahlen könnte, und das Spiel könnte beliebig lange gehen.

Geht man hingegen von einem realen Kasino mit einem Kapital von aus, dann kann das Kasino nicht mehr als einen maximalen Gewinn auszahlen. Erreicht der Spieler die daraus resultierende Grenze von Münzwürfen, dann wird ihm der Gewinn an dieser Stelle ausgezahlt und das Spiel abgebrochen. Diese Grenze legt das Kasino vorher fest.

Man erhält nun einen endlichen Erwartungswert. Zur Berechnung verwendet man die Formel

mit .

Folgende Tabelle zeigt, welche Erwartungswerte die endliche Sankt-Petersburg-Lotterie für verschiedene Kasinotypen hat:

Kasinokapital K max. Spiellänge N Erwartungswert E
100 € 7 4 € Spiel unter Freunden
100 Millionen € 27 14 € (normales) Kasino
18 Billionen € 44 22,50 € BIP der EU 2009

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Manon Bischoff: Das Sankt-Petersburg-Paradoxon: Spielen um jeden Preis? In: spektrum.de, 16. Juni 2022, abgerufen am 20. Juni 2022.
  2. Für einen Überblick siehe Thorsten Hens und Marc Oliver Rieger (2016): Financial Economics: A Concise Introduction to Classical and Behavioral Finance . Springer-Verlag, Chapter 2.
  3. Alfred Pringsheim Daniel Bernoulli: Die Grundlage der modernen Wertlehre: Daniel Bernoulli, Versuch einer neuen Theorie der Wertbestimmung von Glücksfällen. (Specimen Theoriae novae de Mensura Sortis). Aus dem Lateinischen übersetzt und mit Erläuterungen versehen von Professor Dr. Alfred Pringsheim. Mit einer Einleitung von Dr. Ludwig Fick. 1896 (archive.org [abgerufen am 12. Dezember 2020]).
  4. Karl Menger (1934): Das Unsicherheitsmoment in der Wertenlehre, Z. Nationalokon., Vol. 51, pp. 459–485.
  5. Vergleiche Kenneth Arrow (1974): The use of unbounded utility functions in expected-utility maximization: Response. In: Quarterly Journal of Economics, Vol. 88, pp. 136–138.
  6. Marc Oliver Rieger and Mei Wang (2006), „Cumulative prospect theory and the St. Petersburg paradox“, Economic Theory, Vol. 28, issue 3, Seiten 665–679.