Sattelzeit

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Sattelzeit ist ein von Reinhart Koselleck in den 1970er Jahren geprägter Begriff zur Bezeichnung einer Übergangs- oder Schwellenzeit zwischen Früher Neuzeit und Moderne. „Sattel“ (gemeint ist entweder ein Bergsattel oder ein Reitsattel) steht metaphorisch für einen allmählichen Übergang. Hans Blumenberg nannte einen solchen Übergang Epochenschwelle. Ulrich Raulff weist jedoch auf die Mehrdeutigkeit des Begriffs hin, indem er anführt, Koselleck habe sich anderswo der Metapher des Pferdezeitalters bedient. Auch Helge Jordheim betont, dass Koselleck „in der Jugend viel geritten ist und der im Alter tausende Fotos von Reiterdenkmälern angefertigt und gesammelt hat“. „Die Sattelmetapher“, so verfolgt er, „bringt semantische Ressourcen ins Spiel, die für Kosellecks Geschichtsdenken von entscheidender Bedeutung sind und die verloren gehen, wenn der ursprünglich in Zedlers Universal-Lexikon nachgewiesene Sinn des Reitsattels nicht mitklingen darf“.[1]

Bedeutung

Gemeint ist die Spätzeit der Aufklärung und die Zeit vor und nach der Französischen Revolution, von ungefähr 1750 bis 1850 oder 1870, in der im Zusammenhang mit den politisch-gesellschaftlichen Umwälzungen dieser Periode auch Schlüsselbegriffe für das politische Denken der Moderne einen tiefgreifenden Bedeutungswandel erfahren hätten (z. B. Staat, Bürger, Familie) oder als Neologismen (z. B. Imperialismus, Kommunismus, Klasse) überhaupt erst eingeführt worden seien. Der Bedeutungswandel ist nach Koselleck so zu verstehen, dass in Verbindung mit einer veränderten historischen Zeiterfahrung, die geschichtliche Entwicklung in neuer Weise als Wandel und Bewegung akzentuiert, auch die Bedeutungen politischer Leitbegriffe sich von überzeitlich-statischen hin zu zukunftsgerichtet-antizipatorischen Inhalten verschoben hätten.

In Ergänzung und Erweiterung des begriffsgeschichtlichen Konzepts nach Koselleck werden in der Geschichtsforschung noch weitere Veränderungsprozesse als charakteristisch für die Sattelzeit angesehen, wodurch sich die Nähe zu modernisierungstheoretischen Annahmen ergibt:

In geschichts- und kulturwissenschaftlichen Arbeiten wird der Begriff Sattelzeit zuweilen auch analog auf andere Perioden gesellschaftlicher und kultureller Umbrüche übertragen.

Literatur

  • Elisabeth Décultot, Daniel Fulda (Hrsg.): Sattelzeit. Historiographiegeschichtliche Revisionen (= Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 52). Berlin: Oldenbourg Verlag 2016. ISBN 978-3-11-044968-6, Rezension auf www.hsozkult.de
  • Stefan Jordan: Sattelzeit. In: Friedrich Jaeger (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 11. Stuttgart 2010, Sp. 610–613
  • Helge Jordheim: Sattel, Schicht, Schwelle, Schleuse. Kosellecks paradoxe Sprachbildlichkeit der pluralen Zeiten. In: Bettina Brandt & Britta Hochkirchen (Hrsg.): Reinhart Koselleck und das Bild. Bielefeld 2021, S. 217–244
  • Reinhart Koselleck: Einleitung, in: Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, Klett-Cotta, Stuttgart 1979, S. XIII-XXVII, hier S. XV
  • Reinhart Koselleck: Über die Theoriebedürftigkeit der Geschichtswissenschaft, in: Werner Conze (Hrsg.): Theorie der Geschichtswissenschaft und Praxis des Geschichtsunterrichts, Klett-Cotta, Stuttgart 1972, S. 10–28, hier S. 14 f
  • Ulrich Raulf: Das letzte Jahrhundert der Pferde: Historische Hippologie nach Koselleck. In: Hubert Locher und Adriana Markantonatos (Hrsg.): Reinhart Koselleck und die Politische Ikonologie. Berlin / München 2013, S. 96–109

Einzelnachweise

  1. Jordheim: Sattel, Schicht, Schwelle, Schleuse, S. 226. Koselleck wurde als 13-Jähriger Mitglied der Reiter-HJ (Niklas Olsen: History in the Plural. An Introduction to the Work of Reinhart Koselleck. New York 2012, S. 12 f.).