Schalom Achschaw
Schalom Achschaw (hebräisch שלום עכשיו, deutsch Frieden jetzt, auch oft auf Englisch Peace Now) ist eine außerparlamentarische Friedensbewegung in Israel. Seit seiner Gründung verurteilt Schalom Achschaw die israelischen Siedlungen im Westjordanland, weil diese in berechnender Art und Weise die Möglichkeit eines Friedens mit den Palästinensern unterminierten.
Politische Agenda
Nach eigenen Angaben vertritt Schalom Achschav folgende Grundsätze:[1]
- Frieden, Kompromiss und Versöhnung sowohl mit den Palästinensern als auch mit den arabischen Nachbarstaaten seien notwendig, um Israels künftige Sicherheit und staatliches Fortbestehen zu gewährleisten.
- Die fortgesetzte zivile und militärische Kontrolle des Westjordanlandes mit seiner palästinensischen Bevölkerung gefährde die Existenz und den demokratischen Charakter Israels als Staat des jüdischen Volkes.
Zu Einzelfragen positioniert sich Schalom Achschaw so:[1]
- Für eine Zweistaatenlösung in den Grenzen von 1967 mit einvernehmlichem Tausch von Flächen.
- Für den Aufbau eines Palästinenserstaates als Mittel, um den jüdischen und demokratischen Charakter des Staates Israel zu stärken.
- Für Jerusalem als zwei Hauptstädte von zwei Staaten auf Grundlage der Bevölkerungsverteilung und gewährleistet durch eine internationale Vereinbarung.
- Gegen die jüdischen Siedlungen im Westjordanland. Sie beschädigten Israels internationales Image, sie seien eine existentielle Bedrohung für Israels Zukunft als jüdischer und demokratischer Staat und ein Haupthindernis für jeden künftigen Friedensvertrag.
Geschichte
Brief der Offiziere (1978)
In der Folge von Anwar as-Sadats Besuch in Israel im Jahre 1978 verfassten 348 israelische Reservesoldaten im Offiziersrang eine Petition an den damaligen israelischen Ministerpräsidenten Menachem Begin, die ihn dazu drängen sollte, den Friedensprozess weiterzuführen.[2] Yuval Neria, ein Kommandeur, der 1973 die höchste Auszeichnung des Landes für militärische Tapferkeit erhalten hatte, erläuterte: „Wir meinten, dass es dem Premierminister schwerfallen würde, einen Brief von Offizieren mit Kampferfahrung zu ignorieren, die ihren Wert im Feld bewiesen und einen Beitrag für die Gesellschaft geleistet hatten.“[3]
Der Text der Petition, der in mehreren Tageszeitungen veröffentlicht wurde, ist in gewisser Weise charakteristisch für die Anliegen von Schalom Achschaw, die der Bewegung einerseits Anhängerschaft, andererseits vehemente Ablehnung brachten: Patriotismus, Verortung im Mainstream-Zionismus, Ablehnung eines Großisrael und zugleich Bekräftigung der uneingeschränkten Souveränität Israels in den Grenzen der Grünen Linie. Zitat: „Eine Regierungspolitik, die zur dauerhaften Kontrolle über Millionen von Arabern führt, wird den jüdisch-demokratischen Charakter des Staates beschädigen und wird es uns schwer machen, uns mit dem Weg des Staates Israel zu identifizieren.“[4] Die Verfasser der Petition zeigten sich überrascht von der starken Mobilisierung, die sie damit in der Bevölkerung ausgelöst hatten, und die teilweise mit dem Wahlsieg des Likud 1977 zusammenhing, der für viele politisch linksgerichtete Israelis schwer zu akzeptieren war.[4]
Gründung, Anfangsjahre
Diese Petition führte zur Gründung von Schalom Achschaw, im März 1978,[5] einer basisdemokratischen Bewegung, die sich darum bemüht, Unterstützung für den Friedensprozess zu gewinnen. Auf einer Kundgebung in Tel Aviv riefen die Demonstranten Ministerpräsident Begin dazu auf, im Austausch mit der Sinai-Halbinsel Frieden mit Ägypten zu schließen.[6] Im März 1979 unterzeichneten Sadat und Begin den israelisch-ägyptischen Friedensvertrag. Anfang der 1980er Jahre war Schalom Achschaw eine gut organisierte Graswurzelbewegung mit zwei Zentren in Jerusalem und Tel Aviv.[7]
Folgende Personen spielten in der Anfangszeit von Schalom Achschaw eine führende Rolle:[8]
- Naftali Raz, ein Jugendarbeiter aus Jerusalem;
- Orly Lubin, ein Student der Kommunikationswissenschaften an der Universität Tel Aviv;
- Avshalom „Abu“ Vilan, ein Kibbuznik aus Negba, stellte die Verbindung zur Kibbuzbewegung her, aus der nicht nur viele Mitglieder kamen, sondern die Schalom Achschaw auch logistisch unterstützte;
- Janet Aviad, eine Dozentin für Soziologie an der Hebräischen Universität;
- Yossi Ben-Artzi, ein Dozent für Soziale und Historische Geographie Israels an der Universität Haifa, Veteran der Protestbewegung von 1973 und Gründer der Partei Schinui;
- Shulamit Hareven, eine prominente Schriftstellerin und Essayistin;
- Tzali Reshev, ein Rechtsanwalt in Jerusalem und dank seiner juristischen Ausbildung häufig Sprecher für Schalom Achschaw gegenüber den Medien.
Libanonkrieg
In den Jahren 1982 bis 1984 protestierte die Bewegung gegen den Libanonkrieg und verlangte den Rückzug der israelischen Truppen aus dem Libanon. Allerdings zögerte Schalom Achschaw nach Kriegsbeginn zehn Tage lang, für den Frieden zu demonstrieren, während Israels Soldaten kämpften. Unterdessen machten sich radikalere Friedensaktivisten selbständig: eine Spaltung der Friedensbewegung, die Schalom Achschaw nicht mehr ganz rückgängig machen konnte.[9] Der Höhepunkt der Antikriegs-Proteste wurde mit den Massenkundgebungen in der Folge der Massaker von Sabra und Schatila erreicht:
- 120.000 Demonstranten im Juni 1982,
- 100.000 Demonstranten im Juni 1983,
- 400.000 Demonstranten 1984 nach den Massakern von Sabra und Schatila, die bis dahin größte Demonstration in der Geschichte Israels.[9]
Am 10. Februar 1983 ermordete Yona Avrushmi, ein vorher nicht politisch aktiver, aber für diverse Gewaltdelikte verurteilter Kleinkrimineller,[9][10] den Peace-Now-Anhänger Emil Grünzweig, der an einer Kundgebung in Jerusalem teilnahm, durch eine Handgranate. Neun weitere Demonstranten wurden verletzt, darunter der Parlamentarier Avraham Burg.[9]
Während der 1980er und der frühen 1990er Jahre verlangte Schalom Achschaw die Anerkennung der PLO als der nationalen Repräsentation des palästinensischen Volkes. Die Erste Intifada (1987–1993) wurde von Schalom Achschaw als politischer Akt anerkannt. Die Organisation forderte deshalb Verhandlungen mit den Palästinensern und verlangte ein „Ende der Besetzung“ der West Bank (bzw. Judäa und Samaria in israelischer Lesart) und Gaza.
Unterstützer des Oslo-Abkommens
Die Unterzeichnung der Oslo-Abkommen markierte einen Meilenstein in den Aktivitäten von Schalom Achschaw, das sich seitdem bemüht, diejenigen Regierungen zu unterstützen, welche nach der Formel Land für Frieden handeln, und gegen jene zu demonstrieren, die seiner Meinung nach den Friedensprozess verhindern.
Mit dem Ausbruch der Al-Aqsa Intifada (seit 2000) ging die allgemeine Unterstützung für die Bewegung zurück, da der Friedensprozess, der in Oslo begonnen hatte, schwere Rückschläge erlitt. Im Jahre 2003 wurden neue Initiativen zur Lösung des Nahostkonfliktes gestartet, wie der Nationale Konsens und die Initiative von Genf, die beide auf der Formel Land für Frieden basieren. Beide Initiativen sind nicht offiziell Schalom Achschaw angegliedert, aber oft haben dieselben Aktivisten an vielen verschiedenen Initiativen mitgearbeitet. Die Initiative von Genf wird mit Jossi Beilin und der Meretz-Jachad-Partei in Verbindung gebracht, während der Nationale Konsens mit dem Namen Ami Ayalon verbunden wird, der diese Initiative ganz bewusst unabhängig von Schalom Achschaw geführt hat, um keinen Schaden in der öffentlichen Unterstützung zu provozieren. Die meisten Aktivitäten von Schalom Achschaw für das Jahr 2004 gelten der Überwachung der israelischen Siedlungserweiterungen und der Einrichtung von illegalen Außenposten durch die Hilltop Youth. Schalom Achschaw war einer der Hauptorganisatoren der Demonstration Mate ha-Rov („Mehrheitslager“) im Jahre 2004, die den einseitigen Abzugsplan und den Rückzug aus dem Gazastreifen unterstützten.
Neue Impulse erhält die Bewegung heute durch die in Nordamerika entstanden Gruppen If Not Now und J Street U. Liberale nordamerikanische Juden bilden zudem weiterhin einen wichtigen Rückhalt für die liberale Tageszeitung Haaretz, das Magazin Jewish Currents, sowie für friedenspolitische Gruppen wie Schovrim Schtika, New Israel Fund, B'Tselem, Molad, oder für das Internetmagazin +972.[11]
Aktivitäten
Die Bewegung ist in mehreren israelischen Städten aktiv und organisiert regelmäßige Mahnwachen und Demonstrationen. Des Weiteren werden Berichte über die israelischen Siedlungen veröffentlicht.
Im Anfang November 2007 herausgegebenen Bericht wird unter anderem die andauernde Siedlungspolitik kritisiert. Demnach seien im Westjordanland die Anzahl der Siedler bis Ende Juli 2007 um 5,8 Prozent auf 267.500 Personen gestiegen.[12]
Der Bericht vom Mai 2010 behandelt die Vorgänge in Ostjerusalem. Laut Schalom Achschaw bedroht die dortige Verstärkung der Siedlungsaktivitäten die Chancen für eine Zwei-Staaten-Lösung: „Die Intensivierung der Siedlungsaktivitäten in Ostjerusalem gefährdet die Chancen für eine Implementierung der Zwei-Staaten-Lösung und kann eine nicht rückgängigmachbare Situation entstehen lassen, die einen Kompromiss in Jerusalem verhindern würde.“[13] Der Bürgermeister von Jerusalem, Nir Barkat, der seit November 2008 im Amt ist, sei zudem einer der treuesten Verbündeten der Siedler in Ostjerusalem und habe zusammen mit der Regierung Netanjahus in der Stadt verstärkt Spannungen ausgelöst.
„Preisschild“-Attacken
Einrichtungen und bekannte Vertreter von Schalom Achschaw wurden mehrfach zum Ziel sogenannter „Preisschild“-Aktionen. Das sind Akte von Vandalismus, die 2008 aufkamen, zunächst um die israelischen Sicherheitskräfte zu beschäftigen und damit auch von der Auflösung illegaler Siedlungen abzuhalten. Bald wurden daraus Vergeltungsakte, die oft von Jugendlichen aus der Siedlerbewegung (Hilltop Youth) durchgeführt wurden.[14] Das Jerusalemer Wohnhaus der Leiterin des Settlement-Watch-Projekts, Hagit Ofran, wurde im September und November 2011 mit Drohgraffitis besprüht, ebenso wie Jerusalemer Büros von Schalom Achschaw.[15][16]
Bekannte Mitglieder bei Schalom Achschaw
- Jael Dajan, israelische Schriftstellerin und Politikerin
- Emil Grünzweig, israelischer Friedensaktivist, Opfer eines Mordanschlags
- Schulamith Koenig, Menschenrechtspreisträgerin der Vereinten Nationen
- Mira Magén, israelische Schriftstellerin
- Avischai Margalit, israelischer Philosoph
- Amos Oz, israelischer Schriftsteller
- Jossi Sarid, israelischer Politiker
- Zeev Sternhell, israelischer Politologe
Literatur
- Mordechai Bar-On: In Pursuit of Peace: A History of the Israeli Peace Movement. United States Institute of Peace, Washington 1996.
- Tamar S. Hermann: The Israeli Peace Movement: A Shattered Dream. Cambridge University Press, New York 2009.
- Magnus Norell: A Dissenting Democracy: The Israeli Movement ‘Peace Now‘. Frank Cass, London /Portland OR 2002.
Weblinks
- peacenow.org.il (englisch)
- peacenow.org.il (hebräisch)
Einzelnachweise
- ↑ a b Peace Now: Our Vision
- ↑ Art. Peace Now (Shalom Achshav). In: Sara E. Karesh, Mitchell M. Hurvitz (Hrsg.): Encyclopedia of Judaism, New York 2006, S. 384.
- ↑ Mordechai Bar-On: In Pursuit of Peace: A History of the Israeli Peace Movement, Washington 1996, S. 98.
- ↑ a b Tamar S. Hermann: The Israeli Peace Movement: A Shattered Dream, New York 2009, S. 89.
- ↑ peacenow.org
- ↑ Hedva Isachar: Unangenehm bleiben. Ein Überblick über die Geschichte des politischen Protests in Israel aus der Perspektive der außerparlamentarischen Bewegungen. In: Rosa-Luxemburg-Stiftung Israel Office. 19. September 2016, abgerufen am 27. April 2017.
- ↑ Tamar S. Hermann: The Israeli Peace Movement: A Shattered Dream, New York 2009, S. 90.
- ↑ Mordechai Bar-On: In Pursuit of Peace: A History of the Israeli Peace Movement, Washington 1996, S. 100f.
- ↑ a b c d Tamar S. Hermann: The Israeli Peace Movement: A Shattered Dream, New York 2009, S. 92.
- ↑ Dan Izenberg: The troubled personality of Yona Avrushmi. In: The Jerusalem Post, 27. Januar 2011.
- ↑ Eric Alterman: Peace Now – Die Kritik jüdischer US-Bürger an Netanjahu. In: Barbara Bauer, Anna Lerch (Hrsg.): Le Monde diplomatique. Band 2/25. TAZ/WOZ, Februar 2019, ISSN 1434-2561, S. 1, 6.
- ↑ BBC: West Bank settlements 'expanding' (8. November 2007)
- ↑ In der englischen Originalfassung: The intensification of settlement activities in East Jerusalem threatens the chances of implementing the two-state solution and might create an irreversible situation that would prevent a compromise in Jerusalem.
- ↑ Moshe Hellinger, Isaac Hershkowitz, Bernard Susser: Religious Zionism and the Settlement Project: Ideology, Politics, and Civil Disobedience. State University of New York Press, Albany 2018, S. 249–252.
- ↑ Jeremy Sharon: Peace Now official's home vandalized with 'Price Tag'. In: The Jerusalem Post, 9. November 2011.
- ↑ Death Threats Sprayed on Home of Peace Now Activist, in Apparent 'Price Tag' Attack. In: Haaretz, 8. November 2011.