Seltene Krankheit

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Als Seltene Krankheit oder Seltene Erkrankung (SE) bezeichnet man eine Krankheit, die nur wenige Menschen betrifft. Im engeren und fachsprachlichen Gebrauch ist es eine Gruppe von seltenen Erkrankungen, die wegen ihrer Schwere oder Gefährlichkeit dennoch Aufmerksamkeit der Behörden, Ärzte- und Patientenorganisationen erfahren (auch englisch orphan disease; von englisch

orphan

). Die konkrete Definition dazu unterscheidet sich von Land zu Land, z. B. verwenden die US-amerikanischen Behörden eine Prävalenz von höchstens 1:1500 Menschen, Japan 1:2500, die Europäische Union 1:2000 (bzw. wenn weniger als fünf von 10.000 Menschen daran leiden). In Deutschland soll es insgesamt ca. 8000 derartige Erkrankungen geben, die zusammen 6–8 % der Bevölkerung betreffen.[1]

Kriterien

Seltene Krankheiten sind oft lebensbedrohliche oder chronisch einschränkende Erkrankungen, die einer speziellen Behandlung bedürfen. Je nach Land bzw. Staatenbund gelten verschiedene Kriterien für die Einordnung als seltene Krankheit.

So definiert die einschlägige EU-Verordnung als seltenes Leiden ein solches, „das lebensbedrohend ist oder eine chronische Invalidität nach sich zieht“ und von dem in der Europäischen Gemeinschaft „nicht mehr als fünf von zehntausend Personen betroffen sind“.[2] Viele seltene Erkrankungen werden durch einen Gendefekt verursacht.

Region Prävalenz, relativ Betroffene absolut Anzahl Krankheiten
EU weniger als 5 pro 10.000 Einwohner[3] weniger als 228.000 Patienten
USA weniger als 7,5 pro 10.000 Einwohner[4] weniger als 200.000 Patienten 7000
Japan weniger als 4 pro 10.000 Einwohner weniger als 50.000 Patienten
Australien weniger als rund 1 pro 10.000 Einwohner weniger als 2000 Patienten
Schweiz höchstens 5 pro 10.000 Einwohner[5] höchstens ca. 4300 Patienten

Zu den äußerst seltenen Krankheiten zählen in der EU solche, die weniger als 0,2 pro 10.000 Personen betreffen.[6]

1997 wurde vom französischen Gesundheitsministerium die Orphanet initiiert; das Projekt beinhaltet eine Datenbank rund um seltene Krankheiten und deren Behandlungsmöglichkeiten.

Das Nationale Netzwerk seltener Krankheiten hat im Oktober 2006 bekanntgegeben, dass derzeit rund 17.000 genetisch bedingte seltene Krankheiten bekannt sind,[7] davon 5000 bis 8000 allein in Deutschland.[8]

Nach einer Schätzung des Global Genes Projects haben weltweit etwa 300 Millionen Menschen eine von etwa 7000 Krankheiten, die in den Vereinigten Staaten als selten definiert werden.[9] In der EU sind zwischen 27 und 36 Millionen Menschen von seltenen Krankheiten betroffen. In Deutschland geht man von 4 Millionen Betroffenen aus.[10][8]

Arzneimittel

Der Status von Arzneimitteln als Orphan-Arzneimittel wird durch den regelmäßig in Amsterdam tagenden Ausschuss für Arzneimittel gegen seltene Krankheiten (Committee for Orphan Medicinal Products, COMP) der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) erörtert und dann empfohlen.

In der Regel ist es für die pharmazeutische Industrie wirtschaftlich uninteressant, Arzneimittel gegen seltene Krankheiten, so genannte Orphan-Arzneimittel (engl.:

orphan medicinal product

), zu entwickeln. Aus diesem Grund wurden von verschiedenen Staaten Verordnungen und Gesetze erlassen, um die Behandlung dieser Krankheiten zu fördern. Pharmazeutische Unternehmen, die zur Behandlung seltener Krankheiten neue Arzneimittel entwickeln, erhalten Erleichterungen für deren Zulassung und Vermarktung. Zunächst erließen im Jahr 1983 die USA den Orphan Drug Act. Am 22. Januar 2000 trat die EU-Verordnung über Arzneimittel zur Behandlung seltener Leiden in Kraft; auch andere Länder folgten.

Es zeichnet sich zwischenzeitlich sogar eine Tendenz innerhalb der pharmazeutischen Industrie ab, sich auf die Entwicklung von Orphan Drugs zu konzentrieren. Im Mai 2021 traf der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) 15 Beschlüsse zum Zusatznutzen von neuen Arzneimitteln. Bei 12 dieser 15 Beschlüsse handelte es sich um die Bewertung von Orphan Drugs. Prof. Josef Hecken, unparteiischer Vorsitzender des G-BA und Vorsitzender des Unterausschusses Arzneimittel, wird zitiert: „Aussagekräftige Studien sind auch bei Orphan Drugs, also Medikamenten gegen seltene Leiden, möglich.“[11]

Öffentliche Aufmerksamkeit

Der Tag der seltenen Krankheiten wurde in Europa und Kanada erstmals am 29. Februar 2008 begangen, um die Öffentlichkeit auf die Belange der Betroffenen aufmerksam zu machen.[12]

EU-Verordnungen

Die EU-Verordnung über Arzneimittel zur Behandlung seltener Leiden (Verordnung Nr. 141/2000) trat am 22. Januar 2000 in Kraft.[13] Sie soll die Forschung, Entwicklung und Verbreitung von medizinischen Produkten im Bereich der seltenen Krankheiten fördern.

Siehe auch

Literatur

  • Regine Witkowski, Otto Prokop, Eva Ullrich, W. Staude: Lexikon der Syndrome und Fehlbildungen. Ursachen, Genetik und Risiken. 7. Auflage. Springer, 2003, ISBN 3-540-44305-3.
  • Handbuch seltene Krankheiten. Orphanet Deutschland. Medizinische Hochschule, Hannover 2007, DNB 985344504.
  • Martin Mücke (Hrsg.): Fälle Seltene Erkrankungen: Patienten ohne Diagnose. Urban & Fischer Verlag/Elsevier, 2018, ISBN 978-3-437-15041-8.
  • Manuela Stier, Christine Maier (Hrsg.): Seltene Krankheiten. Einblicke in das Leben betroffener Familien (= KMSK Wissensbuch. 1). Förderverein für Kinder mit seltenen Krankheiten, Uster 2018, ISBN 978-3-9524985-0-7.
  • Manuela Stier, Daniela Schmuki, Simon Starkl (Hrsg.): Seltene Krankheiten. Der Weg, Genetik, Alltag, Familien und Lebensplanung (= KMSK Wissensbuch. 2). Förderverein für Kinder mit seltenen Krankheiten, Uster 2019, ISBN 978-3-9524985-1-4.
  • Manuela Stier, Daniela Schmuki, Andreas Meyer-Heim (Hrsg.): Seltene Krankheiten. Therapien für Kinder und Unterstützung für die Familien (= KMSK Wissensbuch. 3). Förderverein für Kinder mit seltenen Krankheiten, Uster 2020, ISBN 978-3-9524985-2-1, (kmsk.ch)
  • Manuela Stier, Prof. Dr. med. Anita Rauch (Hrsg.): Seltene Krankheiten. Psychosoziale Herausforderungen für Eltern und Geschwister (= KMSK WIssensbuch. 4). Förderverein für Kinder mit seltenen Krankheiten, Uster 2021, ISBN 978-3-9524985-3-8

Weblinks

deutschsprachig
englischsprachig
Datenbanken

Einzelnachweise