Sexuelle Verwahrlosung

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Der Begriff sexuelle Verwahrlosung oder sittliche Verwahrlosung beschreibt ein von der gesellschaftlichen Norm abweichendes sexuelles Verhalten. Überwiegend wurden Mädchen und Frauen in sozialwissenschaftlichen, sozialpädagogischen und pädagogischen Zusammenhängen als sexuell verwahrlost bezeichnet, der Begriff spielte unter anderem eine wichtige Rolle bei der Inhaftierung und Verfolgung von Frauen in der Zeit des Nationalsozialismus und war ein Schlagwort in der Erziehungsarbeit der 1950er und 1970er Jahre. Durch Medienberichte über provokative Raptexte, Fälle von Kinderarmut und -vernachlässigung sowie exzessiven Medienkonsum kam der Begriff, jetzt auf Kinder und Jugendliche beiden Geschlechts bezogen, ab Mitte der 2000er Jahre wieder in die gesellschaftliche Diskussion.

Zeit des Nationalsozialismus

In der Zeit des Nationalsozialismus wurden Mädchen und Frauen als sexuell verwahrlost bezeichnet, denen wechselnde (promiske) beziehungsweise gesellschaftlich nicht akzeptierte sexuelle Kontakte vorgeworfen wurden. Das betraf Prostituierte, Frauen, die als asozial bezeichnet wurden (siehe auch soziale Randgruppe), Lesben und Frauen mit jüdischen Sexual- oder Lebenspartnern, die der „Rassenschande“ bezichtigt wurden.

Die sittliche Verwahrlosung, auch als Unzucht bezeichnet, wurde als ein Problem betrachtet, das zu einer „sexuellen Unordnung“ und einem Verfall der Moral führen konnte. Ab dem Kriegsbeginn (1939) waren kriegsbedingt viele Männer nicht zu Hause bzw. in anderen Landesteilen stationiert; es gab die Meinung, dass dies das Problem verschärfe.

Viele als sittlich verwahrlost bezeichnete oder gerichtlich verurteilte Mädchen und Frauen wurden von staatlichen Institutionen in Konzentrationslager wie das Frauenlager KZ Ravensbrück oder das nahegelegene Mädchenlager Uckermark verbracht; viele von ihnen wurden ermordet. Die Bezeichnung „sexuell verwahrlost“ wurde in der Zeit des Nationalsozialismus nur für Mädchen und Frauen verwendet, während das sexuelle Verhalten von Männern ausschließlich unter dem Begriff der Homosexualität gebrandmarkt wurde.[1]

Die nationalsozialistische Führung verdächtigte insbesondere den Bund Deutscher Mädel, die sexuelle Devianz zu fördern, anstatt die Mädchen und jungen Frauen ausschließlich auf ihre Aufgaben als Gattin und Mutter zum Nutzen der Volksgemeinschaft vorzubereiten.

Näheres siehe Vorehelicher Geschlechtsverkehr (NS-Zeit)

siehe auch Frauen in der Zeit des Nationalsozialismus

Nachkriegszeit

Auch in Deutschland wurden von geltenden gesellschaftlichen Normen abweichendes Verhalten oder auch das Erleiden sexuellen Missbrauchs in den Jahren 1950 bis 1970 zum Anlass genommen, Mädchen in Erziehungsheime einzuweisen, wo sie zum Teil schwer misshandelt wurden.[2] Noch rigider wurden Abweichungen von gesellschaftlichen Normen in den Heimen des Magdalenenordens in Irland sanktioniert, die bis in die 1990er Jahre bestanden. Im Zuge der Verwirklichung der sexuellen Selbstbestimmung von Frauen verschwanden derartige Sanktionen ab den 1970er Jahren.[3]

Heutige Begriffsverwendung

Als im April 2006 sowie im Februar 2007 Junge Liberale aus Niedersachsen die Freigabe von Pornographie ab 16 forderten,[4] wurde von diversen Kommentatoren aus Politik und Jugendhilfe, von Arbeiterwohlfahrt über SPD bis hin zu CDU/CSU, behauptet, dies würde einer weiteren „sexuellen Verwahrlosung“ Jugendlicher Vorschub leisten.[5][6]

Nach Februar 2007 wurde der Begriff „Sexuelle Verwahrlosung“ verstärkt in Medienberichten verwendet, die sich schwerpunktmäßig gegen Internetpornografie und Rap mit pornografischen Texten wandten.[7] Bedeutsamster Beitrag hierbei war der Artikel „Voll Porno“ des Journalisten Walter Wüllenweber im „Stern“.[8] Verschiedene andere Medien griffen das Thema auf und produzierten Beiträge mit ähnlichem Tenor und teilweise den gleichen Akteuren wie im „Stern“-Artikel, darunter die Fernsehmagazine Frontal21 und Monitor. Auch der Gründer des christlichen Kinderhilfsprojekts Die Arche, Bernd Siggelkow, sprach in seinem 2008 erschienenen Buch Deutschlands sexuelle Tragödie von sexueller Verwahrlosung bei Kindern und Jugendlichen.

Die Sexualforschung der 2000er Jahre hingegen fand im Durchschnitt keine empirisch nachweisbaren Verhaltensänderungen von Jugendlichen in eine derartige Richtung, weswegen z. B. der Leipziger Sexualforscher Kurt Starke die „sexuelle Verwahrlosung“ als „reines Medienphänomen“ und „Sensationsmache“ bezeichnet.[9]

Jakob Pastötter, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Sozialwissenschaftliche Sexualforschung, bezeichnete in einem Interview mit der Zeitung Die Zeit Sprachlosigkeit und fehlende Väterfiguren als Gründe für eine nicht näher bezeichnete sexuelle Verwahrlosung, die mit sozialer Verwahrlosung einhergehe.[10]

Literatur

  • Michael Schetsche, Renate-Berenike Schmidt (Hrsg.): Sexuelle Verwahrlosung. Empirische Befunde – Gesellschaftliche Diskurse – Sozialethische Reflexionen. VS-Verlag, Wiesbaden 2010, ISBN 978-3-531-17024-4.
  • Heike Schmidt: Gefährliche und gefährdete Mädchen. Weibliche Devianz und die Anfänge der Zwangs- und Fürsorgeerziehung. Leske und Budrich, Opladen 2002, ISBN 3-8100-3652-8 (Sozialwissenschaftliche Studien 38), (Zugleich: Hamburg, Univ., Diss., 2002).
  • Bernd Siggelkow, Wolfgang Büscher: Deutschlands sexuelle Tragödie. Wenn Kinder nicht mehr lernen, was Liebe ist. 2. Auflage. Gerth Medien, Asslar 2008, ISBN 978-3-86591-346-3.
  • Titus Simon: Raufhändel und Randale. Sozialgeschichte aggressiver Jugendkulturen und pädagogischer Bemühungen vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart.Neuausgabe. Juventa, Weinheim u. a. 1996, ISBN 3-7799-0255-9.
  • Walter Wüllenweber: Sexuelle Verwahrlosung. Voll Porno! In: stern – Das deutsche Magazin. Band 2007, Nr. 06, ISSN 0039-1239 (Online-Quelle [abgerufen am 23. November 2010]).

Einzelnachweise

  1. Kathrin Kollmeier: Ordnung und Ausgrenzung: Die Disziplinarpolitik der Hitlerjugend. Teil III, Kapitel 3: Disziplinieren von Mädchen und Frauen als Sonderaufgabe. Vandenhoeck & Ruprecht, 2007, ISBN 3-525-35158-5, S. 257–276.
  2. Peter Wensierski: Schläge im Namen des Herrn. Dva, München 2006, ISBN 978-3-421-05892-8.
  3. Kaija Kutter: Sind wir wirklich so schwach? In: die tageszeitung. 2. Dezember 2002, ISSN 0931-9085 (Online-Zugriff [abgerufen am 21. März 2008] Bericht über Klaus Schmidt, ehemaliger Leiter des geschlossenen Mädchenheims Feuerbergstraße und des Jugendnotdienstes).
  4. Junge Liberale Niedersachsen: Herabsetzung der Altersgrenze für den Zugang zu pornographischen Schriften auf 16 Jahre (Memento vom 6. Februar 2009 im Internet Archive), 23. April 2006 (PDF; 68 kB) Abgerufen am 22. März 2008.
  5. Anna Reimann, Jan Friedmann: Freizügige Jungpolitiker: Liberale fordern Freigabe von Pornografie für Jugendliche. In: Spiegel Online. 13. Februar 2007, abgerufen am 8. Oktober 2012.
  6. Anna Reimann: Jugend und Pornos: Sexuell verwahrlost statt aufgeklärt. Spiegel Online, 14. Februar 2007, abgerufen am 22. März 2008.
  7. Gerd Stecklina: Grenzerfahrungen von Kids und Jugendlichen. Klosprüche, „sexuelle Verwahrlosung“ und Peers. in Renate-Berenike Schmidt, Uwe Sielert: Handbuch Sexualpädagogik und sexuelle Bildung, Juventa, 2008, ISBN 3-7799-0791-7.
  8. Walter Wüllenweber: Sexuelle Verwahrlosung: Voll Porno! In: Stern, Ausgabe 6/2007. 5. Februar 2007, abgerufen am 8. Oktober 2012.
  9. Monika Ermert, Volker Briegleb: Medientage: „Sexuelle Verwahrlosung“ durch Online-Pornos? In: Heise online. 29. Oktober 2009, abgerufen am 8. Oktober 2012.
  10. Höchste Zeit, dass wir uns aufregen“, Jakob Pastötter im Interview mit Sigrid Neudecker, ZEIT WISSEN, Nr. 3/2009, S. 24.

Weblinks