Shlomo Sand

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Shlomo Sand, Aufnahme von Juli 2007.

Shlomo Sand (* 10. September 1946 in Linz, Österreich) ist ein israelischer Historiker. Er war von 2002 bis zu seiner Emeritierung 2014 Professor an der Universität Tel Aviv.

Leben

Die ersten zwei Jahre nach seiner Geburt verbrachte Sand mit seinen Eltern in einem DP-Lager bei München. Im Jahre 1948 gelangte die Familie Sand nach Jaffa, Israel. Nach dem Sechstagekrieg im Sommer 1967 war Sand jahrelang in der anti-zionistischen Gruppierung Matzpen (Kompass) aktiv, verließ diese aber, nachdem sie u. a. auch das Existenzrecht Israels angegriffen hatte.[1][2]

Ab Mitte der 1970er Jahre setzte er seine Studien in Paris an der École des Hautes Études en Sciences Sociales bei der Historikerin Madeleine Rebérioux mit einer Magisterarbeit über Jean Jaurès fort und beendete sie mit einer Doktorarbeit über Georges Sorel. Zurück in Israel, beschäftigte er sich mit der Geschichte des Kinos, der Geschichte der Intellektuellen und der Geschichte des Nationalismus, während er immer wieder Gastprofessuren an der École des Hautes Études en Sciences Sociales wahrnahm.[3] Zu seinen jüngsten Beschäftigungen gehört die Auseinandersetzung mit der Geschichte des jüdischen Volkes.

Wirken

Georges Sorel

Mitte der 1980er Jahre befasste sich Sand intensiv mit Georges Sorel und organisierte in Frankreich ein erstes Kolloquium zur Wiederbelebung der Beschäftigung mit dessen Werk. Mit dem Historiker Jacques Julliard gründete er 1983 die Zeitschrift Cahiers Georges Sorel, aus denen unter Julliards Leitung 1988 die Zeitschrift Mil neuf cent. Revue d’histoire intellectuelle wurde.[4]

Die Erfindung des jüdischen Volkes

Sand löste unter anderem in Israel und Frankreich mit seinem 2008 erschienenen Buch מתי ואיך הומצא העם היהודי? (dt. „Wann und wie wurde das jüdische Volk erfunden?“, deutsche Übersetzung des Buchs unter dem Titel Die Erfindung des jüdischen Volkes – Israels Gründungsmythos auf dem Prüfstand) Kontroversen aus.

Im 2009 zur deutschen Ausgabe geschriebenen Vorwort gibt er an, „dass die Kluft zwischen meinen Forschungsergebnissen und der in Israel und anderswo verbreiteten Geschichtsauffassung erschreckend groß ist“. Dabei habe er nichts anderes gemacht, als von der israelischen zionistischen Geschichtsschreibung schon lange präsentiertes, aber vergessenes Material zu verarbeiten, wobei in seiner Arbeit „nichts wirklich Neues“ erschienen sei.[5]

Sands Stellungnahmen zum Zionismus

Sand lehnt sowohl Zionismus als auch Antizionismus für sich ab. Er verortet seine Position im Postzionismus.[6] Er bestreitet das Existenzrecht Israels nicht, möchte aber „den Zionismus als Charakteristikum des Staates Israel abschaffen.“[7] 2009 gab er in Interviews an, Israels Legitimität in Vorträgen vor arabischen Studenten mit dem Lebensrecht eines aus einer Vergewaltigung hervorgegangenen Kindes verglichen zu haben, das man ebenfalls anerkennen müsse.[8] Man müsse das Kind erziehen, damit es die Verbrechen seines Vaters nicht wiederhole.[6] In einem Kommentar in Haaretz wandte er sich 2016 gegen die von liberalen israelischen Linken erhobene Warnung, in Israel drohe sich der Faschismus zu etablieren, beziehungsweise dies sei bereits Realität. Er betonte dagegen die Kontinuität des Zionismus über die Jahrzehnte des Bestehens des israelischen Staates, erinnerte daran, dass seit 1948 auch unter der Verantwortung linker zionistischer Regierungen skandalöse Verbrechen an der palästinensischen Zivilbevölkerung verübt wurden, und verglich die sozialistischen Zionisten auf den Golanhöhen mit den nationalreligiösen Siedlern des Westjordanlands: Die früheren Siedler seien den neueren nicht moralisch überlegen, es handele sich vielmehr um ein höheres Maß an Heuchelei. Auch ohne drohenden Faschismus habe sich Israel inzwischen in eine höchst gefährliche Situation begeben, aus der sich das Land nur mit internationaler Hilfe vor sich selbst retten könne.[9]

Veröffentlichungen

Monografien

  • L'Illusion du politique, Paris, La Découverte, 1984 (ISBN 2-7071-1518-5).
  • Intellektuelle, Wahrheit und Macht, Tel Aviv, Am Oved, 2000 (in Hebräisch, ISBN 965-13-1439-7).
  • Le XXe siècle à l'écran, Paris, Seuil, 2004 (ISBN 2-02-056916-7, auch in Hebräisch und Spanisch).
  • Historiker, Zeit und Vorstellung, Tel Aviv, Am Oved, 2004 (in Hebräisch, ISBN 965-13-1733-7).
  • The Words and the Land, Los Angeles, Semiotext, 2011 (ISBN 978-1-58435-096-5, auch in Französisch).
  • Die Erfindung des jüdischen Volkes, Berlin, Propyläen, 2010 (ISBN 978-3-549-07376-6, auch in Hebräisch, Französisch, Englisch, Arabisch, Italienisch, Russisch, Japanisch, Ungarisch, Schwedisch, Slowenisch, Spanisch, Chinesisch, Brasilianisch, Polnisch, Türkisch, Bulgarisch, Kroatisch, Portugiesisch, Griechisch, Tschechien, Koreanisch).
  • Die Erfindung des Landes Israel, Berlin, Propyläen, 2012 (ISBN 978-3-549-07434-3, auch in Hebräisch, Französisch, Englisch, Arabisch, Russisch, Spanisch, Persischer, Chinesisch, Brasilianisch, Polnisch, Tschechien).
  • Warum ich aufhöre, Jude zu sein, Berlin, Propyläen, 2013 (ISBN 978-3-549-07449-7 auch in Hebräisch, Französisch, Englisch, Arabisch, Russisch, Spanisch, Italienisch, Brasilianisch, Polnisch)
  • Crépuscule de l'Histoire, Paris, Flammarion, 2015 (ISBN 978-2-70718-939-4, auch in Hebräisch und Englisch).
  • La Fin de l'intellectuel français ?, Paris, La Découverte, 2016 (ISBN 978-2-7071-8939-4, auch in Englisch und Spanisch).

Als Herausgeber

  • J. Julliard & S. Sand (Hrsg.), Georges Sorel en son temps, Paris, Seuil, 1985 (ISBN 2-02-008978-5).
  • H. Bresheeth, M. Zimmermann & S. Sand (Hrsg.), Kino und Erinnerung, Zalman Shazar Center for Jewish History, Jerusalem, 2004 (in Hebräisch, ISBN 965-227-191-8).
  • S. Sand (Hrsg.), Ernest Renan – On The Nation and the “Jewish People”, London, Verso, 2010 (ISBN 978-1-84467-462-6 auch in Hebräisch und Französisch).

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Interview mit Shlomo Sand, Interviewer Igal Avidan, tachles 26. September 2008
  2. Evan R. Goldstein: „Inventing Israel“, in: Tablet, 13. Oktober 2009.
  3. Short Curriculum Vitae (Memento vom 28. März 2009 im Internet Archive)
  4. Zum 20-jährigen Bestehen
  5. S. 16, Seitenangabe nach der 2010 bei Propyläen erschienenen Ausgabe
  6. a b Jordan Skinner: 'Israel does not understand anything but force' - an interview with Shlomo Sand. (von 2009) wiederveröffentlicht auf der Webseite seines britischen Verlags Verso vom 31. Juli 2014, abgerufen am 8. März 2018 (englisch)
  7. Jochanan Shelliem: Das Allerheiligste der jüdischen Identität. In: Deutschlandfunk vom 19. April 2010, abgerufen am 8. März 2018
  8. Jonny Paul: TAU accused of anti-Semitism. In: Jerusalem Post vom 15. November 2009, abgerufen am 8. März 2018 (englisch)
  9. Shlomo Sand: Israel Isn't Fascist, but It Still Needs the World to Save It From Itself. In: Haaretz vom 13. August 2016, (zur Hälfte frei zugänglich auf der Webseite des Verlags Verso, englisch)