Sonderpädagogik

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Die Sonderpädagogik beschäftigt sich mit Jugendlichen und Kindern, für die ein sogenannter besonderer bzw. sonderpädagogischer Förderbedarf festgestellt wurde. Junge Menschen, denen bescheinigt wird, dass sie „besonders zu fördern“ seien, sollen demnach individuelle Hilfen erhalten, um ein möglichst großes Maß an schulischer und beruflicher „Eingliederung“ bzw. sogenannter gesellschaftlicher Teilhabe (bzw. Teilnahme) und selbständiger Lebensgestaltung zu erlangen. Ihr Ziel liegt außerdem in der Erforschung und Verbesserung von Maßnahmen für die Betroffenen.

Geschichte

Begriff

Historische Stufen zur Entwicklung und Bedeutung des Begriffs Integration bzw. Inklusion

Der Wiener Bildungswissenschaftler Gottfried Biewer sieht die Ablösung des Begriffs Heilpädagogik durch Sonderpädagogik als eine Folge des Ausbaus eines gegliederten Sonderschulsystems in den 1960er Jahren. Sonderpädagogik sei damals als Sonderschulpädagogik zu verstehen und mit der Etablierung dieses Faches an den pädagogischen Hochschulen und den Universitäten verbunden gewesen.[1] Die Ausweitung ihrer Aufgaben auf alle Lebensalter und Lebensbereiche in den 1970er Jahren, die Entstehung einer integrativen Pädagogik und die heutige Forderung nach Inklusion hätten die Legitimität des Begriffs aber in Frage gestellt. Nach der Interpretation der UNESCO hat die Pädagogik vier Entwicklungsstufen durchgemacht: Exklusion, Separation, aus der die Sonderpädagogik hervorging, Integration und Inklusion.[2] Die Übergänge zwischen diesen Entwicklungsstufen sind fließend. Inklusion, deren Befürworter sich vor allem auf die Ambitionen und formulierten (Rechts-)Ansprüche der von Deutschland 2009 ratifizierten UN-Konvention über Rechte von Menschen mit Behinderungen berufen, ist bezüglich ihrer Umsetzung umstritten.

Während Begriffe wie Heilmittel oder heilende Erziehung in pädagogischen Zusammenhängen schon früher verwendet wurden, etablierte sich der Begriff Heilpädagogik Mitte des 19. Jahrhunderts. Die sogenannte Heil- oder Sonderpädagogik wurde bis weit in das 20. Jahrhundert hinein eher als medizinische denn als pädagogische Disziplin betrachtet: Erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts setzte sich ein pädagogischer Blickwinkel durch. Im Allgemeinen war anfangs das Verständnis für „Menschen mit Behinderung(en)“ jedoch sehr gering. So sahen Lehrer und Pädagogen es nicht als ihre Aufgabe an, behinderten Menschen durch Schaffung spezieller sonderpädagogischer Einrichtungen zu helfen. Die Gründung erster spezieller Einrichtungen für Kinder „mit Behinderungen“, die meist in großer Armut lebten, wie Hilfsschulen, sowie die Entwicklung der theoretischen Grundlagen dafür ist eng mit dem damaligen sogenannten deutschen Hilfsschulverband[3] verbunden.[4] Der unterschiedliche Blickwinkel, Sondereinrichtungen für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen als (medizinische) Heil- bzw. Therapie-Institutionen statt als Bildungseinrichtungen zu betrachten bzw. die Vermischung dieser beiden Aufgaben, belastet auch die Diskussion über Inklusion und führt immer wieder zu fundamentalen Missverständnissen.

Schulentwicklung in Deutschland

Westdeutschland ab 1945

Nach der Befreiung Deutschlands vom nationalsozialistischen Deutschen Reich trat am 14. April 1948 in Hamburg die „Prüfungsordnung“ zusammen mit der „Ausbildungsordnung für das Lehramt an Hilfsschulen“ in Kraft. Nach Hänsel (2014) haben diese Ordnungen „unverkennbare Übereinstimmungen“ mit dem Entwurf der reichsweiten „Ausbildungs- und Prüfungsordnung für Hilfsschullehrer“ von 1941.[4]

Nach 1949 restrukturierte sich die Sonderpädagogik unter weitgehend personeller Kontinuität: Noch im gleichen Jahr erschien die erste Ausgabe der Zeitschrift „Heilpädagogische Blätter“. Auch der während der nationalsozialistischen Zeit in den „nationalsozialistischen Lehrerbund“ eingegliederte „Hilfsschullehrerverband“ gründete sich in diesem Jahr neu (zunächst als „Verband deutscher Hilfsschulen“, ab 1955 als „Verband deutscher Sonderschulen“). Man versuchte im Sinne einer „Stunde Null“ die Sonderpädagogik zu erneuern und an die „Blüte der Heilpädagogik“ der Weimarer Republik anzuschließen. Tatsächlich wurden die zwölf Jahre unter nationalsozialistischer Vergangenheit weitestgehend verdrängt. Mit Gustav Lesemann, dem letzten Verbandsvorsitzenden in der Weimarer Republik, und Josef Spieler, der die Kriegsjahre in der Schweiz verbrachte, hatte man zudem zwei politisch weniger belastete Personen im Verband.[5] Trotz dieses – propagierten – Neuanfangs war es tatsächlich so, dass man „in personeller, gesetzlicher, ideologischer Hinsicht in der Mehrzahl der nach dem Zweiten Weltkrieg neugeschaffenen Bundesländer zunächst an den Vorgaben und Strukturen des Dritten Reiches“ anknüpfte.[6] Schließlich gelang nun auch ein Zusammenschluss der verschiedenen sonderpädagogischen Disziplinen in einen gemeinsamen Ausbildungsgang, der seit 1950 entwickelt wurde und acht Sonderschulformen, zunächst ohne Taubstummen- und Blindenpädagogik, umfasste.[7]

Seit den 1980er Jahren kamen Bestrebungen in Gang, das Sonderschulwesen in Deutschland, das Menschen mit Behinderung weitgehend von den Menschen ohne Behinderung isoliert und damit zu ihrer Ausgrenzung aus der Gesellschaft beiträgt, umzustrukturieren. Einen ersten Schritt stellte in den meisten Bundesländern die Umbenennung von „Sonderschulen“ in „Förderschulen“ dar.

Die sonderpädagogische Betreuung in speziellen Einrichtungen für Menschen mit Behinderung soll so weit wie möglich durch einen gemeinsamen Unterricht erfolgen (unter Umständen in sogenannten Integrationsklassen), damit Kinder länger gemeinsam miteinander leben und lernen und so im sozialen und lerntechnischen Bereich profitieren. Bei Kindertagesstätten, Kindergärten usw. bestehen die gleichen Bestrebungen zur Inklusion.

Autoren wie der Bremer Herausgeber der Zeitschrift "Behindertenpädagogik" Wolfgang Jantzen sowie der Berliner Pädagogische Psychologe Manfred Günther nutzten in diesen Jahren auch den Terminus Differenzielle Pädagogik, der sich jedoch nicht durchsetzte.

SBZ und DDR (1945 bis 1990)
„Hilfsschüler“ in Buckau (Juni 1953)

Auch in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) wurde zunächst an die Strukturen der NS-Zeit angeknüpft. Noch ohne gesetzliche Grundlagen nahmen bereits im Oktober 1945 erste „Hilfsschulen“ ihre Arbeit wieder auf. 1946 wurden „Sonderschulen“ legitimiert, die nun als alleinige Schulform „für alle bildungsfähigen, behinderten bzw. beeinträchtigten Kinder“[8] galten. Ebenso wie in den anderen Besatzungszonen wurde die Hilfsschule als „sinnstiftendes als auch konstituierendes Moment“[8] des Sonderschulsystems wahrgenommen. Im Vordergrund in der SBZ stand, wie bereits vorher, die Entlastung der allgemeinbildenden Schulen. Gleichzeitig sollte durch die allgemeine Schulpflicht für behinderte Kinder auch der humanitäre Charakter des neuen Regimes dargestellt werden.[9] Ausgeschlossen waren aber weiterhin Kinder mit „geistiger Behinderung“, die bis zum Ende der DDR nicht in das allgemeine Schulsystem aufgenommen wurden und in separaten „Rehabilitationseinrichtungen“ oder „Anstalten“ untergebracht wurden.[10] Von 1948 bis 1952 gelang es den Sonderschulen in der DDR, sich von der allgemeinen Pädagogik abzugrenzen. Mit dem Jahr 1952 war dieser Prozess abgeschlossen und das Sonderschulwesen hatte nun eine „unmittelbar gesellschaftsstützende Funktion“ und galt als „Garant für den geplanten sozialistischen Aufbau“.[11] Bis 1957 steigerte sich die Zahl der Sonderschulen in der DDR von 120 auf 626.[11] Die neuen Sonderschulen griffen neben Einflüssen aus der sowjetischen und der kommunistischen Pädagogik zu einem Großteil auch auf die rechtlichen Normen aus der NS-Zeit zurück. So war die „AAoPr“ des deutschen Reichs von 1938 die Vorlage für die die Hilfsschule betreffenden Passagen in den „Richtlinien der deutschen Verwaltung für Volksbildung in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands“ von 1948. Auch wurde aus der NS-Zeit der landesweit gültige Hilfsschullehrplan übernommen, der jedoch inhaltlich keine Parallelen zur nationalsozialistischen Pädagogik aufwies, sondern stark auf heilpädagogischen Bestrebungen der 1920er Jahre aufbaute.[12]

Ab 1990 Wege zur Inklusion

Im Juni 1994 wurde auf der UNESCO-Konferenz Pädagogik für besondere Bedürfnisse: Zugang und Qualität in Salamanca (Spanien) die Salamanca-Erklärung mit der Nennung der „Inklusion“[13] verabschiedet.[14]

Im November 1994 trat ein neuer Satz im Artikel 3 des Deutschen Grundgesetzes in Kraft:

„Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“[15]

Damit wurde der Perspektivenwechsel von der Betrachtung (und Behandlung) „Behinderter“ als „Objekte von Fürsorge“ zu ihrer Wahrnehmung als selbständig handelnde und individuell zu behandelnde Subjekte manifestiert.

2006 wurde die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen verabschiedet mit der Verpflichtung der Unterzeichnerstaaten, ein inclusive education system (engl., dt. inklusives Bildungssystem) zu errichten, in dem der gemeinsame Unterricht von Schülern mit und ohne Behinderung der Regelfall ist. Die Bundesrepublik ratifizierte die Konvention 2009. Als erstes Schulgesetz in Deutschland formuliert das Bremer Schulgesetz von 2009 in § 3 Absatz 4 den Auftrag, dass sich alle Schulen zu inklusiven Schulen entwickeln sollen.[16]

Eine inklusive Pädagogik versteht sich nicht mehr als zuständig für eine als besonders auszuweisende Klientel, sondern als Kompetenz zu spezifischen Wissens- und Könnensbeständen für krisenhafte Lern- und Entwicklungsprozesse; sie folgt dem Motto: „Die Experten zu den Kindern und nicht die Kinder zu den Experten!“[17] Politisch umstritten ist die Frage, ob aus diesem Leitspruch der Schluss gezogen werden muss, dass alle Kinder eine Regelschule besuchen müssen, einschließlich derer, deren Eltern es im Interesse des Kindeswohls als geboten ansehen, dass ihr Kind an einer Förderschule unterrichtet wird.[18]

Wolfgang Rhein stellt 2013 die These in Frage, der zufolge die Sonderpädagogik vollständig in der Allgemeinen Pädagogik aufgehen müsse: Sonderpädagogik sei dann fällig, wenn allgemeine Pädagogik scheitere. „Ein besonderer Unterstützungsbedarf verlangt, sich ihm mit angemessener, besonderer Fachlichkeit zu stellen. Aus einem besonderen Unterstützungsbedarf folgt jedoch nicht die Zusammenfassung von Menschen gleichen oder ähnlichen Bedarfs zu Gruppen.“[19]

In den meisten Ländern Deutschlands wurden Schulgesetze verabschiedet, die (weitgehend) die „Sonderschulpflicht“ abschafften. Bereits 1999 hat die Kultusministerkonferenz per Beschluss festgestellt, dass Regelschulen geeignete Lernorte für Kinder und Jugendliche mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf sein können.[20]

In mehreren Ländern gibt es nicht mehr die Möglichkeit, Kinder unterer Jahrgangsstufen mit dem Förderschwerpunkt Lernen an einer Förderschule unterrichten zu lassen. Das Land Niedersachsen hat sogar beschlossen, alle Förderschulen dieses Typs zu schließen.[21]

Wissenschaft

Sonderpädagogik ist eine Wissenschaft, die an einer Universität oder Hochschule betrieben wird. Sie beschäftigt sich mit der schulischen und außerschulischen Erziehung und Förderung von Menschen mit Behinderung im Sinne einer Hinführung zur Selbständigkeit oder aber der Erhaltung von Fähigkeiten und Funktionen.

Den Titel Sonderpädagoge dürfen führen:

Ausbildung

Die Ausbildung von Sonder- oder Förderschullehrer(inne)n erfolgt an Universitäten und Pädagogischen Hochschulen

  • im Studienfach Diplom-Pädagogik/Erziehungswissenschaft mit Sonderpädagogik als Schwerpunkt im Hauptstudium,
  • mit dem angestrebten Abschluss „Erstes Staatsexamen“ mit dem Berufsziel Sonderschullehrer/in bzw. Förderschullehrer/in mit je nach Bundesland ein bis zwei sonderpädagogischen Fachrichtungen,
  • Magister Artium (M.A.) mit dem Hauptfach Sonderpädagogik, meist auch in Form von ein oder mehreren Fachrichtungen,
  • Master of Arts (M.A.) oder Master of Education (M.Ed.), mit im Gegensatz zum Magister Artium ggf. einer mit dem Master-Abschluss verbundenen Qualifizierung zum Lehramt an Sonderschulen.

Als Fachrichtungen gibt es derzeit je nach Angebot der Hochschulen:

Dabei verändert sich teilweise die Terminologie der Fachrichtungen, um Paradigmenwechsel im Fach zu signalisieren, der Adressatenkreis bleibt jedoch derselbe.

Zu den zu vermittelnden Kenntnissen gehören Ursachen und Symptome der verschiedenen Behinderungen, spezielle Förderprogramme und Förderdiagnostik sowie spezielle pädagogische Fragestellungen mit Praxisbezug wie etwa Erwachsenenbildung für Menschen mit geistiger Behinderung, die Arbeit mit schwerstbehinderten Menschen, Sprachtherapie, Sexualität oder der Familiensituation. Aber auch die ethische Positionierung zu gesellschaftspolitischen Fragen wie beispielsweise die Sterilisation geistig behinderter Frauen beispielsweise während der Zeit des Nationalsozialismus, bzw. Fragen der Verhütung bei geistig behinderten Menschen sind Themen der Ausbildung.

Des Weiteren können spezifische Fragestellungen (z. B. Frühförderung bei Kindern mit kognitiver Behinderung, Sprachtherapie usw.) behandelt werden. Aufgrund der fast immer vorliegenden Mehrfachbehinderungen ist das isolierte Studium eines einzigen Faches nicht zu empfehlen. Im Rahmen von integrativen Kindergärten anstelle des Sonderkindergartens (z. B. für Sprachbehinderte) werden Sonderpädagogen nicht mehr nur mit spezifischen Behinderungen konfrontiert. Ähnliche Entwicklungen sind für den Wohn- und Arbeitsbereich festzustellen.

Die Studieninhalte beziehen sich auch auf Kenntnisse aus dem Bereich der Allgemeinen Sonderpädagogik:

  • Ethische Fragen
  • Geschichte der Disziplin und der Klientel
  • Institutionen der Sonderpädagogik
  • Interkulturelle Sonderpädagogik
  • Methoden der Sonderpädagogik
  • Theorien der Sonderpädagogik

Diese Kenntnisse sind notwendige Bedingungen zur Bestimmung eines eigenen Standortes und damit zur Fähigkeit der kritischen Reflexion bestehender Berufspraxis, vor allem der Praktika. Spezielle Förderprogramme oder diagnostische Aufgaben müssen kritisch hinterfragt werden. Gesellschaftsbezogene Aufgaben der Sonderpädagogik (Integration, Ethik, Normalisierung, selbstbestimmtes Leben) lassen sich nur lösen durch Reflexion des jeweiligen Standpunktes (z. B. dialogische versus interaktionistische oder materialistische Heilpädagogik). Lernerfordernis ist hier die Reflexionsfähigkeit.

In ostdeutschen Hochschulen sind die Studieninhalte und Abschlüsse sowie die Arbeitsfelder und Tätigkeiten die gleichen. Dort heißt es teilweise Rehabilitationspädagogik/Integrationspädagogik.

In Schleswig-Holstein gibt es Studiengänge für Lernbehindertenpädagogik und für Förderpädagogik, die in den ersten Semestern gemeinsame Inhalte haben, weil so viele Übereinstimmungen bestehen:

  • Lernbehinderung als pädagogisches Problem vor dem Hintergrund von Entwicklungsverzögerung
  • Sonderpädagogische Qualifikation und Professionalisierung sollen vor allem in folgenden Bereichen angestrebt werden: Lehrerpersönlichkeit, Erziehung, Unterricht, Diagnostik und konzeptgebundene Förderung, Beratung, Teamkompetenz, Zusammenarbeit mit Institutionen
  • Vermittlung von Förderkompetenzen im Bereich des mathematischen Denkens und des Mathematik-Unterrichts
  • Vermittlung von Förderkompetenzen in den Bereichen Sprache und Schriftsprache
  • Vermittlung von Sachverhalten aus Sachfächern unter erschwerten Bedingungen

Berufsfelder

Berufsmöglichkeiten ergeben sich für Sonderschullehrer oder Förderschullehrer in erster Linie an Förderschulen oder an Schulen mit Integrationsklassen. Diplom-Pädagogen finden in öffentlichen Schulen aus formalrechtlichen Gründen oft keine Anstellung. Sie finden Berufsmöglichkeiten in der Arbeit mit Menschen aller Altersstufen und aller Behinderungen (kognitive/geistige Behinderung, Lernbehinderung, Verhaltens­beeinträchtigung, Sprachbehinderung, Körperbehinderung, Hör- oder Sehbehinderung). Diagnose (Ermittlung von Ort und Umfang sonderpädagogischer Maßnahmen) und Beratung der Betroffenen oder deren Angehörigen sind wesentliche sonderpädagogische Aufgaben.

Für das Kindes- und Jugendalter sind Sonderpädagogen im Bereich der Frühförderung, von Diensten zur Familien­entlastung, in integrativen und Sonder-Kindergärten, in der Sonderschulsozialarbeit, in der Freizeitpädagogik und in Kinderheimen tätig.

Für das Erwachsenen­alter liegen die Tätigkeitsfelder im Wohnbereich (Altenheim, betreutes Wohnen), stationäre und ambulante Begleitung, im Arbeitsbereich (Werkstätten, Arbeitsassistenz, Berufsbildungs- und Berufsförderungswerke), in der Erwachsenenbildung (speziell Erwachsenenbildung für Menschen mit kognitiver Behinderung) und in sogenannten Familienprojekten.

Die in der Berufs­praxis zu bewältigenden Probleme sind so zahlreich wie die Arbeitsfelder. Neben der Anwendung medizinischer, entwicklungspsychologischer und diagnostischer Kenntnisse müssen Sonderpädagogen in der Lage sein, Beziehungen zu Kindern und deren Familien herzustellen. Sonderpädagogik bewegt sich hier im Grenzbereich zur Therapie und erfordert hohe Ethik, Ausgeglichenheit und Lieben­können. Die Arbeit mit den Problemen der Familien und den Verhaltensproblemen der Kinder verlangt ein hohes Maß an Selbstreflexion und Beziehungsfähigkeit (im Sinne einer dialogischen Heilpädagogik, die das medizinische Paradigma in der Sonderpädagogik abgelöst hat). Die Forderungen nach Integration behinderter und nichtbehinderter Kinder sollen langfristig zur Arbeit von Sonderpädagogen in fast allen Regeleinrichtungen führen. Die Förderung von integrativen Prozessen, die nicht naturwüchsig verlaufen, wird dabei eine wichtige Rolle spielen, ebenso die Zusammenarbeit mit den Pädagogen ohne sonderpädagogische Qualifikation.

Im Erwachsenenalter werden sich durch das Normalisierungsprinzip neue institutionelle Erfordernisse ergeben. Selbstbestimmtes Leben und die Integration in die „normale“ Lebenswelt sind Ziele, denen die sonderpädagogische Praxis nachkommen muss. Im Wohn- und Arbeitsbereich gibt es bereits Modellprojekte, die zukunftsweisend sind. Sonderpädagogen werden zu Wohn- und Arbeitsassistenten. Rechtliche Kenntnisse zur Ausschöpfung der bestehenden Unterstützungen und der Realisierung von Projekten sind hier unumgänglich. Der Bereich Erwachsenenbildung nimmt zunehmend größeren Stellenwert ein, da er die notwendigen Voraussetzungen für lebenslanges Lernen und Selbständigkeit von Menschen mit Behinderungen im Erwachsenenalter schafft.

Kritik

Kritiker bezeichnen gerade die von der Sonderpädagogik geprägte Diagnostik (von „Behinderung“ bzw. Fördernotwendigkeiten) als zu ausschließlich defizitsorientiert, sie leite sich auch sehr von im Nationalsozialismus geprägten Begriff- und Gebräuchlichkeiten her. Lernbehinderung sei nicht objektiv messbar, die Sonderpädagogik zu selbstreferentiell. Die sonderpädagogisch geprägte Diagnostik sei verzichtbar:

„Es kann also unter dem Vorzeichen von Inklusion nicht darum gehen, die sonderpädagogische Diagnostik ausgeklügelt zu verfeinern, sie durch standardisierte Programme und Verfahren zu vereinheitlichen und durch verbesserte Kontrollmechanismen weniger „fehleranfällig“ zu machen, um sie damit weiterhin pädagogisch und bildungspolitisch als Spezialdisziplin für Diagnostik zu legitimieren. Sonderpädagogische Diagnostik ist theoretisch und praktisch mit ihrer Verankerung in der Sonderpädagogik und den damit verbundenen aussondernden Strukturen ungeeignet, inklusive Lernprozesse zu unterstützen. Sie ist verzichtbar.“

Siehe auch

Literatur

  • Heinz Bach u. a. (Hrsg.): Handbuch der Sonderpädagogik. 12 Bände. Edition Marhold im Wissenschafts-Verlag Spiess, Berlin 1985–1991.
  • Gottfried Biewer: Grundlagen der Heilpädagogik und Inklusiven Pädagogik (= UTB. 2985). 3., überarbeitete und erweiterte Auflage. Klinkhardt, Bad Heilbrunn 2017, ISBN 978-3-8252-4694-5.
  • Ulrich Bleidick, Sieglind Luise Ellger-Rüttgardt: Behindertenpädagogik – eine Bilanz. Bildungspolitik und Theorieentwicklung von 1950 bis zur Gegenwart. Kohlhammer, Stuttgart 2008, ISBN 978-3-17-020532-1.
  • Markus Dederich: Behinderung, Medizin, Ethik. Behindertenpädagogische Reflexionen zu Grenzsituationen am Anfang und Ende des Lebens. Klinkhardt, Bad Heilbrunn 2000, ISBN 3-7815-1092-1 (Zugleich: Köln, Universität., Habilitations-Schrift).
  • Sieglind Luise Ellger-Rüttgardt: Geschichte der Sonderpädagogik. Eine Einführung (= UTB. 8362). Reinhardt, München u. a. 2008, ISBN 978-3-8252-8362-9.
  • Stephan Ellinger, Roland Stein (Hrsg.): Grundstudium Sonderpädagogik (= Lehren und Lernen mit behinderten Menschen. 9). 2., überarbeitete und erweiterte Auflage. ATHENA, Oberhausen 2006, ISBN 3-89896-267-9.
  • Urs Haeberlin: Heilpädagogik als wertgeleitete Wissenschaft. Ein propädeutisches Einführungsbuch in Grundfragen einer Pädagogik für Benachteiligte und Ausgegrenzte (= Beiheft zur Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete. 20). Haupt, Bern u. a. 1996, ISBN 3-258-05302-2.
  • Ingeborg Hedderich, Gottfried Biewer, Judith Hollenweger, Reinhard Markowetz (Hrsg.): Handbuch Inklusion und Sonderpädagogik (= UTB. 8643). Klinkhardt, Bad Heilbrunn 2016, ISBN 978-3-8252-8643-9.
  • Ulrich Hensle, Monika A. Vernooij: Einführung in die Arbeit mit behinderten Menschen. Band 1: Theoretische Grundlagen (= UTB. 936). 6., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Quelle und Meyer, Wiebelsheim 2000, ISBN 3-494-02257-7.
  • Jürg Jegge: Dummheit ist lernbar. (Erfahrungen mit „Schulversagern“). 7. Auflage. Zytglogge, Bern 1976, ISBN 3-7296-0058-3.
  • Ernst J. Kiphard: Motopädagogik (= Psychomotorische Entwicklungsförderung. Band 1). 8., verbesserte und erweiterte Auflage. Modernes Lernen, Dortmund 1998, ISBN 3-8080-0410-X.
  • Emil E. Kobi: Grundfragen der Heilpädagogik. Eine Einführung in heilpädagogisches Denken. 6., bearbeitete und ergänzte Auflage. BHP, Berlin 2004, ISBN 3-936649-07-3.
  • Karl Leitner: Sehnsucht nach Sicherheit. Problemverhalten bei Menschen mit Behinderung. selbstbestimmtes leben, Düsseldorf 2007, ISBN 978-3-910095-68-7.
  • Andreas Möckel: Geschichte der Heilpädagogik oder Macht und Ohnmacht der Erziehung. 2., völlig überarbeitete Neuauflage. Klett-Cotta, Stuttgart 2007, ISBN 978-3-608-94489-1.
  • Vera Moser: Konstruktion und Kritik. Sonderpädagogik als Disziplin. Leske + Budrich, Opladen 2003, ISBN 3-8100-3794-X.
  • Günther Opp, Franz Peterander (Hrsg.): Focus Heilpädagogik. Projekt Zukunft. Reinhardt, München u. a. 1996, ISBN 3-497-01391-9.
  • Eckhard Rohrmann: Mythen und Realitäten des Anders-Seins. Gesellschaftliche Konstruktionen seit der frühen Neuzeit. VS – Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2007, ISBN 978-3-531-15527-2.
  • Brigitte Schumann: Streitschrift Inklusion. Was Sonderpädagogik und Bildungspolitik verschweigen. Debus Pädagogik, Frankfurt am Main 2018, ISBN 978-3-95414-106-7.[22]
  • Svetluse Solarová (Hrsg.): Geschichte der Sonderpädagogik. Kohlhammer, Stuttgart u. a. 1983, ISBN 3-17-007307-9 (http://www.pedocs.de/volltexte/2013/7018/ (pedocs.de)).
  • Otto Speck: Menschen mit geistiger Behinderung. Ein Lehrbuch zur Erziehung und Bildung. 11., überarbeitete Auflage. Reinhardt, München u. a. 2012, ISBN 978-3-497-02285-4.
  • Georg Theunissen, Wolfgang Plaute: Handbuch Empowerment und Heilpädagogik. Lambertus, Freiburg (Breisgau) 2002, ISBN 3-7841-1336-2.
  • Günther Thomé, Dorothea Thomé: OLFA 3–9. Oldenburger Fehleranalyse für die Klassen 3–9. Instrument und Handbuch zur Ermittlung der orthographischen Kompetenz und Leistung aus freien Texten und für die Planung und Qualitätssicherung von Fördermaßnahmen. Mit Farbmarkierung der Entwicklungsphasen. Mit einer OLFA-Liste für die Schweiz. Mit Kopiervorlagen. 6., bearbeitete Auflage. Isb – Institut für sprachliche Bildung, Oldenburg 2020, ISBN 978-3-94212222-1 (Förderdiagnostik bei Rechtschreibstörung und Rechtschreibschwäche (LRS, Legasthenie)).
  • Herbert Wagner: Segregation und Stigmatisierung im Bildungssektor. Sonderschüler und Regelschüler im strukturellen Vergleich (= Raum und Stigma. 2 = Bad Bentheimer Arbeitsberichte und Studien zur sozialräumlichen Bildungsforschung. 4). Forschungsstelle für Internationale Sozialräumliche Bildungsforschung und ihre Didaktik, Bad Bentheim 1986, ISBN 3-88683-006-3.
  • Herbert Wagner: Bildungsbiographien Lernbehinderter. Eine regionale Längsschnittuntersuchung der Bedingungen und Ergebnisse schulischer Sozialisation (= Raum und Stigma. 4 = Bad Bentheimer Arbeitsberichte und Studien zur sozialräumlichen Bildungsforschung. 6/7). Forschungsstelle für Internationale Sozialräumliche Bildungsforschung und ihre Didaktik, Bad Bentheim 1986, ISBN 3-88683-014-4.
  • Birgit Werner: Sonderpädagogik im Spannungsfeld zwischen Ideologie und Tradition. Zur Geschichte der Sonderpädagogik unter besonderer Berücksichtigung der Hilfsschulpädagogik in der SBZ und der DDR zwischen 1945 und 1952 (= Schriftenreihe Studien zur Schulpädagogik. 18). Kovač, Hamburg 1999, ISBN 3-86064-946-9 (Zugleich: Leipzig, Universität, Dissertation, 1999).

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Gottfried Biewer: Grundlagen der Heilpädagogik und Inklusiven Pädagogik (= UTB. 2985). 2., durchgesehene Auflage. Klinkhardt, Bad Heilbrunn 2010, ISBN 978-3-8252-2985-6, S. 27–32.
  2. UNESCO: Guidelines for Inclusion. Ensuring Access to Education for All. UNESCO, Paris 2005.
  3. Der Hilfsschulverband ist bereits 1898 unter anderen von Heinrich Strakerjahn als Verband der Hilfsschulen Deutschlands gegründet worden.
  4. a b Brigitte Schumann: Neubewertung der sonderpädagogischen Geschichte? Rezension zu Dagmar Hänsel: Sonderschullehrerausbildung im Nationalsozialismus. Bad Heilbrunn 2014. Auf: bildungsklick.de. 8. Dezember 2014, abgerufen am 10. Dezember 2014.
  5. Ellger-Rüttgardt: Geschichte der Sonderpädagogik. Eine Einführung. 2008, S. 293 ff.
  6. Sieglind Ellger-Rüttgard: Geschichte der sonderpädagogischen Institutionen. In: Klaus Harney, Heinz-Hermann Krüger (Hrsg.): Einführung in die Geschichte der Erziehungswissenschaft und Erziehungswirklichkeit (= Einführungskurs Erziehungswissenschaft. 3 = UTB. 8109). 3., erweiterte und aktualisierte Auflage. Budrich, Opladen u. a. 2006, ISBN 3-938094-59-1, S. 269–290, hier S. 280.
  7. Dagmar Hänsel: Die NS-Zeit als Gewinn für Hilfsschullehrer. Klinkhardt, Bad Heilbrunn 2006, ISBN 3-7815-1491-9, S. 118 f.
  8. a b Birgit Werner: Sonderpädagogik im Spannungsfeld zwischen Ideologie und Tradition. 1999, S. 18 f.
  9. Birgit Werner: Sonderpädagogik im Spannungsfeld zwischen Ideologie und Tradition. 1999, S. 19.
  10. Ellger-Rüttgardt: Geschichte der Sonderpädagogik. Eine Einführung. 2008, S. 321.
  11. a b Birgit Werner: Sonderpädagogik im Spannungsfeld zwischen Ideologie und Tradition. 1999, S. 21.
  12. Birgit Werner: Sonderpädagogik im Spannungsfeld zwischen Ideologie und Tradition. 1999, S. 22.
  13. In der deutschen Übersetzung werden durchgängig die englischen Begriffe des Originaldokuments Inclusion bzw. inclusive mit Integration, integrativ usw. übersetzt.
  14. Die Salamanca Erklärung und der Aktionsrahmen zur Pädagogik für besondere Bedürfnisse. (Memento vom 28. Februar 2013 im Internet Archive) In: unesco.at, 29. Dezember 2011 (PDF; 66 kB).
  15. 20 Jahre Grundgesetzergänzung. In: netzwerk-artikel-3.de, 15. November 2014.
  16. Neue Fragen zur Inklusion. (Memento vom 19. Juli 2011 im Internet Archive)
  17. Dieter Katzenbach, Joachim Schroeder: „Ohne Angst verschieden sein können“. Über Inklusion und ihre Machbarkeit. In: inklusion-online.net, Zeitschrift für Inklusion, Ausgabe 1-2007. Abgerufen am 10. Dezember 2014.
  18. Jürgen Kleinschnitger: Welche Perspektive haben Förderschulen?. Westdeutscher Rundfunk, 23. Februar 2017.
  19. Wolfgang Rhein: Arbeit und Behinderung. Konrad-Adenauer-Stiftung. 2013, S. 312
  20. Kultusministerkonferenz: Bekanntmachung der KMK - Empfehlungen zum Förderschwerpunkt Lernen. Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 1.10.1999
  21. Niedersächsisches Kultusministerium: Förderschule und Förderzentrum
  22. Arno Rädler: Brigitte Schumann: Streitschrift Inklusion – eine Rezension. (7. März 2018).