Stig Dagerman

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Stig Dagerman

Stig Halvard Dagerman (* 5. Oktober 1923 in Älvkarleby; † 4. November 1954 in Enebyberg bei Stockholm) war ein schwedischer Journalist und Schriftsteller.

Leben

Stig Dagerman, Sohn eines Sprengmeisters und einer Telefonistin, wuchs bei den Großeltern väterlicherseits auf. Seine Mutter hatte ihn gleich nach seiner Geburt verlassen. Der Vater kümmerte sich wenig um ihn. Der bäuerliche Alltag auf Norrgärdet, einem kargen, ärmlichen Hof am sandigen Ufer des Dalälven, prägte seine Kindheit. Diesen Lebensabschnitt schilderte er später als glücklich, aber nicht sorgenfrei: „Zinsen war eines der ersten Worte, die ich lernte, und ich weiß, wenn ein Haus bis über die Dachbalken verschuldet ist, dann ist es nicht nur eine Phrase.“[1] Ebenso tiefe Spuren in seinen Werken hinterließen die Erfahrungen als Jugendlicher. Über allem lag der Schatten einer „Wahnsinnstat“: Sein Großvater wurde 1940 von einem Psychopathen erstochen. Dagerman fühlte sich verlassen. Auf dem Gymnasium in Stockholm verspotteten ihn die Mitschüler als plumpen Bauernjungen. An den Wochenenden trug er Zeitungen aus. Ein Schulwettbewerb für Literatur sollte ihn aufmuntern: Dagerman gewann einen einwöchigen Aufenthalt in den Bergen. Doch die Reise endete tragisch, als ein Freund und Zimmergenosse bei einem Lawinenunglück starb.

Am Ende der Schulzeit erkannte Dagerman seine Berufung, als Schriftsteller und Journalist zu arbeiten.[2] In Stockholm schloss er sich der syndikalistischen Gewerkschaft Sveriges Arbetares Centralorganisation (SAC) an und schrieb bis zu seinem Tod für deren Wochenzeitung Arbetaren Kolumnen, Reportagen und Artikel. Auf literarischem Gebiet gelang ihm mit 22 Jahren sein Debüt. In Die Schlange schildert Dagerman das Entsetzen vor dem Inferno einer von Krieg und Barbarei zerrütteten Welt und seine bedrückenden Erlebnisse während seines Militärdienstes. Im Spätherbst 1946 machte Dagerman im Auftrag der Zeitung Expressen eine Reise in das kriegszerstörte Deutschland. Er berichtete in zwölf Zeitungsartikeln von dieser Reise und sie erschienen gesammelt im Mai 1947.[3] Das Buch wurde nach dem Erscheinen ausgiebig besprochen, zum größten Teil sehr positiv. In der Zeitschrift Veckojournal äußerte Stig Ahlgren, das Buch sei „in den visuellen Partien ein Höhepunkt der schwedischen Reportage“.[3] Im Jahre 2009 drehte Regisseur Michael Gaumnitz auf der Basis der Reiseberichte 1946, Herbst in Deutschland.[4]

Der Schwede wurde über die Grenzen seiner Heimat hinaus bekannt und stürzte sich in seine produktivste Schaffenszeit. Bis 1947 verfasste er mehrere Novellen und Romane. Die letzten Abschnitte von Die Insel der Verdammten, gedruckt etwa 60 Seiten, soll er in einer vierzehnstündigen Sitzung in einem Zuge getippt haben.[5]

Es folgten Jahre der persönlichen Krise. Seine finanziellen Angelegenheiten entglitten ihm. Eine Schreibblockade kam hinzu: „Ich habe keine Philosophie, in welcher ich mich bewegen könnte wie der Vogel in den Lüften und der Fisch im Wasser. Alles was ich besitze ist ein Zweikampf, und in jedem Augenblick meines Lebens tobt dieser Zweikampf zwischen den falschen Tröstungen, die bloß die Ohnmacht steigern und meine Verzweiflung vertiefen, und diesen echten Tröstungen, die mich hinführen zu einer flüchtigen Befreiung“, schrieb er damals über sich.[6] Nach diversen Suizidversuchen setzte Dagerman am 4. November 1954 seinem Leben ein Ende, indem er in seiner abgeschlossenen Garage den Automotor laufen ließ. Die 1953 mit der Schauspielerin Anita Björk geschlossene Ehe, aus der eine Tochter hervorging, war zu jenem Zeitpunkt bereits gescheitert.

Stig Dagermans Biografie und seine Werke bilden ein Motiv in Siegfried Lenz’ Roman Die Klangprobe. An seinem Geburtsort bewahrt die Stig Dagermansällskap das Andenken an den Schriftsteller. Sie verleiht seit 1996 jährlich den Stig-Dagerman-Preis. Zu seinen Empfängern zählten bisher u. a. Elfriede Jelinek, Lukas Moodysson und Jean-Marie Gustave Le Clézio.

Werke

  • Ein Kind töten. In: Spiele der Nacht. Erzählungen. Dtv, München 1964.
  • Ormen. 1945 (deutsch: Die Schlange)
  • De dömdas ö. 1946.
  • Tysk höst. Resereportage från Tyskland 1946. 1947 (häufige Neuauflagen in skandinavischen Sprachen bis heute).
    • Übers. Günter Barudio: Deutscher Herbst. Reisereportagen aus Deutschland 1946. Barudio und Hess, Frankfurt 1979.
    • Übers. Jörg Scherzer: Deutscher Herbst. Reiseschilderung. Bibliothek Suhrkamp, 924. Frankfurt 1987.
    • Übers. Paul Berf (mit einer Briefauswahl): Deutscher Herbst. Guggolz, Berlin 2021, ISBN 978-3-945370-31-5.
  • Europa in Trümmern. Essays (auch als: Europa in Ruinen. Augenzeugenberichte aus den Jahren 1944–1948). Hrsg. Hans-Magnus Enzensberger. Die Andere Bibliothek, 65. Eichborn, Frankfurt 1993 u. ö.
  • Nattens lekar. Erzählungen, Stockholm 1947.
  • Dramer om dömda. Theaterstück, 1947.
  • Att döda ett barn. Erzählung, 1948.
  • Skuggan av Mart. Theaterstück, 1948.
  • Streber. Theaterstück, 1948.
  • Ett barns memoarer. Erzählung, 1948.
  • Överraskningen. Erzählung, 1948.
  • Bränt barn. 1948 (deutsch 1983: Gebranntes Kind, Roman).
  • Ingen går fri. Theaterstück, 1949.
  • Bröllopsbesvär. 1949.
    • Übers. Herbert G. Hegedo: Schwedische Hochzeitsnacht. Die Andere Bibliothek, 304. Eichborn, Frankfurt am Main 2010, ISBN 978-3-8218-6230-9.
  • Den ytttersta dagen. Theaterstück, 1952.
  • Dagsedlar. Gedichte, 1954.

Hörspiel

  • Unser kurzer Sommer. Aus dem Schwedischen von Verena Reichel. Produktion: SDR/NDR 1970.[7]

Filmographie

Literarische Vorlage
  • 1953 und 2003: Ein Kind töten (Att döda ett barn)
  • 1964: Die schwedische Hochzeitsnacht (Bröllopsbesvär)
  • 1967: Ich – seine Geliebte (Bränt barn)
  • 2008: Spiele der Nacht (Nattens lekar)
Drehbuchverfilmung
  • 1965: Die Schlange (Ormen)
Biographische Dokumentation
  • 2011: Unser Verlangen nach Trost ist unersättlich (Vårt behov av tröst är omättligt)

Literatur

  • Olof Lagercrantz: Stig Dagerman. Stockholm 1958, erneuert 1967.
  • Agneta Pleijel: Djuret och skräcken. En studie i Stig Dagermans författerskap. In: Samalaren, 86, 1965, Seite 96–114.
  • Arma Sastamoinen (Hrsg.): Stig Dagerman och syndikalismen. Stockholm 1974.
  • Hans Sandberg: Stig Dagerman – författare och journalist. Stockholm 1975.
  • Hans Sandberg: Den politiske Stig Dagerman. Tre studier. Stockholm 1979.
  • Laurie Thompson: Stig Dagerman and Politics. In: Scandinavica. 1/1980, Seite 39–55.
  • Georges Perilleux: Stig Dagerman et l’existentialisme. Paris 1982.
  • Laurie Thompson: Stig Dagerman. Boston 1983.
  • Kerstin Laitinen: Begärets irrvägar. Existentiell tematik i Stig Dagermans texter. Umeå 1986.
  • Gösta Werner: De grymma skuggorna: en studie i Stig Dagermans författarskap och dess relationer till filmen som medium. Stockholm 1986.
  • Georges Perilleux: Stig Dagerman: le mythe et l’œuvre. Paris 1993.
  • Björn Ranelid: Mitt namn skall vara Stig Dagerman. Roman. Bonnier Alba, Stockholm 1993, ISBN 91-7643-077-4.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Stig Dagerman: Memoiren eines Kindes. In: Ders.: Der Mann, der nicht weinen wollte. Leipzig 1988, S. 145.
  2. Günter Gentsch: Nachwort. In: Stig Dagerman: Der Mann, der nicht weinen wollte. Leipzig 1988, S. 154.
  3. a b Vgl. Hans Sundberg, Kommentar S. 123 in der Ausgabe: Stig Dagerman: Tysk Höst – Reseskildring med kommentarer av Hans Sundberg. Norstedts, Stockholm 1996, ISBN 91-1-952312-2.
  4. 1946, Herbst in Deutschland (2009). In: Online-Filmdatenbank (OFDb). 22. Oktober 2009, abgerufen am 19. August 2019.
  5. Beat Mazenauer: Stig Dagerman (1923–1954): Der untröstliche Glückssucher. In: beatmazenauer.ch. Archiviert vom Original am 22. September 2018; abgerufen am 27. August 2021.
  6. Marc Lippuner: Die Kälte der Mittsommernacht. In: Neon.de. 3. November 2004, archiviert vom Original am 29. März 2017; abgerufen am 27. August 2021.
  7. Unser kurzer Sommer. In: Deutschlandfunk.de. 25. Juli 2017 (Termin der Wiederholungsausstrahlung), abgerufen am 26. Juli 2017.