Suizidalität

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Klassifikation nach ICD-10
R45.8 Suizidalität; sonstige Symptome, die die Stimmung betreffen
Z91.8 Suizidversuch; sonstige näher bezeichnete Risikofaktoren in der Eigenanamnese, anderenorts nicht klassifiziert
ICD-10 online (WHO-Version 2019)
Lebensmüder, Studie von Ferdinand Hodler, 1882

Suizidalität, auch Suizidgefährdung oder umgangssprachlich Lebensmüdigkeit genannt, umschreibt einen psychischen Zustand, in dem Gedanken, Phantasien, Impulse und Handlungen anhaltend, wiederholt oder in bestimmten krisenhaften Zuspitzungen darauf ausgerichtet sind, gezielt den eigenen Tod herbeizuführen. Die Suizidologie beschäftigt sich als wissenschaftliche Fachrichtung mit der Erforschung von Suizidalität und suizidalen Geschehnissen.

Es besteht eine graduelle Differenzierung zwischen Suizidgedanken ohne den Wunsch nach Selbsttötung – die ebenfalls zur Suizidalität zählen – und drängenden Suizidgedanken mit konkreten Absichten, Plänen bis hin zu Vorbereitungen eines Suizids.

Suizidalität ist keine Krankheit, sondern Symptom eines zugrundeliegenden Problems. Sie kann als Zuspitzung einer seelischen Entwicklung bestehen, in der Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit überhandgenommen haben. Suizidale Menschen erleben sich häufig als innerlich zerrissen und stehen ihrem Wunsch zu sterben oftmals ambivalent gegenüber. Einerseits empfinden die Betroffenen ihr Leben als unerträglich leidvoll und wollen es daher beenden, andererseits spüren viele eine Art Selbsterhaltungstrieb, Furcht vor starken Schmerzen im Rahmen eines Suizidversuchs sowie allgemein große Unsicherheit in Bezug auf die Konsequenzen ihres Handelns. Eine Möglichkeit, ihr derzeitiges Leben zu ändern, es neu zu beginnen, ist bei akuter Suizidalität nicht zu erkennen; der Suizid erscheint dieser Personengruppe als der einzige Ausweg.

Da sich Suizidalität sehr unterschiedlich äußern – oder nicht äußern – kann, gerät der Versuch einer Einschätzung, wie akut die Suizidalität oder wie ausgeprägt die Selbsttötungstendenz eines Menschen ist, zu einem oft schwierigen, manchmal gar aussichtslosen Unterfangen, vor allem bei jenen Menschen, die Hilfsangeboten – aus welchen Gründen auch immer – ablehnend gegenüberstehen. Bei akuter Suizidalität, in der der Betroffene möglicherweise bereits konkrete Pläne und Vorbereitungen getroffen hat, sich von seinen Absichten nicht distanzieren und keine Absprachen eingehen kann (z. B. versichern, am nächsten Tag den Therapeuten anzurufen), liegt im Rahmen der Fürsorgepflicht eine Indikation für die Zwangseinweisung in eine psychiatrische Klinik vor.

Bei der Einschätzung bzw. Diagnostik der Suizidalität sind folgende Gesichtspunkte von Bedeutung:[1]

  • Präsuizidales Syndrom: Einengung, Aggressionsumkehr, Suizidfantasien
  • Risikofaktoren: Psychische Krankheit (insbesondere Depression, Sucht oder Schizophrenie in der akuten Phase), psychosoziale Krisen (Trennung, Tod einer nahestehenden Person), wenig soziale Beziehungen, vorhergehende Suizidversuche, Suizide in der Familie
  • Aktuelle Befindlichkeit: Hoffnungslosigkeit, Angst, Schlaflosigkeit, Freudlosigkeit, Impulsivität und akute Lebensbelastungen: gestörte Krankheitsverarbeitung, unerträgliche Erinnerungen, negative Einschätzung der Lebensumstände, Resignation
  • Trennungserfahrungen: gescheiterte Partnerschaft, Tod eines Angehörigen, Kränkung, Entwicklungskrisen, Entlassung aus stationärer psychiatrischer und psychotherapeutischer Behandlung

Als eine Sondergruppe der Suizidalität kann man den Sterbewunsch von Menschen sehen, die angesichts von Altersschwäche, Altersbeschwerden oder einer tödlich verlaufenden unheilbaren Krankheit sterben möchten. Nicht selten verweigern solche Menschen die Aufnahme von Nahrung und/oder Flüssigkeit; ihre Angehörigen und Ärzte stehen dann vor der Frage, ob ein solcher Mensch zurechnungsfähig ist (siehe auch mutmaßlicher Wille, Patientenverfügung, künstliche Ernährung).

Fragebögen zur Einschätzung der Suizidalität

Es gibt mehrere Fragebögen zur Selbst- und Fremdbeurteilung:[2]

  • NGASR – Nurses Global Assessment of Suicide Risk (16 Fragen)[3]
  • SSF-II – Suicide Status Form[4]
  • BSSI – (19 Fragen)
  • Beck Skala für Selbstmordgedanken (SBQ-R|SBQ-R, Fragebogen zur Erfassung suizidalen Verhaltens (4 Fragen))
  • Reasons for Living Inventory (RFL)
  • Beck Hoffnungslosigkeitsskala (BHS)
  • INQ – Interpersonal Needs Questionnaire
  • ACSS – Acquired Capability for Suicide Scale
  • TASR – Tool for Assessment of Suicide Risk[5]
  • SSI – Scale for Suicidal Ideation (19 Fragen)[6]
  • SIS – Suicide Intent Scale (15 Fragen)[6]
  • LSARS – Lethality of Suicide Attemt Rating Scale[6]
  • LASPC – Los Angeles Suicide Prevention Scale[6]
  • SDPS – Suicidal Death Prediction Scale[6]
  • SD – SAD Persons Scale[6]
  • SIQ – Suicidal Ideation Questionnaire[6]
  • SRAS – Suicide Risk Assessment Scale[6]
  • SASR – Scale for Assessing Suicidal Risk[6]
  • SPS – Suicide Probability Scale[6]

Ätiologiemodelle

Es gibt verschiedene Modelle zur Entstehung suizidaler Gedanken oder suizidalen Verhaltens:[7][8]

  • Phasenmodell der suizidalen Entwicklung (Pöldinger 1968)
  • Cubic Modell of Suicide (Shneidman, 1989)
  • Escape-Theorie (Baumeister, 1990)
  • Cry of Pain-Modell (Williams 2001)
  • Fluid Vulnerability Theory of Suicide (Rudd, 2006)
  • Kognitives Modell suizidaler Handlungen (Wenzel und Beck, 2008)
  • Interpersonale Theorie suizidalen Verhaltens (Joiner 2005): Passive Suizidwünsche könnten entweder durch fehlendes Zugehörigkeitserleben zu einer Gruppe oder die Annahme eine Last für andere zu sein entstehen. Lägen beide Komponenten zugleich vor könnten sich aktive Suizidwünsche entwickeln. Ausschlaggebend dafür, ob ein Suizidversuch unternommen würde, sei ob als dritte Komponente eine Furchtlosigkeit vor Schmerz, Sterben und Tod besteht. Diese Furchtlosigkeit vor Schmerz und Tod könne eventuell durch Gewöhnung (Habituation) an wiederholt erlebte schmerzhafte oder ängstigende Erfahrungen entstehen, wie Selbstverletzung, Traumatisierungen oder Drogenmissbrauch.
  • Integratives motivational-volitionales Modell suizidalen Verhaltens (O’Connor, 2011)

Therapie

Zur psychotherapeutischen Behandlung von Suizidalität gibt es verschiedene Ansätze:

  • Motivierende Gesprächsführung[9][10]: Hierbei soll versucht werden, vergessene Gründe für das Leben wieder herauszuarbeiten oder neue Gründe zu entwickeln. Britton, Patrick, Wenzel und Williams (2011)[11] schlagen vor, zunächst die Gründe für das Sterben und gegen das Leben zu erkunden, um die Aufnahmebereitschaft des Patienten zu erhöhen und erst im zweiten Schritt die Gründe für das Leben und gegen das Sterben zu erfragen. Um Gründe für das Leben zu entwickeln, können ergänzende Strategien eingesetzt werden, beispielsweise zu fragen, wie ein gutes Leben später aussehen würde oder ob es Momente gab, in denen das Leben wichtiger war. Auch die Frage, wie wichtig das Leben auf einer Skala von 0 (gar nicht wichtig) bis 10 (extrem wichtig) ist, kann den Einstieg in die Exploration von Gründen zu Leben bieten. Wenn eine Zahl größer 0 genannt wird, kann gefragt werden, aus welchen Gründen keine 0 gewählt wurde. Wurde 0 genannt, lässt sich fragen, was sich ändern müsste, damit man einen höheren Wert wählen würde.[2]
  • Kognitive Therapie suizidalen Verhaltens nach Wenzel, Brown und Beck (2009)[12]
  • Verhaltenstherapeutische Strategien wie Kontingenzmanagement oder Stimuluskontrolle[13]: Im Rahmen der Dialektisch-Behavioralen Therapie[14][15] wird in einer Verhaltensanalyse zunächst untersucht, ob Suizidgedanken, die Mitteilungen oder die Vorbereitungen zu einem Suizid operantes oder respondentes Verhalten darstellen. Häufig seien bei Borderline-Patienten suizidale Verhaltensweisen sowohl respondent als auch operant. Bezüglich operantem Verhalten werden Strategien wie Kontingenzmanagement eingesetzt. Hierbei sei zu bedenken, eine bestimmte Reaktion könne zwar das kurzfristige Suizidrisiko verringern, jedoch die Wahrscheinlichkeit für einen zukünftigen Suizid durch positive Verstärkung langfristig erhöhen. Deswegen müsse das Verhalten umso aktiver sein, je höher das Suizidrisiko ist. Eine Schwierigkeit bestünde darin, dass die Patienten ihr Verhalten immer soweit verstärken könnten, bis der Therapeut doch interveniert. Weil bei neuen Patienten noch nicht bekannt ist, ob das Verhalten operant ist und welche Funktion es hat, müsse das Vorgehen anfangs viel konservativer und aktiver sein, um das kurzfristige Suizidrisiko gering zu halten. Bei respondentem suizidalem Verhalten sollte der Therapeut die auslösenden Ereignisse beenden sowie vermitteln, wie der Patient diese Ereignisse zukünftig vermeiden kann (Stimuluskontrolle) und alternatives Verhalten verstärken.

Literatur

  • T. Forkmann, T. Teismann, H. Glaesmer: Diagnostik von Suizidalität. Hogrefe Verlag, Göttingen 2016, ISBN 978-3-8017-2639-3.
  • Thomas Bronisch, Paul Götze, Armin Schmidtke u. a. (Hrsg.): Suizidalität. Ursachen, Warnsignale, therapeutische Ansätze. Schattauer, Stuttgart 2002, ISBN 3-7945-2008-4.
  • Heinz Henseler, Christian Reimer (Hrsg.): Selbstmordgefährdung. Zur Psychodynamik und Psychotherapie. Stuttgart-Bad Cannstatt 1981.
  • Heinz Henseler: Narzisstische Krisen. Zur Psychodynamik des Selbstmords. Wiesbaden 1974.
  • Walter Pöldinger: Die Abschätzung der Suizidalität. Huber, Bern 1969.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Reinhard Lindner, Georg Fiedler, Paul Götze: Diagnostik der Suizidalität. In: Dtsch Arztebl., Band 100, Heft 15, 2003, S. A 1004–1007.
  2. a b Tobias Teismann, Wolfram Dorrmann: Suizidalität. Hogrefe, 2014, ISBN 978-3-8409-2436-1, S. 20–23 und 49–52 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  3. Heike Ulatowski: Pflegeplanung in der Psychiatrie: Eine Praxisanleitung mit Formulierungshilfen. Springer, 2016, ISBN 978-3-662-48546-0, S. 130 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  4. Susanne Schewior-Popp, Franz Sitzmann, Lothar Ullrich: Thiemes Pflege (großes Format): Das Lehrbuch für Pflegende in Ausbildung. Georg Thieme, 2012, ISBN 978-3-13-152442-3, S. 1146 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  5. Sonia Chehil, Stan Kutcher: Das Suizidrisiko. Abschätzung der Suizidalität und Umgang mit Suizidalität. Hans Huber, Bern 2013, ISBN 978-3-456-85197-6, S. 99–103.
  6. a b c d e f g h i j Frank M. Dattilio, Arthur Freeman: Cognitive-Behavioral Strategies in Crisis Intervention. 3. Auflage. Guilford Press, 2012, ISBN 978-1-4625-0874-7, S. 38–39 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  7. Thomas Forkmann, Tobias Teismann, Heide Glaesmer: Diagnostik von Suizidalität. Hogrefe, 2015, ISBN 978-3-8444-2639-7 (google.de).
  8. Tobias Teismann, Christoph Koban, Franciska Illes, Angela Oermann: Psychotherapie suizidaler Patienten: Therapeutischer Umgang mit Suizidgedanken, Suizidversuchen und Suiziden. Hogrefe, 2017, ISBN 978-3-8444-2584-0 (google.de).
  9. Herry Zerler: Motivierende Gesprächsführung und Suizidalität. In: Hal Arkowitz, Henny A. Westra, William R. Miller, Stephen Rollnick (Hrsg.): Motivierende Gesprächsführung bei der Behandlung psychischer Störungen. Beltz, Weinheim 2010, ISBN 978-3-621-27705-1, S. 183–204.
  10. Suizidprophylaxe Nr. 167 – S. Roderer Verlag. Abgerufen am 20. April 2017.
  11. P. Britton, H. Patrick, A. Wenzel, G Williams: Integrating Motivational Interviewing and Self-Determination Theory With Cognitive Behavioral Therapy to Prevent Suicide. In: Cognitive and Behavioral Practic. Band 18, 2011, S. 16–27 (selfdeterminationtheory.org [PDF]).
  12. Tobias Teismann, Christoph Koban, Franciska Illes, Angela Oermann: Psychotherapie suizidaler Patienten: Therapeutischer Umgang mit Suizidgedanken, Suizidversuchen und Suiziden. Hogrefe Verlag, 2017, ISBN 978-3-8444-2584-0 (google.de).
  13. Jürgen Margraf (Hrsg.): Verhaltenstherapie: 2: Störungen des Erwachsenenalters. Springer, Berlin 2013, ISBN 978-3-662-08348-2, S. 138–148 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  14. Birger Dulz, Otto F. Kernberg: Handbuch der Borderline-Störungen. Schattauer Verlag, 2011, ISBN 978-3-7945-2472-3, S. 410 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  15. Marsha M. Linehan: Dialektisch-Behaviorale Therapie der Borderline-Persönlichkeitsstörung. CIP-Medien, München 2008, ISBN 978-3-932096-61-7, S. 353–373.