Thorsten Kingreen

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Thorsten Kingreen (Aussprache: [kɪngreːn]; * 13. Mai 1965 in Bremen) ist ein deutscher Rechtswissenschaftler (Staats- und Verwaltungsrechtler). Er hat seit 2003 einen Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Sozialrecht und Gesundheitsrecht an der Universität Regensburg inne.

Leben und Berufsweg

Kingreen wuchs in Hagen auf. Nach dem Abitur 1984 und dem Grundwehrdienst in Rheine und Seeth (Nordfriesland) studierte er Rechtswissenschaften an der Philipps-Universität in Marburg und an der Universität Genf. Die Erste Juristische Staatsprüfung bestand Kingreen 1992. Anschließend wurde er Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Öffentliches Recht an der Juristischen Fakultät in Marburg bei Bodo Pieroth. Mit diesem wechselte er 1993 an die Westfälische Wilhelms-Universität nach Münster. Dort wurde Kingreen 1995 mit der Bestnote „summa cum laude“ zum Doktor der Rechte promoviert.

Der zweijährige juristische Vorbereitungsdienst im Bezirk des Oberlandesgerichts Düsseldorf und Stationen an der Deutschen Botschaft in Tel Aviv und dem Deutschen Vertretungsbüro für die Palästinensischen Gebiete in Jericho endete im Juni 1996 mit der Zweiten Juristischen Staatsprüfung.

Danach kehrte Kingreen an das Institut Pieroths zurück, wo er als Wissenschaftlicher Assistent tätig war. Im Jahr 2001 hat ihn die Rechtswissenschaftliche Fakultät in Münster habilitiert. Er erhielt die Lehrbefugnis für Öffentliches Recht, Europarecht und Sozialrecht. Nach einem Ruf an die Universität Bielefeld im Jahr 2002 wechselte Kingreen im folgenden Jahr an die Universität Regensburg, wo er seitdem den Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Sozialrecht und Gesundheitsrecht innehat.

Kingreen ist seit 1994 mit der promovierten Archäologin Stephanie Dimas verheiratet. Das Paar hat drei Kinder. Kingreen ist evangelisch.

Juristisches Wirken

Kingreen kommentierte in der Neuen Juristischen Wochenschrift den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Dezember 2005[1] zum grundrechtlichen Anspruch auf Leistungen der Gesundheitsversorgung, den er als „Nikolaus-Beschluss“ titulierte.[2][3] Vor der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer berichtete Kingreen auf der Tagung 2010 in Berlin über das Thema Knappheit und Verteilungsgerechtigkeit im Gesundheitswesen.[4]

Seit der 2013 erschienenen 29. Auflage bearbeitet Kingreen gemeinsam mit Ralf Poscher das von Bodo Pieroth und Bernhard Schlink begründete Lehrbuch Grundrechte – Staatsrecht II. Im Jahr darauf übernahmen Kingreen und Poscher auch die Autorschaft des von Pieroth, Schlink und Michael Kniesel begründeten Lehrbuchs zum Polizei- und Ordnungsrecht.

Kingreen bezeichnete die 2018 wiedererrichtete Bayerische Grenzpolizei in einem Beitrag für die Süddeutsche Zeitung als „klar verfassungswidrig“, da der Bund die alleinige Zuständigkeit für den Grenzschutz habe.[5] Anschließend war er neben Sophie Schönberger Prozessvertreter der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Bayerischen Landtag bei ihrer Klage vor dem Bayerischen Verfassungsgerichtshof gegen die Errichtung der Grenzpolizei. Das Verfassungsgericht gab dieser Klage zum Teil statt.[6]

Pandemiegutachten

Im Streit um Aufhebung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite während der COVID-19-Pandemie in Deutschland äußerte sich Kingreen im September 2020 als Experte gegenüber dem Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestages. Er erklärte, dass die Feststellung der epidemischen Notlage ein verfassungsrechtlich hochgradig problematisches Ausnahmerecht auslöse: „Die Ermächtigung des BMG, in Rechtsverordnungen Ausnahmen und Abweichungen von nicht näher eingegrenzten Parlamentsgesetzen vorzusehen, sei verfassungswidrig“. Er führte aus, dass die „Blankovollmacht“ weit mehr als 1.000 Vorschriften umfasse. Die Verlagerung von Entscheidungsbefugnissen auf eine gesetzlich nicht angeleitete Exekutive schwäche vor allem die Opposition, die so von der Krisengesetzgebung ausgeschlossen werde.[7]

Im Interview mit dem Internetportal IDOWA führte Kingreen aus, ein Notverordnungsrecht wie das des Infektionsschutzgesetzes habe es seit den 1930er Jahren nicht mehr gegeben; im Unterschied zu den 1930er Jahren handele es sich aber um eine Selbstentmachtung von Bundestag und Bundesrat „unter dem Eindruck der voluminösen Notstandsrhetorik“. Die „tiefgreifendsten Grundrechtseinschränkungen seit 1945“ sieht Kingreen teilweise bedingt durch eine schlechte Debattenkultur, einseitige Beratung und eine mangelnde politische Strategie mit notwendiger Güterabwägung: „Es wurde der falsche Eindruck erweckt, als stünden die Verfassungsgüter der Gesundheit und des Lebens über allem. Das ist aber in einer Risikogesellschaft nicht nur komplett unrealistisch, sondern auch verfassungsrechtlich falsch.“[8]

Im April 2021 sprach Kingreen im Zusammenhang mit einer geplanten, neuerlichen Verschärfung des Infektionsschutzgesetzes wiederum als Sachverständiger vor dem Gesundheitsausschuss des Bundestages. Nach seiner Ansicht werfe der Gesetzesentwurf „diverse neue Probleme auf, ohne die bestehenden Herausforderungen anzugehen“.[9] Daraufhin wurde Kingreen von den Mitgliedern der FDP-Bundestagsfraktion als Prozessbevollmächtigter für eine Verfassungsbeschwerde in Verbindung mit einem Antrag auf einstweilige Anordnung gegen die Vorschriften des Vierten Bevölkerungsschutzgesetzes („Corona-Notbremse“) beim Bundesverfassungsgericht eingesetzt.[10]

Werke

Monografien

  • Die verfassungsrechtliche Stellung der nichtehelichen Lebensgemeinschaft im Spannungsfeld zwischen Freiheits- und Gleichheitsrechten, Münsterische Beiträge zur Rechtswissenschaft Bd. 97, Berlin, Duncker & Humblot 1995, ISBN 3-428-08573-6 (Dissertation)
  • Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, Schriften zum Europäischen Recht Bd. 56, Berlin, Duncker & Humblot 1999, ISBN 3-428-09716-5
  • Das Sozialstaatsprinzip im europäischen Verfassungsverbund. Gemeinschaftsrechtliche Einflüsse auf das deutsche Recht der gesetzlichen Krankenversicherung, Jus Publicum Bd. 97, Tübingen, Mohr Siebeck 2003, ISBN 3-16-147962-9 (Habilitation)
  • Personale und kalendarische Arbeitszeitbeschränkungen. Verfassungsrechtliche Grenzen einer Aufhebung der Ladenschlusszeiten. Schriften der Hans-Böckler-Stiftung, Bd. 65, Baden-Baden, Nomos 2007, ISBN 978-3-8329-2351-8

Abhandlungen

  • Konkurrenzschutz im vertragsärztlichen Zulassungsrecht. Ein Beitrag zur Reise nach Jerusalem im Gesundheitswesen, Die Verwaltung 36 (2003), S. 33–66.
  • Familie als Kategorie des Sozialrechts, Juristenzeitung (JZ) 2004, S. 938–948.
  • Fundamental Freedoms, in: von Bogdandy, Armin/Bast, Jürgen (Hrsg.), Principles of European Constitutional Law, 2006, S. 549–584
  • Die Universalisierung sozialer Rechte im europäischen Gemeinschaftsrecht, Europarecht (EuR), Beiheft 1/2007, S. 43–74.
  • Das Recht der Hochschulmedizin im hochschul-, gesundheits- und verfassungsrechtlichen Reformprozess, Wissenschaftsrecht (WissR) 40 (2007), S. 283–311. Gemeinsam mit Minou Banafsche und Tibor Szabados

Lexikonbeiträge

  • Europäische Grundfreiheiten, in: J. Haustein/W. Heun/M. Honecker/M. Morlok/J. Wieland (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, 4. Aufl. 2006, Sp. 893–903
  • Europäische Grundrechte, in: J. Haustein/W. Heun/M. Honecker/M. Morlok/J. Wieland (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, 4. Aufl. 2006, Sp. 922–930

Nachweise

  1. BVerfG, Beschluss vom 6. Dezember 2005, Az. 1 BvR 347/98; BVerfGE 115, 25.
  2. Stefan Huster: Ein Gericht rudert zurück: „Nikolaus“ ohne Haus. In: Verfassungsblog, 14. Mai 2017, abgerufen am 10. September 2018.
  3. Die Rezeption reicht über die Wissenschaft hinaus bis in die Tageszeitungen hinein, vgl. bspw.: „Bis dahin ist die Patientin tot“. In: Kölner Stadt-Anzeiger, 2. Januar 2008.
  4. http://www.gbv.de/dms/spk/sbb/toc/653816405.pdf
  5. Thorsten Kingreen: Klar verfassungswidrig. In: Süddeutsche Zeitung, 10. Februar 2019.
  6. Christian Rath: Bayerische Grenzpolizei ohne Grenzpolizei-Befugnisse. In: LTO, 28. August 2020.
  7. Covid-19 Rechtsverordnungsweitergeltungsgesetz. Öffentliche Anhörung des Gesundheitsausschusses, Deutscher Bundestag, 9. September 2020.
  8. Verfassungsrechtler im Interview – Thorsten Kingreen: „Aus Angst wird Kapital geschlagen“. In: IDOWA. 7. Mai 2020, abgerufen am 12. September 2020.
  9. Infektionsschutzgesetz in Anhörung kontrovers diskutiert. Öffentliche Anhörung des Gesundheitsausschusses, Deutscher Bundestag, 16. April 2021.
  10. Änderung des Infektionsschutzgesetzes: FDP-Abgeordnete ziehen vor das Bundesverfassungsgericht. In: LTO. 27. April 2021, abgerufen am 27. April 2021.

Weblinks