Tunumiit

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Ostgrönländer mit Harpune im Kajak auf Seehundjagd (2006)

Die Tunumiit (auch Ostgrönländer) sind mit 3400 Menschen (2005) die zweitgrößte indigene Volksgruppe Grönlands. Ihre Sprache Tunumiisut ist ein Idiom des Kalaallisut.

Die Tunumiit kamen erst um das Jahr 1884 mit Europäern in Kontakt und konnten die traditionelle Kultur der Grönländer bislang am besten bewahren. Heute wohnen sie in den Distrikten Tasiilaq und Ittoqqortoormiit. Aufgrund ihrer Vorgeschichte gleicht ihr Dialekt dem Idiom im kanadischen Nunavut.[1][2]

Herkunft

Genetisch betrachtet gehen die Tunumiit fast ausschließlich auf Einwanderer aus der Thule-Kultur Westgrönlands zurück, die sich im 13. oder 14. Jahrhundert an der klimatisch wesentlich ungünstigeren Ostküste ansiedelten.[1] Die Vermutung, die Ostgrönländer seien zum Teil Nachfahren der um das Jahr 1000 untergegangenen Dorset-Kultur – deren Spuren auch in Ostgrönland nachweisbar sind – wurde durch genetische Untersuchungen widerlegt.[3]

Kultur, Geschichte und Religion

Tasiilaq, mit rund 2.000 Einwohnern die größte Stadt in Ostgrönland
Tunumiit-Ehepaar aus Kulusuk
Anda Kûitse, der letzte Schamane der Kulusuk-Insel

Ursprünglich waren alle Grönland-Inuit – die man zum nordamerikanischen Kulturareal „Arktis“ zählt – Jäger, Fischer und Sammler, vor allem von Meeressäugern und Fischen. Noch heute stellt an der Ostküste die subsistenzwirtschaftliche Jagd neben dem Tourismus und geringfügiger Fischereiwirtschaft bei den meisten Familien einen wesentlichen Teil der Versorgung dar.[4] Gejagt werden ausschließlich Meerestiere (Robben, Walross, Narwal und Lachs), da es außer dem Eisbären keine anderen landlebenden Großsäuger im Osten gibt.[5]

Die Tunumiit lebten bis 1884 vollkommen isoliert von der übrigen Welt. Es ist denkbar, dass sie schon früher Kontakte mit europäischen Walfängern hatten, jedoch könnten die vorliegenden Überlieferungen auch auf Berichte aus Südwestgrönland zurückzuführen sein, die an der Ostküste erzählt wurden.[6]

1884 kam Gustav Frederik Holm mit seiner Frauenbootexpedition nach Ostgrönland. Er verfügte über ein starkes Interesse an der reichen, noch völlig unbeeinflussten Kultur und beschrieb detailliert die religiösen Vorstellungen und Bräuche, die Legenden und die Musik, die einen bedeutenden Anteil am Alltagsleben der Tunumiit besaßen. Es gab eine Reihe gesellschaftlicher Gebote, die aus Angst vor dem Wirken böser Geister strikt eingehalten werden mussten. Schamanen (angakkut) tanzten und traten mit Hilfe von Schamanentrommeln mit der jenseitigen Welt in Kontakt, um schlechtes Wetter zu vertreiben und Krankheiten zu heilen. Die bei jedem Anlass gesungenen Trommellieder besaßen eine magische Bedeutung. Die Jäger murmelten magische Verse (serratit), um einen glücklichen Ausgang der Jagd zu erreichen, die Frauen sangen bedeutungsvolle Lieder ihren Kindern vor.[7]

1894 wurde in Tasiilaq die erste Missions- und Handelsstation eingerichtet und westgrönländische und dänische Missionare begannen ihr Werk, um die Heiden zu bekehren und alle animistischen Glaubensvorstellungen und Rituale auszurotten. Der dänische Philologe und Eskimoforscher William Thalbitzer (1873–1958), der 1905/06 in Tasiilaq überwinterte, konnte noch einige magische Formeln des Trommeltanzes mit dem Phonographen aufzeichnen.[7]

Obgleich alle Grönländer seit Beginn des 20. Jahrhunderts (mit dem Aufbau eines dänischen Schulsystems und dem Übergang zur Geldwirtschaft) offiziell christianisiert sind,[6] haben sich die ursprünglichen Glaubensvorstellungen in den abgelegenen Regionen Nord- und Ostgrönlands bis heute erhalten.[8] Man kann davon ausgehen, dass die meisten der rund 400 Menschen, die sich auch 2001 noch offiziell zur Inuit-Religion bekannten,[9] größtenteils aus Ostgrönland stammen. Es wird sich dabei allerdings hauptsächlich um ältere Menschen handeln. Nach der dänischen Sozial-Anthropologin Merete Demant Jakobsen sind die Tunumiit die letzte Bastion des grönländischen Schamanismus. Noch in den 1960er Jahren praktizierten hier einige Schamanen, die jedoch der Bevölkerung nicht mehr so mächtig wie ihre Vorfahren galten.[10] Die Tätigkeiten der heutigen Angakkut Ostgrönlands (wie etwa Anda Kûitse aus Kulusuk, 1951–2019)[11] umfassen neben den traditionellen Aufgaben vor allem die profane Darstellung des klassischen Trommeltanzes und die Rolle als Erzähler geheimnisvoller Geschichten.

Obwohl es noch immer Tunumiit gibt, die ausschließlich Ostgrönländisch sprechen, finden sich viele, die auch Dänisch können. Durch das Schulsystem und die Medien wird Westgrönländisch immer bedeutender, so dass der östliche Dialekt von der UNESCO als „deutlich gefährdet“ eingestuft wurde.[12] Die Westgrönländer bezeichnen die Tunumiit als „Die, die auf der Rückseite leben“.[6]

„Nichtdestruktiv-aggressive Gesellschaft“

Der Sozialpsychologe Erich Fromm analysierte im Rahmen seiner Arbeit Anatomie der menschlichen Destruktivität anhand ethnographischer Aufzeichnungen 30 vorstaatliche Völker auf ihre Gewaltbereitschaft, darunter auch die Ostgrönländer.[13] Er ordnete sie abschließend den „Nichtdestruktiv-aggressiven Gesellschaften“ zu, deren Kulturen durch einen Gemeinschaftssinn mit ausgeprägter Individualität (Status, Erfolg, Rivalität), eine zielgerichtete Kindererziehung, reglementierte Umgangsformen, Vorrechte für die Männer, und vor allem männliche Aggressionsneigung – jedoch ohne destruktive Tendenzen (Zerstörungswut, Grausamkeit, Mordgier u. ä.) – gekennzeichnet sind.[14] (siehe auch: „Krieg und Frieden“ in vorstaatlichen Gesellschaften, sowie Zuordnung der Nordgrönländer)

Einzelnachweise

  1. a b Peoples and Cultures of the Circumpolar World I - Module 3: People of the Coast. University of the Arctic, abgerufen am 21. Juli 2015. S. 4–5.
  2. Stefan Bauer, Stefan Donecker, Aline Ehrenfried, Markus Hirnsperger (Hrsg.): Bruchlinien im Eis. Ethnologie des zirkumpolaren Nordens (= Beiträge zum zirkumpolaren Norden. Bd. 1). Lit-Verlag, Wien 2005, ISBN 3-8258-8270-5, S. 73–74, 80–86
  3. Ida Moltke et al.: Uncovering the Genetic History of the Present-Day Greenlandic Population. pdf-Version, Artikel in The American Journal of Human Genetics 96, S. 54–69, 8. Januar 2015.
  4. Frank Sejersen: Greenland, erschienen in: Cæcilie Mikkelsen (Hrsg.): The Indigenous World – 2014. International Work Group for Indigenous Affairs (IWGIA), Kopenhagen 2014, ISBN 978-87-92786-41-8. S. 20–25.
  5. Stefan Bauer, Stefan Donecker, Aline Ehrenfried, Markus Hirnsperger (Hrsg.): Bruchlinien im Eis. Ethnologie des zirkumpolaren Nordens (= Beiträge zum zirkumpolaren Norden. Bd. 1). Lit-Verlag, Wien 2005, ISBN 3-8258-8270-5, S. 73–74, 80–86
  6. a b c Hein van der Voort: History of Eskimo interethnic contact and its linguistic consequences, in: Stephen A. Wurm, Peter Mühlhäusler u. Darrell T. Tryon (Hrsg.): Atlas of Languages of Intercultural Communication in the Pacific, Asia and the Americas. Band 2, International Council of Philosophy and Humanistic Studies (UNESCO), Moutoun de Gruyter, ISBN 3-11-013417-9. Berlin, New York 1996. S. 1043–1094, isnb. S. 1054–1055.
  7. a b Michael Hauser: Traditional and Acculturated Greenlandic Music. In: Arctic Anthropology, Vol. 23, No. 1/2, 1986, S. 359–386, hier S. 359 f., JSTOR 40316122
  8. Rolf Gilberg: Polar Eskimo, in William C. Sturtevant (Hrsg.): Handbook of North American Indians: Arctic S. 577–594, insbesondere S. 590, 597.
  9. Religious Adherents of Greenland, en:Association of Religion Data Archives (ARDA), abgerufen am 26. Juli 2015.
  10. Merete Demant Jakobsen: Shamanism: Traditional and Contemporary Approaches to the Mastery of Spirits and Healing. Berghahn Books, New York 1999, ISBN 1-57181-195-8, S. 52, 114 f.
  11. Rósa Rut Þórisdóttir: Kap Dan, Kulusuk Fotobericht einer Studienreise im Rahmen einer Doktorarbeit, 1998. In: thearctic.is, abgefragt am 27. Juli 2015.
  12. East Greenlandic language auf UNESCO Atlas of the World's Languages in Danger englisch, abgerufen am 26. Juli 2015.
  13. nach Aufzeichnungen von Margaret Mead (Hrsg.): Cooperation and Competition Among Primitive Peoples. Transaction Publishers, New Jersey (USA) 2002 (Original 1937). S. 51ff.
  14. Erich Fromm: Anatomie der menschlichen Destruktivität. Aus dem Amerikanischen von Liselotte u. Ernst Mickel, 86. – 100. Tsd. Ausgabe, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1977, ISBN 3-499-17052-3, S. 191–192.