Vergewaltigungsmythos

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Der Begriff Vergewaltigungsmythos (engl. rape myth) bezeichnet die Bagatellisierung sexualisierter Gewalt: Er besagt zusammengefasst, dass z. B. Vergewaltigungsopfer „von Natur aus“ bzw. freiwillig vom Täter überwältigt werden wollten und damit eine Vergewaltigung als Gewaltdelikt gar nicht existieren könne. Damit entschuldigt der Mythos die Täter und beschuldigt die Opfer (Täter-Opfer-Umkehr).

Die Akzeptanz von Vergewaltigungsmythen hängt stark mit frauenverachtenden Einstellungen zusammen.[1]

Definition und Begriffsgeschichte

Der Begriff wurde 1980 von der amerikanischen Sozialpsychologin Martha R. Burt geprägt. In ihrer Originalpublikation definierte sie ihn als „vorurteilsbehaftete, stereotype oder falsche Auffassungen über Vergewaltigung, Vergewaltigungsopfer und Vergewaltiger“.[2] Das bedeutet nach Gerd Bohner „deskriptive oder präskriptive Überzeugungen über Vergewaltigung (d. h. über Ursachen, Kontext, Folgen, Täter, Opfer und deren Indikation), die dazu dienen, sexuelle Gewalt von Männern gegen Frauen zu leugnen, zu verharmlosen oder zu rechtfertigen“.[3]

Gesellschaftlicher Ursprung

Vergewaltigungsmythen basieren auf einem gesellschaftlich etablierten Verständnis einer unterschiedlichen männlichen und weiblichen Sexualität. Männern wird nach diesem Verständnis Triebhaftigkeit unterstellt und Frauen die Verpflichtung der Kontrolle eigener und männlicher sexueller Aktivität auferlegt. Vergewaltigungsmythen sind also sozial etablierte Meinungen zu Vergewaltigungsdelikten, die auf soziokulturell tradierte moralische Normvorstellungen, auf biologisch-deterministische Menschenbilder oder auf rechtsinadäquate Vorstellungen zurückzuführen sind.[4] Gestützt wurden diese Vorstellungen in der Vergangenheit durch wissenschaftliche Untersuchungen damaligen Erkenntnisstands. Der Psychoanalytiker Sigmund Freud beispielsweise sprach Frauen eine „latente masochistische Tendenz“ zu und sah bei der Sexualität von Männern „eine Beimischung von Aggression, von Neigung zur Überwältigung, deren biologische Bedeutung in der Notwendigkeit liegen dürfte, den Widerstand des Sexualobjekts noch anders als durch Werbung zu überwinden“.[5]

Nährende Annahmen

Vergewaltigungsmythen stützen sich auf mehrere teilweise statistisch widerlegte[6] Annahmen:

  • Frauen wollten eigentlich vergewaltigt werden; sie genössen die Vergewaltigung: Eine Frau, die ‚Nein‘ sage, meine dies nicht ernst.[7]
  • Eine Frau könne, rein anatomisch gesehen, nicht gegen ihren Willen vergewaltigt werden; also könnten nur Frauen vergewaltigt werden, die ‚mitspielen‘.[7]
  • Frauen beschuldigten besonders dann einen Mann zu Unrecht einer Vergewaltigung, wenn er ihnen nicht genügend zugeneigt sei.[7]
  • Männer, die eine Vergewaltigung begingen, seien krank oder sexuell ausgehungert oder aus anderen Gründen besonders triebstark.[7]
  • Sexueller Missbrauch sei ein Ausnahmegeschehen und als solches selten.[6]
  • Der Täter sei in irgendeiner Weise krank oder gestört.[6]
  • Der Täter stamme aus sozialen Kreisen, von denen ‚so etwas‘ ja zu erwarten sei.[6]
  • Kinder und Jugendliche wollten sexuelle Kontakte mit Erwachsenen und verhielten sich verführerisch oder zumindest leichtsinnig.[6]
  • Die Opfer seien immer weiblich, die Täter immer männlich.

Akzeptanz von Vergewaltigungsmythen

Mythen über sexuelle Gewalt werden von Männern und Frauen akzeptiert; von Männern jedoch häufiger.[6] Gerd Bohner entdeckte einen kausalen Zusammenhang zwischen der Akzeptanz von Vergewaltigungsmythen und der selbst berichteten Vergewaltigungsneigung von Männern.[8]

Folgen

Vergewaltigungsmythen verharmlosen das Ausmaß sexueller Gewalt und ihrer Folgen, negieren die Tat selbst, entschuldigen das Verhalten des Täters und beschuldigen das Opfer, sich nicht den sozialen Normen entsprechend verhalten zu haben.[6] Sie zielen darauf ab, die Integrität des Opfers aufzuheben und sexuelle Gewalthandlungen zu legitimieren. Vergewaltigungsmythen können dem Geschädigten somit sogar die Schuld an der Vergewaltigung zuschreiben.[9] In diesem Zusammenhang wird auch der Begriff Rape Culture verwendet. Die Existenz der Mythen vermindert zudem die Glaubwürdigkeit der Opfer in der Justiz.

Siehe auch

Literatur

  • Beatrice Weber: Die soziale Wirklichkeitskonstruktion von Vergewaltigungsmythen und der Realitätsbezug, Verlag für Polizeiwiss., 2010, ISBN 978-3-86676-130-8.
  • Janet Anderson: Rape Myths. In: Research and Advocacy Digest. May 2007 Volltext (englisch)
  • University of Minnesota Duluth: List of Rape Myths. Sociology of Rape. Volltext (englisch)
  • Anette Rieber: Vergewaltigungsmythen 2004. Ent-Schuldigung der Täter? Eine empirische Studie zum Grad der Vergewaltigungsmythenakzeptanz im Jahr 2004, 2004 ISBN 978-3-86676-130-8.
  • Nicola Brosi: Untersuchung zur Akzeptanz von Vergewaltigungsmythen in verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Dissertationsschrift der Ludwig-Maximilians-Universität zu München 2004. Volltext (deutsch)
  • Gerd Bohner: Vergewaltigungsmythen: sozialpsychologische Untersuchungen über täterentlastende und opferfeindliche Überzeugungen im Bereich sexueller Gewalt. Verlag Empirische Pädagogik, Landau 1998, ISBN 3-931147-62-2.
  • Diana E. H. Russell: Making Violence Sexy: Feminist Views on Pornography. Teacher Collage Press, New York 1993.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. KA Lonsway, LF Fitzgerald: Attitudinal antecedents of rape myth acceptance: A theoretical and empirical reexamination. In: Journal of Personality and Social Psychology. 68, Nr. 4, April 1995, S. 704–711. doi:10.1037/0022-3514.68.4.704
  2. Martha R. Burth: Cultural myths and supports for rape. In: Journal of Personality and social Psychology. Band 38, 1980, S. 217–230. PDF (Memento vom 1. Mai 2015 im Internet Archive)
  3. Gerd Bohner: Vergewaltigungsmythen - Sozialpsychologische Untersuchungen über täterentlastende und opferfeindliche Überzeugungen im Bereich sexueller Gewalt. Landau 1998, S. 14.
  4. Luise Greuel: Polizeiliche Vernehmung vergewaltigter Frauen. Psychologie-Verl.-Union, Weinheim 1993, ISBN 3-621-27162-7, S. 63.
  5. Diana E. H. Russell: Making Violence Sexy: Feminist Views on Pornography. Teacher Collage Press, New York 1993.
  6. a b c d e f g Maren Kolshorn, Ulrike Brockhaus: Mythen über sexuelle Gewalt. In: Dirk Bange, Wilhelm Körner (Hrsg.): Handwörterbuch Sexueller Missbrauch. Göttingen 2002, S. 373–379.
  7. a b c d Herbert Selg: Über Wirkungen von Gewaltpornographie. In: Dane, Schmidt (Hrsg.): Frauen und Männer. Fischer, Frankfurt 1990, ISBN 3-596-10149-2, S. 138–139.
  8. Gert Bohner, M. Reinhard, S. Rutz, S. Sturm, B. Kerschbaum, D. Effler: Rape myths as neutralizing cognitions: Evidence for a causal impact of anti-victim attitudes on men’s self-reported likelihood of raping. In: European Journal of Social Psychology, 28, 1998, S. 257–268.
  9. Susanne Heynen: Vergewaltigt - die Bedeutung subjektiver Theorien für Bewältigungsprozesse nach einer Vergewaltigung. Juventa, Weinheim 2000, ISBN 3-7799-1407-7, S. 20.