Vertrag von Lausanne

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Grenzziehung und Interessensphären nach dem Vertrag von Sèvres 1920

Der Vertrag von Lausanne wurde am 24. Juli 1923 zwischen der Türkei sowie Großbritannien, Frankreich, Italien, Japan, Griechenland, Rumänien und dem Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen im Palais de Rumine geschlossen. Tagungsort der Verhandlungen war das Schloss Ouchy.

Mit diesem Vertrag konnte die Türkei, nachdem sie 1922 den Griechisch-Türkischen Krieg gewonnen hatte, die Bestimmungen des nach dem Ersten Weltkrieg abgeschlossenen Vertrags von Sèvres teilweise nach ihren Vorstellungen revidieren.

Das Abkommen legalisierte die bereits vollzogene Vertreibung von Griechen bzw. Türken nachträglich. Die aktuellen Grenzen der Türkei und Griechenlands haben ihren Ursprung in diesem Vertrag.

Inhalt des Vertrages

Neue Grenzziehung nach dem Vertrag von Lausanne 1922

Die Friedensgespräche waren am 30. November 1922 vom Völkerbund, repräsentiert durch Fridtjof Nansen, initiiert worden. Ein bedeutender Zwischenschritt war die am 30. Januar 1923 vereinbarte Konvention zum Bevölkerungsaustausch zwischen Griechenland und der Türkei (siehe unten).

Laut Vertrag erhielt die Türkei Ost- und Südostanatolien (Ostanatolien war im Vertrag von Sèvres für Armenien vorgesehen gewesen), Ostthrakien (seitdem der europäische Teil der Türkei) sowie Izmir (griechisch Smyrna). Griechenland behielt Westthrakien.

Die Türkei stimmte nachträglich der bereits am 5. November 1914 proklamierten Annexion Zyperns durch Großbritannien zu, bis zu dieser Zustimmung hatte Zypern formal noch zur Türkei gehört. Zudem gab die Türkei ihre Ansprüche gegenüber Ägypten und dem Sudan auf.

Des Weiteren wurde die italienische Besetzung rund um Antalya revidiert. Im Gegenzug erkannte der türkische Staat die italienische Souveränität über den Dodekanes und Libyen an, die als Ergebnis des Osmanisch-Italienischen Krieges an Italien gefallen waren.

Der Vertrag nutzte die Religionszugehörigkeit als Kriterium für die nationale Zugehörigkeit und damit für die Umsiedlung. Er regelte im Abschnitt über den Minderheitenschutz (Artikel 37–45) die Rechte der verbleibenden nicht-muslimischen Minderheiten in der Türkei sowie der muslimischen Minderheiten in Griechenland. In der Türkei wurden Juden, Griechen und Armenier als Minderheiten anerkannt. Sie sollten in der Türkei dieselben Bürgerrechte haben wie die muslimischen Türken.

Die christlichen Assyrer, welche wie die Armenier Opfer des Völkermordes von 1915 waren, wurden im Vertrag nicht berücksichtigt.[1] Somit wurde für dieses indigene Volk im Vertrag keine Minderheitenrechte vorgesehen. Durch diesen Vertrag wird die Existenz einer assyrischen Ethnie bis heute geleugnet.[2]

Konvention über den Bevölkerungsaustausch zwischen Griechenland und der Türkei

Die am 30. Januar 1923 zwischen Griechenland und der Türkei vereinbarte Konvention zum Bevölkerungsaustausch war Teil des Vertrags von Lausanne (gemäß Artikel 142).

Inhalt der Konvention

Auf Grund dieser Konvention wurden die in Kleinasien ansässigen türkischen Staatsangehörigen griechisch-orthodoxen Glaubens (zumeist gebürtige Griechen), aber auch Türken christlichen Glaubens (etwa 1,5 Millionen) nach Griechenland ausgewiesen, die griechischen Staatsangehörigen muslimischen Glaubens (ca. 0,5 Millionen, zumeist gebürtige Türken und Griechen, die zum Islam konvertiert hatten) mussten in die Türkei auswandern.[3]

Ausgenommen vom Bevölkerungsaustausch waren insgesamt 110.000 Griechen in der Türkei und 106.000 Türken in Griechenland:[4]

  • die alteingesessene griechische und griechisch-orthodoxe Bevölkerung Istanbuls (offiziell als Rum bezeichnet).
  • die Westthrakientürken (Türken, Pomaken und muslimische Roma östlich der 1913 im Vertrag von Bukarest festgelegten Grenzlinie). Sie sollten als muslimische Einwohner Westthrakiens in Griechenland bleiben. Griechenlands Ansprechpartner für diese drei Ethnien ist seitdem die Türkei.
  • die Bevölkerung der Inseln Imbros/Gökçeada und Tenedos/Bozcaada. (Dieser Punkt war noch kein Bestandteil der Konvention vom 30. Januar, aber Teil des Hauptvertrages, Artikel 14.)[5]

Einordnung

Karikatur darüber, dass die Türkei durch diesen Vertrag keine Verantwortung für den Völkermord an den Armeniern und Assyrern tragen muss.

Ziel des Bevölkerungsaustausches war es, die durch nationale Minderheiten ausgelösten Spannungen zu vermindern. So sollte der Frieden auf Basis klarer definierter Nationalitätengrenzen gesichert werden. Für viele Politiker jener Zeit wie auch für den Völkerbund galt Bevölkerungsaustausch als Paradigma für die friedliche Lösung ethnischer Konflikte. Bereits im Vertrag von Neuilly-sur-Seine im Jahre 1919 hatten Griechenland und Bulgarien einen Bevölkerungsaustausch vereinbart.[6]

Allerdings brachte die Umsiedlung großes Leid über die Betroffenen: Sie verloren ihre Heimat und durften nur ihr bewegliches Eigentum mitnehmen, das durch die Konvention ausdrücklich geschützt war. Unbewegliches Eigentum wurde liquidiert und die Eigentümer entschädigt. Viele starben während der oft brutal durchgeführten Umsiedlungsmaßnahmen. Der größte Teil der zur Umsiedlung vorgesehenen Bevölkerungsgruppen war jedoch schon vor 1923 vertrieben und viele Angehörige der Minderheiten dabei ermordet worden.

Der britische Außenminister und führende Vertreter des Imperialismus George N. Curzon bezeichnete den Vertrag von Lausanne als „eine durch und durch schlechte und böse Lösung, für welche die Welt während der nächsten hundert Jahre noch eine schwere Buße werde entrichten müssen“.[7]

Die vom Bevölkerungsaustausch offiziell ausgenommenen Bevölkerungsgruppen in der Türkei und in Griechenland (siehe oben) konnten allein durch den Vertrag von Lausanne nicht vor Diskriminierung oder Anfeindungen geschützt werden. Auch von ihnen wanderten in den folgenden Jahrzehnten viele aus. In der Türkei bewirkte vor allem das Pogrom von Istanbul (1955) eine Vertreibung der Griechen aus Istanbul (siehe auch Nachwirken des Bevölkerungsaustauschs zwischen Griechenland und der Türkei).

Nachwirkung

Im Vertrag von Montreux erhielt die Türkei 1936 die volle Souveränität über die Meerengen zurück.

In den 1950er Jahren erklärte die Türkei in Bezug auf Zypern einseitig, dass der Vertrag von Lausanne hinfällig werde, wenn sich am Status Zyperns etwas ändere. Großbritannien hatte zuvor als Reaktion auf griechische Unabhängigkeitsbestrebungen der seinerzeit britisch beherrschten Insel erklärt, dass Zypern auch eine Angelegenheit der Türkei sei.[8]

Im Rahmen eines Treffens mit Gemeindevorstehern Ende 2016 in Ankara stellte der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan den Vertrag von Lausanne aus dem Jahre 1923 erneut in Frage.[9] Er sprach von „unfairen Bestimmungen“ und einer „Niederlage der Türkei“. Als Beispiel nannte er die griechischen Ägäis-Inseln, die in „Rufweite“ der Türkei liegen. Es gebe noch immer einen „Kampf darum, was ein Festlandsockel“ sei, „und welche Grenzen wir auf dem Land und in der Luft haben“, so der türkische Staatschef. Diejenigen, die sich damals an den Verhandlungstisch gesetzt hätten, so monierte er, seien den realen Umständen nicht gerecht geworden.

Nachdem der griechische Minister für Seefahrt und Inselpolitik Nektarios Santorinios in der ersten Januarwoche 2017 in einem an das Parlament überstellten Schreiben[10] die Besiedelung 28 kleiner Inseln in der Ägäis angekündigt hatte, warnte das türkische Außenministerium durch seinen Sprecher Hüseyin Müftüoğlu in einer Bekanntmachung die griechische Regierung vor dieser Absicht. Am 14. Januar 2017 dementierte Minister Santorinios eine griechische Besiedlungsabsicht[11] und bewertete die türkische Warnung als Einmischung in die inneren Angelegenheiten Griechenlands.

Trivia

Der Schweizer Bundespräsident Pascal Couchepin schenkte der Türkei am 11. November 2008 bei einem Besuch des türkischen Staatspräsidenten Abdullah Gül den Tisch, an dem der Vertrag von Lausanne 1923 unterzeichnet worden war.

Literatur

  • Roland Banken: Die Verträge von Sèvres 1920 und Lausanne 1923. Eine völkerrechtliche Untersuchung zur Beendigung des Ersten Weltkrieges und zur Auflösung der sogenannten „Orientalischen Frage“ durch die Friedensverträge zwischen den alliierten Mächten und der Türkei. Lit Verlag, Münster 2014, ISBN 3-643-12541-0.
  • Andrew Mango: From the Sultan to Atatürk: Turkey (=Makers of the Modern World: The Peace Conferences of 1919-23 and their Aftermath). Haus Publishing, 2009, ISBN 1-905791-65-8.
  • Jeremy Salt: The last Ottoman wars : the human cost, 1877–1923, The University of Utah Press, Salt Lake City 2019, ISBN 978-1-60781-704-8.
  • Ferudun Ata: The Relocation Trials in Occupied Istanbul. Manzara Verlag, Offenbach am Main 2018, ISBN 9783939795926.

Weblinks

Commons: Vertrag von Lausanne – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Assyrer-Kundgebung in Lausanne. | NZZ. Abgerufen am 11. Juli 2020.
  2. Redaktion neues deutschland: ? Assyrer fordern ihre Anerkennung (neues deutschland). Abgerufen am 11. Juli 2020.
  3. Renée Hirschon: Crossing the Aegean: The Consequences of the 1923 Greek-Turkish Population Exchange: An Appraisal of the 1923 Compulsory Population Exchange Between Greece and Turkey (Studies in Forced Migration). New York 2004, ISBN 1-57181-562-7, S. 6.
  4. Christopher Panico: THE TURKS OF WESTERN THRACE. Humans Right Watch. S. 2. Januar 1999. (PDF; 350 kB) - In 1923, the provisions of the Treaty of Lausanne left some 106,000 ethnic Turks in Thrace. The ethnic Greek minority of Istanbul [...] has also shrunk in size [...] from 110,000 in 1923 to an estimated 2,500 today
  5. Treaty of Lausanne. 30. Januar 1923. - The agreements which have been, or may be, concluded between Greece and Turkey relating to the exchange of the Greek and Turkish populations will not be applied to the inhabitants of the islands of Imbros and Tenedos.
  6. Renée Hirschon Crossing the Aegean: The Consequences of the 1923 Greek-Turkish Population Exchange: An Appraisal of the 1923 Compulsory Population Exchange Between Greece and Turkey (Studies in Forced Migration), New York 2004, ISBN 1-57181-562-7, S. 7.
  7. Norman M. Naimark: Fires of Hatred. Ethnic Cleansing in Twentieth-Century Europe. Harvard 2001. ISBN 0-674-00313-6, S. 55.
  8. http://www.bpb.de/apuz/32116/historische-hintergruende-des-zypernkonflikts?p=all
  9. Ankara stellt Lausanne-Vertrag in Frage – Athen in Aufruhr. Griechenland.net.
  10. Προκαλεί ξανά η Αγκυρα: Μην τολμήσετε να κατοικήσετε μικρά νησιά (griechisch) ΗΜΕΡΗΣΙΑ On Line. 13. Januar 2017. Türkei warnt Griechenland vor Besiedelung 28 griechischer Inseln
  11. Minister says no plans to settle Aegean islets. H KAΘHMEPINH, online-Ausgabe, 14. Januar 2017, abgerufen am 5. August 2018 (englisch). Griechisches Ministerium dementiert Besiedlungsabsicht von 28 griechischen Inseln