Vita Karoli Magni

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Historisierte Initiale V zu Einhard, Vita Karoli aus der Handschrift Paris, BnF, Latin 5927 fol. 280v, Abbaye Saint-Martial de Limoges, ca. 1050 (?)

Die Vita Karoli Magni ist eine von dem fränkischen Gelehrten Einhard im 9. Jahrhundert verfasste Vita des fränkischen Königs und Kaisers Karl des Großen. Es handelt sich um ein literarisches Kunstwerk der mittellateinischen Literatur aus der karolingischen Renaissance von hohem Rang und programmatischer Bedeutung. Lupus von Ferrières äußerte sich in einem Brief an Einhard entsprechend bewundernd über den eleganten Sprachstil dieser Biographie.[1] Der Originaltitel der Biographie lautete vermutlich Vita Karoli imperatoris.[2]

Überblick

Im Vorwort (prologus) erläutert Einhard den Zweck des Unternehmens und rechtfertigt seinen Anspruch, als Autor aufzutreten, mit drei Hauptargumenten: 1.) mit seiner Augenzeugenschaft (oculata fide), 2.) mit der Bedeutung von Karls glanzvollem Leben und seiner herausragenden, den Menschen der Gegenwart kaum nachahmbaren Taten (regis excellentissimi et omnium sua aetate maximi clarissimam vitam et egregios atque moderni temporis hominibus vix imitabiles actus), die dem Gedächtnis der Nachwelt (posteritatis memoriae) nicht entzogen werden dürften, 3.) mit der persönlichen Verpflichtung gegenüber Karl aufgrund der von ihm erhaltenen Erziehung am Hof (nutrimentum [...] in me inpensum) und der Freundschaft, die ihn mit dem Kaiser und dessen Kindern verbinde (perpetua [...] cum ipso et liberis eius amicitia) und durch so zahlreiche Wohltaten (tot beneficiorum in me conlatorum) als Schuldner (me debitorem) zur Dankbarkeit verpflichte (merito ingratus videri et iudicari possem). Abschließend folgt ein für antike und mittelalterliche Vorreden typischer, breit ausgeführter Bescheidenheitstopos, der unter Bezugnahme auf eine Warnung des Meisters der antiken Rhetorik Cicero, sich ohne die notwendigen Fähigkeiten literarisch zu betätigen, eine Rechtfertigung dafür liefert, notfalls eben doch auch mit angeblich unzureichender Bildung ausgestattet ans Werk gehen zu dürfen.

Die Vita selbst beginnt mit einem historischen Exkurs, der eine Darstellung des Übergangs der fränkischen Königsherrschaft von den Merowingern auf den Hausmeier Pippin enthält. Anschließend beschreibt der Autor im ersten Hauptteil des Werkes die Taten Karls, insbesondere die von ihm geführten Kriege sowie seine Bauten. Der zweite Hauptteil enthält Informationen über Karls Äußeres, seine Lebensgewohnheiten, seine Bildung und seine Familie. Auch Karls Maßnahmen zur Pflege von Kultur, Religion und Recht werden geschildert. Erst in diesem Zusammenhang, gleichsam als Fußnote zu den Gründen seiner letzten Romreise, findet sich ein knapper Hinweis auf die Kaiserkrönung. Angeblich soll Karl geäußert haben, er hätte trotz des Weihnachtsfestes die Kirche nicht betreten, wenn er den Plan des Papstes gekannt hätte. Die Stelle (c. 28) spielt eine Schlüsselrolle in der Diskussion um die Kaiserkrönung Karls des Großen. Karls literarische Sammeltätigkeit alter tradierter Lieder mit heroischen Stoffen über königliche Vorfahren unterstreicht er im Heldenliederbuch (c. 29). Am Schluss des Werkes findet sich ein Bericht über den Tod Karls des Großen und sein Testament.

Im Aufbau ist das Werk stark beeinflusst von den antiken Kaiserbiographien Suetons, was auch das rubrizierende Verfahren (thematischen Schemen folgend) anstelle einer chronologischen Erzählung erklärt. Das Werk zeigt aber deutlich panegyrische Tendenzen, die auch Stildifferenzen gegenüber Sueton zur Folge haben:[3] Karl der Große wird ausschließlich positiv dargestellt und verherrlicht. Gleichzeitig sollte das Beispiel Karls eine Ermahnung für seine Söhne sein, besonders für Ludwig. Ob das Werk als Kritik an Ludwig dem Frommen zu lesen ist, was eine Spätdatierung voraussetzt, ist in der Forschung ebenso umstritten wie die Datierungsfrage. Die Ansätze reichen von 817 bis 836. Zuletzt haben sich Matthias Tischler (828–830) und Steffen Patzold (Frühjahr 829) für eine Spätdatierung entschieden, während Rosamond McKitterick (817, spätestens 823) und Karl Heinrich Krüger (bis Sommer 823) eine Frühdatierung vorgetragen haben.[4]

Umstritten ist ebenfalls die Frage nach dem Herrscherbild, das Einhard vermittelt. Gegen die verbreitete Auffassung, die Herunterspielung der Kaiserkrönung, des Kaisertitels und des kaiserlichen Ornats und Zeremoniells sowie der Bedeutung des Papstes sei als Bekenntnis Einhards zur Tradition des fränkischen Königtums zu werten und damit als Beweis seiner Abneigung gegen das römische Kaisertum anzusehen, wurde zuletzt geltend gemacht, dass zwischen der Kaiserwürde und deren Repräsentationsformen zu unterscheiden sei. Die Abwertung letzterer diene nur dem Ziel, ein in überragender Leistung und Tugend zum Ausdruck kommendes wahres Kaisertum Karls, das solcher Repräsentationsformen gar nicht bedürfe, einem Scheinkaisertum der oströmischen Kaiser gegenüberzustellen, das sich mangels Fundierung durch Leistung und Tugend allein auf äußere Formen stützen könne. Das Paradigma für seine Sicht der Dinge habe Einhard im Merowingerexkurs vorgeführt und es dem Leser überlassen, auf der Grundlage der dort entwickelten Beurteilungskriterien die Frage nach dem wahren Kaiser zu entscheiden.[5]

Der Quellenwert der Vita ist trotz der Voreingenommenheit des Autors, die bei der Interpretation berücksichtigt werden muss, aufgrund dessen jahrzehntelanger Zugehörigkeit zum engsten Umfeld des Herrschers, seiner exzellenten Informationsmöglichkeiten als Mitglied der Hofgesellschaft und der Nähe der Abfassungszeit zu den Ereignissen als außerordentlich hoch zu veranschlagen. Die Vita ist eine wichtige Ergänzung zu den übrigen Quellen der Karolingerzeit und enthält auch Angaben, die sonst nirgendwo überliefert sind.

Überlieferung

Das immense Interesse an Karl dem Großen und der außerordentliche literarische Erfolg seines Biographen lassen sich auch an der handschriftlichen Überlieferung ablesen. Die Vita Karoli Magni gehört mit 123 erhaltenen Handschriften bzw. Fragmenten, davon 105 aus dem Mittelalter, und weiteren bezeugten, jedoch verlorenen Exemplaren in die Spitzengruppe der Texte der lateinischen Literatur des Mittelalters, die die breiteste handschriftliche Überlieferung überhaupt aufweisen.[6] Zumeist wurde sie in Sammelhandschriften zusammen mit weiteren Texten über Karl den Großen sowie anderem historiographischem Material überliefert.[7] Trotzdem dauerte es nach der Erfindung des Buchdrucks immerhin ein Dreivierteljahrhundert, bis die editio princeps, die erste gedruckte Ausgabe, des historisch interessierten Humanisten Beatus Rhenanus bei Johannes Soter, Köln 1521, erschien.

Ausgaben und Übersetzungen

  • Hermann von Neuenahr (Hrsg.): Vita Et Gesta Karoli Magni per Eginhartum descripta. Johannes Soter, Köln 1521 (editio princeps)
  • Oswald Holder-Egger (Ed.): Einhardi Vita Karoli Magni. (Monumenta Germaniae Historica, Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum separatim editi 25). Hahn, sechste Aufl. Hannover 1911 (online) (maßgebliche kritische Edition)
  • Paolo Chiesa (Hrsg.): Eginardo, Vita Karoli. „Personalità e imprese di un re grandissimo e di meritatissima fama“ (SISMEL Edizioni del Galluzzo per la Fondazione Ezio Franceschini 180), Florenz 2014 (kritische Edition mit italienischer Übersetzung und Kommentar sowie profunder Einleitung), ISBN 978-88-8450-537-8
  • Einhard: Vita Karoli Magni. Lat./Dt. Übers., Anm. u. Nachw. von Evelyn Scherabon Firchow. Reclam-Verlag, Ditzingen 1986 (und NDe), ISBN 3-15-001996-6
  • Einhard: Das Leben Karls des Großen (lateinisch und deutsch). In: Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters (Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe), Bd. 5, Darmstadt 1955, S. 157–211.

Literatur

  • Gereon Becht-Jördens: Einharts "Vita Karoli" und die antike Tradition von Biographie und Historiographie. Von der Gattungsgeschichte zur Interpretation. In: Mittellateinisches Jahrbuch 46, 2011, S. 335–369.
  • Gereon Becht-Jördens: Biographie als Heilsgeschichte. Ein Paradigmenwechsel in der Gattungsentwicklung: Prolegomena zu einer formgeschichtlichen Interpretation von Einharts Vita Karoli. In: Andrea Jördens u. a. (Hrsg.): Quaerite faciem eius semper. Studien zu den geistesgeschichtlichen Beziehungen zwischen Antike und Christentum. Dankesgabe für Albrecht Dihle zum 85. Geburtstag aus dem Heidelberger „Kirchenväterkolloquium“ (= Studien zur Kirchengeschichte. Bd. 8). Kovac, Hamburg 2008, S. 1–21.
  • Walter Berschin: Biographie und Epochenstil im lateinischen Mittelalter, Bd. 3 Karolingische Biographie 750–920 n. Chr. (= Quellen und Untersuchungen zur lateinischen Philologie des Mittelalters. Bd. 10). Hiersemann, Stuttgart 1991, S. 199–220.
  • Helmut Beumann: Ideengeschichtliche Studien zu Einhard und anderen Geschichtsschreibern des früheren Mittelalters. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1962.
  • Claude Carozzi: Eginard et les trois fonctions de la royauté. In: Claude Carozzi, Huguette Taviani-Carozzi: Le pouvoir au Moyen Age. Ideologies, pratiques, représentations. Publications de l'Université de Provence, Aix-en Provence 2005, ISBN 2-85399-601-8, S. 237–256.
  • David Ganz: Einhard’s Charlemagne. The Characterisation of Greatness. In: Joanna Story (Hrsg.): Charlemagne. Empire and Society. Manchester University Press, Manchester u. a. 2005, S. 38–51.
  • Siegmund Hellmann: Einhards literarische Stellung. In: Siegmund Hellmann: Ausgewählte Abhandlungen zur Historiographie und Geistesgeschichte des Mittelalters. Hrsg. von Helmut Beumann. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1961, S. 159–229.
  • Karl Heinrich Krüger: Neue Beobachtungen zur Datierung von Einhards Karlsvita. In: Frühmittelalterliche Studien 32, 1998, S. 124–145.
  • Anne A. Latowsky: Emperor of the World. Charlemagne and the Construction of Imperial Authority, 800-1229. Cornell University Press, Ithaca, N.Y. / London 2013.
  • Heinz Löwe (Bearbeiter): Wattenbach-Levison. Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter. Vorzeit und Karolinger. II. Heft Die Karolinger vom Anfang des 8. Jahrhunderts bis zum Tode Karls des Großen. Böhlau, Weimar 1953, S. 272–277.
  • Rosamond McKitterick: Charlemagne. The Formation of a European Identity. Cambridge University Press, Cambridge u. a. 2008 (deutsche Übersetzung: Karl der Große. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2008), hier S. 7–22. ISBN 978-0-521-88672-7.
  • Steffen Patzold: Ich und Karl der Große. Das Leben des Höflings Einhard. Klett-Cotta, Stuttgart 2013 ISBN 978-3-608-94764-9, speziell S. 193ff.
  • Steffen Patzold: Einhards erste Leser: Zu Kontext und Darstellungsabsicht der „Vita Karoli“. In: Viator 42 Multilingual, 2011, S. 33–55 (online).
  • Hermann Schefers (Hrsg.): Einhard. Studien zu Leben und Werk. Dem Gedenken an Helmut Beumann gewidmet (= Arbeiten der Hessischen Historischen Kommission N.F., Bd. 12). Hessische Historische Kommission, Darmstadt 1997, ISBN 3-88443-033-5.
  • Nikolaus Staubach: „cultus divinus“ und karolingische Reform. In: Frühmittelalterliche Studien 18, 1984, S. 546–581, hier S. 562–572.
  • Francesco Stella: Aspetti letterari e fortuna critica della ››Vita Karoli‹‹. In: Paolo Chiesa (Hrsg.): Eginardo, Vita Karoli. „Personalità e imprese di un re grandissimo e di meritatissima fama“ (SISMEL Edizioni del Galluzzo per la Fondazione Ezio Franceschini 180), Florenz 2014, S. 21–44.
  • Matthias M. Tischler: Einharts Vita Karoli. Studien zur Entstehung, Überlieferung und Rezeption (= Schriften der Monumenta Germaniae Historica. Bd. 48). 2 Teile, Hahn, Hannover 2001, ISBN 3-7752-5448-X (Zugleich: Heidelberg, Universität, Dissertation, 1998 unter dem Titel: Tischler, Matthias M.: Einhardus redivivus). (Fachbesprechung)
  • Heinz Wolter: Intention und Herrscherbild in Einhards Vita Karoli Magni. In: Archiv für Kulturgeschichte 68, 1986, S. 295–319.

Weblinks

Wikisource: Vita Karoli Magni – Quellen und Volltexte (Latein)

Anmerkungen

  1. Servatus Lupus, epistulae 1, 3; 5 (ed. Peter K. Marshall. Teubner, Stuttgart 1984).
  2. Vgl. Matthias M. Tischler: Einharts Vita Karoli. Studien zur Entstehung, Überlieferung und Rezeption. Hannover 2001, S. 118f.
  3. Vgl. Gereon Becht-Jördens: Einharts "Vita Karoli" und die antike Tradition von Biographie und Historiographie. Von der Gattungsgeschichte zur Interpretation. In: Mittellateinisches Jahrbuch 46, 2011, S. 335–369, hier S. 347–356.
  4. Vgl. zur Frühdatierung Rosamond McKitterick: Charlemagne. The Formation of a European Identity. Cambridge u. a. 2008, S. 19–32 (817, spätestens 823); Karl Heinrich Krüger: Neue Beobachtungen zur Datierung von Einhards Karlsvita. In: Frühmittelalterliche Studien 32 (1998), S. 124–145, bes. 145 (bis Sommer 823). Zur Spätdatierung vgl. Steffen Patzold: Ich und Karl der Große. Das Leben des Höflings Einhard. Stuttgart 2013, S. 193–195 (Frühjahr 829); Matthias M. Tischler: Einharts Vita Karoli. Studien zur Entstehung, Überlieferung und Rezeption. Hannover 2001, S. 151–183, bes. 165–178 (828–830).
  5. Vgl. Gereon Becht-Jördens: Einharts "Vita Karoli" und die antike Tradition von Biographie und Historiographie. Von der Gattungsgeschichte zur Interpretation. In: Mittellateinisches Jahrbuch 46, 2011, S. 335–369.
  6. Vgl. den Katalog bei Matthias M. Tischler: Einharts Vita Karoli. Studien zur Entstehung, Überlieferung und Rezeption. Bd. 1, Hannover 2001, S. 17–44, bes. S. 44; Bd. 2, S. 1659–1661.
  7. Vgl. Matthias M. Tischler: Einharts Vita Karoli. Studien zur Entstehung, Überlieferung und Rezeption. Bd. 1, Hannover 2001, S. 590–896.