Waisenhaus

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Das Franckesche Waisenhaus in Halle (Saale), erbaut 1700

Ein Waisenhaus war eine bis ins 20. Jahrhundert verbreitete Einrichtung, in der unversorgte Kinder und Jugendliche wohnten und mit einer pädagogischen Intention betreut wurden.

Geschichte

Waren in der Antike ausgesetzte Kinder rechtlos und wurden häufig versklavt, so galten im Christentum Findelkinder und Waisen seit jeher als besonders schutzwürdig und hilfsbedürftig. Zur Versorgung von Findelkindern entstanden daher vielerorts Findelhäuser, zunächst vor allem in Italien, später auch in Deutschland, zum Beispiel 1341 in Köln, 1471 in Augsburg, 1556 in Leipzig. Die Kinder waren aber auf die Barmherzigkeit von Einzelpersonen angewiesen.[1] Auch für Waisen wurden schon im Mittelalter einzelne eigene Stuben oder Häuser eingerichtet, in denen sie auf Kosten der Bürgerschaft erzogen wurden. Waisenhäuser entwickelten sich aus diesen Findelhäusern, besonders zahlreich seit dem 17. Jahrhundert aus Stiftungen und den Gründungen der Pietisten. Die vier conservatorio genannten Waisenhäuser von Neapel waren im 17. und 18. Jahrhundert mit berühmten Musikschulen gekoppelt: das 1535 gegründete Santa Maria di Loreto, das Sant’Onofrio, die Pietà dei Turchini und das Poveri di Gesù Cristo. Auch in Venedig gab es europaweit berühmte Waisenhäuser für Mädchen, die ebenfalls musikalische Ausbildungsstätten waren, vor allem das Ospedale della Pietà. In Hamburg ist ab 1595 ein erstes Waisenhaus dokumentiert.[2] Erst nach dem Dreißigjährigen Krieg (1618–1648) kam es vermehrt zur Gründung von Anstalten; diese sollten für eine ganze Reihe sozialer Problemfelder gleichzeitig zuständig sein. So macht das 1677 in Braunschweig gegründete „Armen-, Waysen-, Zucht- und Werkhaus“ die Absichten schon in seinem Namen deutlich. Ähnliche Anstalten wurden 1679 in Frankfurt, 1702 in Bamberg, 1716 in Waldheim oder 1736 in Ludwigsburg gegründet. Das 1702 in Berlin gegründete „Große Friedrichshospital“ war vorrangig ein Unterbringungsort für Waisen, Bettler, Invaliden, geistig Gestörte, Aussätzige und erst nachrangig Krankenanstalt.[3]

Gegen Ende des 18./Anfang des 19. Jahrhunderts führten die Philanthropen den berühmten Waisenhausstreit gegen die in den Anstalten herrschenden Missstände und setzten sich für Familienpflege ein. Die Kritik an den Anstalten wurde so laut, dass sie geschlossen wurden. Die Kinder wurden bei Familien untergebracht, jedoch sahen diese meistens nur den „Arbeitswert des Kindes“. Wenn das Kind nicht die gewünschte Leistung lieferte, wurde es zurückgebracht und in einigen Fällen musste es aus der Familie wieder zurückgeholt werden. Da die Unterbringung in den Familien nicht die ideale war, ging der „Waisenhausstreit“ weiter. Das strikte Familienprinzip führte zu neuen Missständen, sodass eine Reform der Anstalten angestrebt wurde, um die sich besonders Johann Heinrich Pestalozzi verdient machte. Der Ruf nach besseren Waisenhäusern wurde lauter und viele Veränderungen besprochen. Zum Beispiel wurde von ausreichender Ernährung gesprochen, jedes Kind sollte sein eigenes Bett bekommen. Die Arbeitsstunden sollten auf drei oder vier Stunden heruntergesetzt werden. Weiterhin soll es zur Förderung der Gesundheit jeden Tag Gymnastik für die Kinder geben.[4][5][6]

In Preußen dienten Militärwaisenhäuser zur Aufnahme von Waisenkindern evangelischer Konfession, die während des aktiven Militärdienstes der Väter geboren waren. Von den Militärwaisenhäusern wurde 1829 eine Tochteranstalt für Mädchen in Pretzsch abgezweigt. Die römisch-katholischen Kinder wurden im Erfurter Waisenhaus erzogen.

1844 gründete Clara Fey den Orden „Schwestern vom armen Kinde Jesus“. 1872 (in diesem Jahr begann der Kulturkampf, der bis 1887 währte) lebten in 27 Niederlassungen des Ordens in Preußen rund 600 Schwestern. Dazu kamen Häuser in Österreich und Luxemburg. Die Tätigkeit der Schwestern erweiterte sich von Schulen und Internaten zu Waisenhäusern, Kindergärten, Handelsschulen, Frauenfachschulen und anderen Instituten zur Betreuung vor allem von Mädchen. 1886 eröffnete das Hyrtl’sche Waisenhaus in Mödling/Niederösterreich.

Später nannte man Waisenhäuser „Kinderheime“ oder „kinder- und jugendpädagogische Einrichtung“.[7] Unter Heimerziehung versteht man Hilfe zur Erziehung in einer Einrichtung, in der Kinder und Jugendliche Tag und Nacht wohnen und pädagogisch betreut werden, um sie in ihrer Entwicklung zu fördern. Früher stand der Fürsorgegedanke im Vordergrund, später das Partizipationsprinzip.

In den Jahren 1966/1967 verbreitete Luise Rinser in ihrem Roman Ich bin Tobias und in ihrem Buch Zölibat und Frau das Gerücht („sagt man“), in Belgien und andernorts gebe es eigens für Priesterkinder errichtete Heime. Sie beklagte das damit verbundene Schicksal dieser Kinder, als elternlose Kinder aufwachsen zu müssen.[8]

Weitere Entwicklung

Während sich vielfach bauliche Zeugnisse erhalten haben, hat sich die Institution im Bezug auf Name und Organisation an die gesamtgesellschaftliche Entwicklung angepasst.

Die Bezeichnung Waisenhaus ist heute nicht mehr gebräuchlich, da der Grund für die Unterbringung von Kindern und Jugendlichen in Einrichtungen außerhalb der Herkunftsfamilie in der Regel nicht die Elternlosigkeit der Kinder ist. Vielmehr erfolgt die Unterbringung, weil die Bedingungen im Elternhaus dem Kindeswohl entgegenstehen. Teilweise werden solche Kinder als Sozialwaisen bezeichnet. In der Heimerziehung herrscht heute das Bemühen vor, durch kleine Einheiten möglichst familienähnliche Bedingungen für die Kinder zu schaffen. Die heute gängige Bezeichnung ist meist Kinderheim. Betreuende Jugendämter sind in der Regel (alternativ) auch daran interessiert, Heimkinder in Pflegefamilien zu vermitteln.

Liste bekannter Waisenhäuser

Chronologisch sortiert gehören folgende Waisenhäuser zu den im Wesentlichen im 17. und 18. Jahrhundert zahlreich gegründeten Einrichtungen:

Das Oranienburger Waisenhaus
  • Das Seelhaus wurde um 1435 gegründet und bekam 1588 als Stiftung eine Umwandlung als „Armenkinder-Waisenanstalt“ in Bamberg.[9]
  • Nach einer verheerenden Hungersnot gründeten Philanthropen 1546 das Lübecker Waisenhaus.[10][11]
  • Ein städtisches Waisenhaus wurde in Augsburg als Stiftung im Jahr 1572 gegründet.[12][13]
  • Das Münchner Waisenhaus wurde 1625 als Bürgerwaisenhaus ins Leben gerufen und war seit 1809 eine Waisenhausstiftung.[14] Heute wird dort eine moderne Kinder- und Jugendfürsorge mit ca. 122 Plätzen bewerkstelligt.
  • Das Oranienburger Waisenhaus wurde als Stiftung in der Mark Brandenburg im Jahr 1665 gegründet.[15]
  • Im selben Jahr 1665 wurde in Mainz der Hof zum Homberg als Waisenhaus eingerichtet. Es war damals das erste Institut dieser Art im Kurfürstentum Mainz.
  • Das Waisenhaus in Varel konnte 1669 als Stiftung gegründet werden.[16]
  • Das Waisenhaus in Basel wurde als Bürgerliche Stiftung im Jahr 1669 gegründet.[17]
  • Das Waisenhaus in Frankfurt am Main wurde als Stiftung 1679 gegründet.[18]
  • Das St.-Petri-Waisenhaus in Bremen konnte als Stiftung im Jahr 1692 gegründet werden.[19]
Das einstige Waisenhaus des ehemaligen Klosters Oetenbach in Zürich
  • Das Rauhe Haus wurde als Waisenhaus Stiftung am 12. September 1833 in Hamburg gegründet.[37] Das Rauhe Haus hat heute im Großraum Hamburg etwa 100 Adressen von stationären Hilfen in Wohngemeinschaften, Wohngruppen und Einrichtungen sowie der ambulanten Hilfen für die Kinder- und Jugendhilfe.
  • Die Moses Mendelssohn’sche Waisen-Erziehungs-Anstalt der jüdischen Gemeinde zu Berlin wurde am 1. Juli 1836 eröffnet.[38]
  • Griechisches Waisenhaus Prinkipo ist ein historisches Gebäude auf der türkischen Insel Büyükada. Mit 20.000 Quadratmetern Nutzfläche ist es das größte Gebäude aus Holz in Europa und das zweitgrößte der Welt.

Weitere Waisenhäuser

Siehe auch

Literatur

  • Markus Meumann: Findelkinder, Waisenhäuser, Kindsmord – unversorgte Kinder in der frühneuzeitlichen Gesellschaft. Oldenbourg, München 1995, ISBN 978-3-486-56099-2 (Zugleich Dissertation an der Universität Göttingen 1993).
  • Katrin Zimmermann-Kogel, Norbert Kühne: Aspekte der Heimerziehung. in: Praxisbuch Sozialpädagogik. Band 4, Bildungsverlag EINS, Troisdorf 2007, ISBN 978-3-427-75412-1.
  • Ulrich Eisenbach: Zuchthäuser, Armenanstalten und Waisenhäuser in Nassau. Fürsorgewesen und Arbeitserziehung vom 17. bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Historische Kommission für Nassau : Wiesbaden 1994. ISBN 978-3-922244-95-0.

Weblinks

Commons: Waisenhaus – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien
Wiktionary: Waisenhaus – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

  1. Markus Meumann: Findelkinder, Waisenhäuser, Kindsmord: Unversorgte Kinder in der frühneuzeitlichen Gesellschaft. Wissenschaftsverlag Oldenbourg 1995, ISBN 3-486-56099-9, S. 180f.
  2. Staatsarchiv Hamburg.354-1 Waisenhaus, 1575-1926
  3. Notker Hammerstein, Christa Berg: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. C. H. Beck, 2005, ISBN 3-406-32464-9, S. 430/31
  4. Geschichte der Heimerziehung. In: Heimkinder (JsB), Philo Wiki (Memento vom 14. Dezember 2013 im Internet Archive)
  5. A. Mehringer: Heimkinder. Gesammelte Aufsätze zur Geschichte und zur Gegenwart der Heimerziehung. 4. Auflage. Reinhardt, München und Basel 1994.
  6. J. Jacobs: Der Waisenhausstreit: ein Beitrag zur Geschichte der Pädagogik des 18. und 19. Jahrhunderts. Trute 1931
  7. Zum Beispiel stadt-koeln.de
  8. Luise Rinser: Ich bin Tobias. 1966, S. 160; Zölibat und Frau. 1967, S. 22.
  9. Geschichte zum Waisenhaus Bamberg (siehe „Waisenhaus-Stiftung“).
  10. Das Waisenhaus zu Lübeck 1546–1929. Umgestaltung der Anstalt. In: Vaterstädtische Blätter. Nr. 14, Jahrgang 1929/30, Ausgabe vom 14. April 1929.
  11. Verlag Gebrüder Borchers: Festschrift zum 300jährigem Bestehen der Anstalt aus dem Jahre 1847.
  12. Evangelisches Waisenhaus Augsburg (Memento vom 16. Mai 2011 im Internet Archive)
  13. Geschichte der Katholischen Waisenhaus-Stiftung Augsburg (Memento vom 31. März 2012 im Internet Archive)
  14. Träger des Münchner Waisenhauses ist seit 1809 die Waisenhausstiftung. (Memento vom 9. März 2009 im Internet Archive)
  15. sehenswuerdigkeiten/waisenhaus.html Oranienburger Waisenhaus Stiftung
  16. Stiftung Waisenhaus in Varel (Memento vom 16. Februar 2008 im Internet Archive) auf varel.de
  17. Bürgerliches Waisenhaus Basel (Memento vom 21. November 2007 im Internet Archive)
  18. Stiftung Waisenhaus Frankfurt am Main
  19. St.Petri Waisenhaus in Bremen
  20. Markus Meumann: Universität und Sozialfürsorge zwischen Aufklärung und Nationalsozialismus – das Waisenhaus der Theologischen Fakultät in Göttingen 1747–1938, 1997, S. 18
  21. Martini-Kirche (Memento vom 12. Januar 2014 im Internet Archive)
  22. Stefan Wolter: "Bedenket das Armuth" – das Armenwesen der Stadt Eisenach im ausgehenden 17. und im 18. Jahrhundert – Almosenkasse, Waisenhaus, Zuchthaus, 2003
  23. Markus Meumann: Universität und Sozialfürsorge zwischen Aufklärung und Nationalsozialismus – das Waisenhaus der Theologischen Fakultät in Göttingen 1747–1938, 1997, S. 18
  24. Franckesche Stiftungen von 1698 in Halle a.d. Saale (Memento vom 22. September 2008 im Internet Archive)
  25. Monecke, Erhard; Peterseim, Christiane; Riese, Johanna (Hrsg.): 300 Jahre Stiftung des Waisenhauses zu Heiligenstadt 1706–2006. Heiligenstadt 2005
  26. H. L. Harland: Geschichte der Stadt Einbeck, Band 2, 1858, S. 412
  27. Einbecker Waisenhaus wurde 1713 mit 15 Kindern gegründet
  28. Markus Meumann: Universität und Sozialfürsorge zwischen Aufklärung und Nationalsozialismus – das Waisenhaus der Theologischen Fakultät in Göttingen 1747–1938, 1997, S. 18
  29. Waisenhaus St. Johann der Anne Maria Steffen Stiftung in Osnabrück
  30. Geschichte des Königlichen Potsdamschen Militärwaisenhauses von seiner Entstehung bis auf die jetzige Zeit. Ernst Siegfried Mittler, Berlin/ Posen 1824. (E-Book: Potsdam 2010, ISBN 978-3-941919-74-7)
  31. Großes Militärwaisenhaus zu Potsdam (Memento vom 16. Februar 2013 im Internet Archive)
  32. Johann Wolf: Geschichte des Geschlechts von Hardenberg, Band 2, 1823, S. 254
  33. Franz Heinrich Ungewitter: Neueste Erdbeschreibung und Staatenkunde, 1858, S. 428
  34. Hans Hesse: Das Frauen-KZ Moringen 1933–1938, 2000, S. 18
  35. Markus Meumann: Universität und Sozialfürsorge zwischen Aufklärung und Nationalsozialismus – das Waisenhaus der Theologischen Fakultät in Göttingen 1747–1938, 1997, S. 18
  36. Fürstin-Franziska-Christine-Stiftung in Stelle (Essen) (Memento vom 14. Februar 2015 im Internet Archive)
  37. Rauhe Haus Stiftung in Hamburg (Memento vom 28. Oktober 2011 im Internet Archive)
  38. Die Moses Mendelssohn’sche Waisen-Erziehungs-Anstalt der hiesigen jüdischen Gemeinde Berlin, 1841, Online-Ausg., Univ.-Bibliothek, Frankfurt am Main 2013