Westgermanische Sprachen

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Westgermanische Sprachen sind eine Untergruppe der germanischen Sprachen, welche unter anderem Englisch, Hochdeutsch, Niederländisch, Afrikaans, Niederdeutsch, Friesisch und Jiddisch umfasst. Eine ausführliche Liste der Einzelsprachen findet sich am Ende dieses Artikels.

Frühe Schriftzeugnisse

Bereits durch das antike Schrifttum, etwa durch die Germania des Tacitus, werden (west-)germanische Namen von Stämmen, Göttern und Personen in latinisierter Form überliefert, dazu einige wenige Wörter wie urus (Auerochse), glesum (Bernstein), ganta (Gans) und sapo (Schminke). Das früheste autochthone Schriftzeugnis des Westgermanischen ist der Kamm von Frienstedt mit einer Runeninschrift aus dem 3. Jahrhundert n. Chr., der jedoch weitgehend isoliert dasteht.[1] Bekannt sind etwa 80 weitere Runeninschriften aus westgermanischem Gebiet aus der Zeit bis ins 7. Jahrhundert, in dem dann mit der Christianisierung die Runentradition abbricht.

Eine kaum dichtere Überlieferung westgermanischen Sprachguts in fragmentarischen schriftlichen Zeugnisse setzt ab dem 6. Jahrhundert ein. Aus dieser Zeit stammt beispielsweise die Lex Salica, ein im westlichen Teil des Frankenreiches entstandener lateinischer Text, der einzelne Wörter germanischen Ursprungs enthält, die aus der später ausgestorbenen altfränkischen Sprache stammen.

Mit dem 8. Jahrhundert beginnt die Überlieferung ganzer Texte. So sind in diesem Jahrhundert erstmals altenglische Texte belegt, wobei jedoch die bekannteste Quelle des Altenglischen, das Heldengedicht Beowulf, nur in einem Manuskript aus der Zeit um 1000 überliefert ist. Ebenfalls ab dem 8. Jahrhundert belegt sind auch Texte in Altbairisch, Altalemannisch und Altoberfränkisch, jenen westgermanischen Varianten, die auch unter dem Begriff Althochdeutsch zusammengefasst werden. Ab dem 9. Jahrhundert sind auch Texte in Altsächsisch überliefert, der Vorgängersprache des Niederdeutschen, hier insbesondere die Genesis und der Heliand. Altfriesisch ist erst seit dem 13. Jahrhundert durch schriftliche Quellen belegt.

Die Frage nach der Existenz einer westgermanischen Ursprache

Die westgermanischen Sprachen um 580 n. Chr.

Angesichts fehlender westgermanischer Texte aus der Völkerwanderungszeit ist nicht gesichert, ob es je eine annähernd einheitliche westgermanische Sprache (Protowestgermanisch) gegeben hat. Den aktuellen Forschungsstand formuliert der US-amerikanische Altgermanist Don Ringe so:

„Dass das Nordgermanische eine in sich geschlossene Untergruppe [des Germanischen] ist, ist völlig offensichtlich, da alle seine Dialekte eine lange Folge gemeinsamer Innovationen teilen, einige davon wirklich frappierend. Dass dasselbe auch für das Westgermanische gilt, wurde zwar bestritten, aber ich werde […] aufzeigen, dass sämtliche westgermanischen Sprachen einige höchst ungewöhnliche Innovationen teilen, die uns nachgerade dazu zwingen, einen westgermanischen evolutionären Zweig [Orig. (engl.):

] anzusetzen [vgl. dazu auch Faktoren für Sprachwandel]. Freilich ist die interne Untergruppierung sowohl des Nord- als auch des Westgermanischen reichlich verworren, und es erscheint klar, dass sich beide Unterfamilien in ein Netz von Dialekten diversifiziert haben, die lange in Kontakt miteinander geblieben sind (in einigen Fällen bis in die Gegenwart).“[2]

Die von Ringe hier angekündigte Grundlagenarbeit über das Protowestgermanische ist unterdessen im Herbst 2014 erschienen.[3]

Untergliederung

Traditionelle Einteilung

Die früher übliche Gliederung der westgermanischen Sprachen teilte diese in einen anglo-friesischen und einen kontinentalgermanischen Zweig. Die anglo-friesischen Sprachen wurden weiter in anglische Sprachen (mit Englisch als Hauptvertreter) und friesische Sprachen unterteilt. Demgegenüber standen die kontinentalwestgermanischen Sprachen mit den hochdeutschen (mit den ober- und mitteldeutschen Dialekten sowie Jiddisch), niederdeutschen (u. a. Niedersächsisch) Sprachformen und das Niederländische.

Die Abgrenzung des Anglo-Friesischen wurde aufgrund einiger besonderer Lautentwicklungen vorgenommen, wie etwa der Entwicklung des Konsonanten k vor palatalen Vokalen zu einem Frikativ (Beispiele: Deutsch Käse, Niederländisch kaas – Englisch cheese, Friesisch tsiis; Deutsch Kirche, Niederländisch kerk – Englisch church, Friesisch tsjerke) und durch den Wegfall von Nasalen vor Frikativen unter Ersatzdehnung (Beispiele: Deutsch fünf – Englisch five; Deutsch Mund – Englisch mouth). Viele dieser Merkmale finden sich aber, insbesondere in frühen Sprachstufen, auch in anderen westgermanischen Varietäten, daher wird diese traditionelle Einteilung seit Jahrzehnten von der Mehrheit der Sprachwissenschaftler abgelehnt.[4]

Das Westgermanische im Rahmen von Maurers Einteilung

Historische Sprachverwandtschaft der frühgermanischen Innovationszentren. In diesem Schema sind sprachliche Einheiten, die verschiedenen Epochen angehören synoptisch und daher ohne chronologische Dimension verflacht wiedergegeben.[5]
Legende:
  • 1. Nordseegermanisch, Vorstufe des Altsächsischen, Altfriesischen und Altenglischen.
  • 2. Nordgermanisch, Vorstufe des Altnordischen.
  • 3. Ostgermanisch, Vorstufe des Gotischen und der übrigen ostgermanischen Sprachen
  • 4. Elbgermanisch, Vorstufe des Altoberdeutschen und vielleicht des Langobardischen.
  • 5. Weser-Rhein-Germanisch, Vorstufe des Altfränkischen bzw. Altniederländischen.
  • In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist neben die traditionelle Einteilung aller germanischen Sprachen in drei (west-, ost- und nordgermanisch) eine Einteilung in fünf Untergruppen getreten. Diese Einteilung wurde 1943 von Friedrich Maurer auf der Basis archäologischer Funde, die er mit sprachlichen Daten in Verbindung brachte, vorgeschlagen. Er nimmt für die Zeitenwende fünf Sprach- und Kulturgruppen an:

    • Nordgermanen in Skandinavien
    • Nordseegermanen (Friesen, Angeln, Sachsen)
    • Weser-Rhein-Germanen (ein Teil von ihnen ging später in den Sachsen auf; aus den Weser-Rhein-Germanen entstand der Hauptteil der Franken)
    • Elbgermanen (unter anderem: die späteren Langobarden, Baiern und Alemannen)
    • Oder-Weichsel-Germanen (früher Ostgermanen genannt; Goten und andere Völker)

    Maurer lehnte in der Folge die damals geläufigen Begriffe (Ur)deutsch und Anglo-Friesisch ab, solange es sich dabei um alte Einheitssprachen handeln soll. Das Deutsche ist in seinem Modell kein alter Ausgangszustand, sondern das Ende einer Sprachentwicklung; das Deutsche ist also ein Verschmelzungsprodukt aus verschiedenen „westgermanischen“ Quellen. Dies gilt ebenfalls für die Begriffe Oberdeutsch und Niederdeutsch. Das Stammbaummodell, das der traditionellen Einteilung zugrunde liegt, lehnen er und andere ab, weil es ihrer Ansicht nach die Zusammenhänge zwischen den germanischen Sprachen nicht genau genug darstellen kann.

    Die Rolle des Westgermanischen in dieser Einteilung wird von den Sprachwissenschaftlern allerdings unterschiedlich bewertet: teils sind die Sprachen von Nordseegermanen, Weser-Rhein-Germanen und Elbgermanen der Ersatz für das Westgermanische, sodass die Fünfer-Einteilung nur eine Verfeinerung der traditionellen Dreier-Einteilung ist; teils wird das Westgermanische als Spracheinheit abgelehnt, weil die Sprachen dieser drei Gruppen zu uneinheitlich sind.

    Überhaupt hat Maurers Methode, auf den Ergebnissen der frühgeschichtlichen Archäologie Sprachgeschichte aufzubauen, eine heftige und bis heute nicht abgeschlossene Diskussion hervorgerufen.[6] Früher ging man davon aus, dass archäologische Funde eindeutig mit bestimmten „Völkern“ in Verbindung gebracht werden könnten. In jüngerer Zeit wird dies hinterfragt, so dass letztlich umstritten ist, ob beispielsweise die „Elbgermanen“ aufgrund ihrer gemeinsamen materiellen Kultur als eine geschlossene Gruppe angesprochen werden können.[7] Eng verbunden ist damit die sprachliche Frage: Verschiedentlich postulierte kulturelle und sprachliche Gemeinsamkeiten zwischen Alamannisch und Nordgermanisch können jedenfalls genauso gut so erklärt werden, dass diese sich an der Peripherie der Germania erhalten haben, sie müssen also nicht zwangsläufig als alter gemeinsamer Besitz in einer ursprünglichen Nachbarschaft gedeutet.[6]

    Liste der westgermanischen Sprachen

    Einteilung der germanischen Sprachen bzw. Dialekte
  • Linie zwischen Nord- und Westgermanisch
  • Nordgermanische Sprachen
  • Isländisch
  • Färöisch
  • Norwegisch nynorsk
  • Norwegisch bokmål
  • Schwedisch
  • Dänisch
  • Westgermanische Sprachen
  • Scots
  • Englisch
  • Friesisch
  • Niederländisch
  • Niederdeutsch
  • Mitteldeutsch
  • Oberdeutsch
  • Großgliederung der kontinentaleuropäischen Mundarten westgermanischer Abkunft.[8][9][10][11]

    Legende:
  • Niederfränkische Varietäten:
  • 1. Zentralniederländisch 2. Westflämisch 3. Brabantisch 4. Limburgisch 5. Niederrheinisch (dt. Dachsprache)
  • Friesische Varietäten:
  • 6. Westfriesisch 7. Saterfriesisch 8. Nordfriesisch
  • Niederdeutsche Varietäten:
  • 9. Overijssels (ndl. Dachsprache) 10. Gronings (ndl. Dachsprache) 11. Westfälisch 12. Nordniederdeutsch 13. Ostfälisch 14. Mecklenburgisch-Vorpommersch 15. Brandenburgisch 16. Mittelpommersch
  • Mitteldeutsche Varietäten:
  • 17. Ripuarisch 18. Luxemburgisch (lux. Dachsprache) 19. Moselfränkisch 20. Rheinfränkisch 21. Zentralhessisch 22. Nordhessisch 23. Osthessisch 24. Thüringisch 25. Nordobersächisch 26. Südmärkisch 27. Obersächsisch
  • Oberdeutsche Varietäten:
  • 28. Ostfränkisch 29. Nordbairisch 30. Mittelbairisch 31. Südbairisch 32. Schwäbisch 33. Niederalemannisch 34. Mittelalemannisch 35. Hochalemannisch 36. Höchstalemannisch

  • Isoglosse der niederländischen und deutschen Standardsprachen.
  • Der Bereich, in dem simultan zwei Dachsprachen benutzt werden (Luxemburgisch/Deutsch und Westfriesisch/Niederländisch), ist schwarz-weiß umrandet.
  • Folgende lebende, ausgestorbene (†) oder durch neuere Sprachstufen ersetzte (†) Sprachen aus der Familie der germanischen Sprachen zählen zu den westgermanischen Sprachen:

    Siehe auch

    Literatur

    • Wolfram Euler: Das Westgermanische – von der Herausbildung im 3. bis zur Aufgliederung im 7. Jahrhundert – Analyse und Rekonstruktion. Verlag Inspiration Un Limited, London/Berlin 2013, ISBN 978-3-9812110-7-8.
    • Wolfram Euler: Die Herausbildung von Übergangsdialekten und Sprachgrenzen. Überlegungen am Beispiel des Westgermanischen und Nordischen. Inst. für Sprachen u. Literaturen d. Univ. Innsbruck, Abt. Sprachwiss., Innsbruck 2002, ISBN 3-85124-687-X.
    • Werner König: dtv-Atlas Deutsche Sprache. 14. Auflage. dtv, München 2004 (1. Aufl. 1978), ISBN 3-423-03025-9.
    • Friedrich Maurer: Nordgermanen und Alemannen. Studien zur germanischen und frühdeutschen Sprachgeschichte, Stammes- und Volkskunde (= Bibliotheca Germanica. 3). 3., überarb. und erw. Auflage. Francke, Bern 1952 (erste Auflage 1942).
    • Hermann Niebaum, Jürgen Macha: Einführung in die Dialektologie des Deutschen (= Germanistische Arbeitshefte. 37). 2., neubearb. Aufl. Tübingen: Niemeyer, 2006, ISBN 978-3-484-26037-5.
    • Donald Ringe, Ann Taylor: The Development of Old English. A Linguistic History of English. Band 2: The development of Old English. Oxford 2014, ISBN 978-0-19-920784-8.
    • Wilhelm Schmidt: Geschichte der deutschen Sprache. Ein Lehrbuch für das germanistische Studium. 10. Auflage. Hirzel, Stuttgart 2007, ISBN 3-7776-1432-7.
    • Stefan Sonderegger: Althochdeutsche Sprache und Literatur. Eine Einführung in das älteste Deutsch. 3., durchges. u. wesentl. erw. Aufl. Walter de Gruyter, Berlin u. a. 2003, ISBN 3-11-017288-7.
    • Patrick V. Stiles: Place-adverbs and the development of Proto-Germanic long *ē1 in early West Germanic. In: Irma Hyvärinen u. a. (Hrsg.): Etymologie, Entlehnungen und Entwicklungen. Mémoires de la Soc. Néophil. de Helsinki 63 (2004), S. 385–396.
    • Patrick V. Stiles: The Pan-West Germanic Isoglosses and the Subrelationships of West Germanic to Other Branches. In: Unity and Diversity in West Germanic. Band I. Special issue of NOWELE 66:1 (2013), S. 5 ff.
    • Hilkert Weddige: Mittelhochdeutsch. Eine Einführung. 6. Aufl. Beck, München 2004, ISBN 3-406-45744-4.
    • Peter Wiesinger: Schreibung und Aussprache im älteren Frühneuhochdeutschen: zum Verhältnis von Graphem – Phonem – Phon am bairisch-österreichischen Beispiel von Andreas Kurzmann um 1400 (= Studia linguistica Germanica. 42). Walter de Gruyter, Berlin / New York 1996, ISBN 3-11-013727-5; online lesen bei Google Books.

    Weblinks

    Commons: Westgermanische Sprachen – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

    Anmerkungen

    1. ZBSA News Archiv 2012: Sensationsfund am ZBSA: Ältester Nachweis der westgermanischen Sprache.
    2. Don Ringe: From Proto-Indo-European to Proto-Germanic : A Linguistic History of English. Vol. I, Oxford 2006, S. 213 f.; zitiert nach Euler (2013), S. 37.
    3. Donald Ringe, Ann Taylor: The Development of Old English. A Linguistic History of English. Band 2: The development of Old English. Oxford 2014, ISBN 978-0-19-920784-8.
    4. Herbert L. Kufner: The grouping and separation of the Germanic languages. In: Frans van Coetsem and Herbert L. Kufner: Toward a Grammar of Proto-Germanic. Max Niemeyer Verlag, Tübingen 1972, ISBN 3-484-45001-X, alt. ISBN 3-484-10160-1; S. 94.
    5. Paulo Ramat: Einführung in das Germanische. Walter de Gruyter, Berlin 2011, ISBN 978-3-484-10411-2, S. 6.
    6. a b Heinrich Beck: Elbgermanen. § 6: Sprachliches. In: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde. Band 7. Walter de Gruyter, Berlin / New York 1989, ISBN 3-11-011445-3, S. 113 f.
    7. Siehe zur Diskussion etwa Heiko Steuer: Theorien zur Herkunft und Entstehung der Alemannen: archäologische Forschungsansätze. In: Dieter Geuenich (Hrsg.): Die Franken und die Alemannen bis zur „Schlacht bei Zülpich“ (496/97). Walter de Gruyter, Berlin / New York 1998, S. 270–324.
    8. W. Heeringa: Measuring Dialect Pronunciation Differences using Levenshtein Distance, University of Groningen, 2009, S. 232–234.
    9. P. Wiesinger: Die Einteilung der deutschen Dialekte. In: Dialektologie. Ein Handbuch zur deutschen und allgemeinen Dialektforschung, Berlin, New York, S. 807–900
    10. W. König: dtv-Atlas Deutsche Sprache, 2019, München, S. 230.
    11. C. Giesbers: Dialecten op de grens van twee talen, Radboud Universiteit Nijmegen, 2008, S. 233.