Kohlekrise
Der Begriff Kohlekrise (umgangssprachlich auch Zechensterben) beschreibt den Niedergang des Steinkohlenbergbaus in West- und Mitteleuropa.
'Kohlekrise' nannte man auch einen krisenhaften Mangel an Kohle, zum Beispiel während des Ersten Weltkrieges. In Österreich gab es nach dem Zerfall Österreich-Ungarns am Kriegsende 1918 eine Kohlekrise, weil die für Österreich wichtigen Kohlelager in Böhmen nun in der Tschechoslowakei lagen und deren Regierung die Kohle nicht für den Export nach Österreich freigab.[1]
Ursachen
Als Ursachen der Kohlekrise galten und gelten unter anderem:
- Die Bundesrepublik zahlte bis zum Jahr 1957 den Steinkohlebergwerken Subventionen, um einem befürchteten Kohlemangel entgegenzuwirken. Nach der Währungsreform hatte in Westdeutschland ein Wirtschaftswunder begonnen; die Produktion der Nachkriegsindustrie wuchs, die Bautätigkeit war rege. Die Subventionen waren ein Anreiz für die Bergwerke, ihre Produktion zu steigern. Als die geförderte Kohlemenge die Nachfrage überstieg, wurde zeitweise auf Halde produziert.
- Nach dem Krieg war Erdöl jahrzehntelang (bis 1973, als die erste Ölpreiskrise begann) sehr billig. Zunächst belegte die Regierung Adenauer Erdöl mit einem Schutzzoll; später schaffte sie diesen ab. Die Nachfrage nach Erdöl stieg in Haushalten, im Verkehrssektor und in der Industrie; die Nachfrage nach Steinkohle sank. Der Anteil der Kohle am Energiemarkt sank von 1950 bis 1964 von ca. 87 % auf 60 %; später sank er noch weiter.
- Deutsche Steinkohle war teurer als ausländische Steinkohle. Das hatte mehrere Gründe:
- Die geologischen Bedingungen zur Förderung der Steinkohle waren nicht (mehr) optimal. Nach Norden hin liegen die Kohleflöze tiefer als im südlichen Ruhrgebiet. Die Kohle wird in Teufen von bis zu 1000 Metern abgebaut; dagegen kann in anderen Ländern die Steinkohle bisweilen in Oberflächennähe oder im Tagebau abgebaut werden.
- Westdeutsche Bergleute erhielten deutlich höhere Löhne als Bergleute in anderen Ländern.
- Durch sinkende Transportkosten als Folge größerer Massengutfrachter und besserer Infrastruktur wurden die Förderkosten ausschlaggebend für den Steinkohlenabsatz.
- Durch den steigenden Braunkohle- und Kernenergiekraftanteil an der Energieerzeugung sank der westdeutsche Steinkohlenbedarf von Beginn der 1960er bis Ende der 1990er Jahre (von 120 Millionen Tonnen auf etwa 70 Millionen Tonnen). In den Jahren 1975 bis 1989 gingen in Deutschland 17 große Kernreaktoren ans Stromnetz.
Verlauf
Als Beginn der Kohlekrise gelten allgemein die Jahre 1957 und 1958, als vor allem im Ruhrgebiet unversehens große Haldenbestände an Kohle anfielen – die Bergwerke förderten mehr Kohle als nachgefragt wurde. Es gab „Feierschichten“ (Schichten fielen aus) und später Zechen-Stilllegungen.
Am 31. Januar 1959 schloss die Zeche Lieselotte bei Hattingen. Das Aus für die Zeche Friedrich Thyssen 4/8 in Duisburg-Hamborn schreckte die Öffentlichkeit auf. In der Folge wurden zunächst kleinere, ältere und unrentable Gruben vor allem im Süden des Ruhrgebiets geschlossen, später auch große Gruben. Es begann eine jahrzehntelange Krise der Montanindustrie, in der Zechen, Hochöfen und Stahlwerke geschlossen wurden.
Einen ersten Höhepunkt erreichte die Kohlekrise 1963, als dreizehn Zechen (Zeche Centrum, Zeche Dorstfeld, Zeche Fröhliche Morgensonne u. a.) geschlossen wurden und rund 10.000 Bergleute ihren Arbeitsplatz verloren. Bis 1978 gab es in früheren Bergbaustädten wie Bochum, Essen, Herne oder Wattenscheid so gut wie keine Bergwerke mehr. 1968 schlossen sich die Zechen des Ruhrgebiets zur Ruhrkohle-AG (RAG – heutige RAG Aktiengesellschaft) zusammen, um auf die Krise effektiver reagieren zu können. Die finanziellen Verluste der RAG werden von der öffentlichen Hand ausgeglichen, die Gewinne und die Grundstücke verbleiben bei den Zechen.
In den folgenden Jahren kam es zu zahlreichen Streiks und Mahnwachen von Bergleuten, die gegen den Verlust von Arbeitsplätzen protestierten. So kam es 1987 beispielsweise zu einem Streik von etwa 100.000 Bergleuten, die anlässlich der geplanten Schließung zweier Hochöfen des Krupp-Stahlwerks in Duisburg-Rheinhausen ihre Arbeit niederlegten (Besetzung einer Rheinbrücke: Brücke der Solidarität, zeitweilige Blockade von Autobahnen). Die Streiks, Menschenketten und Fackelzüge der nächsten Jahre verhinderten jedoch nicht die Schließung weiterer Standorte der Montanindustrie, so dass sich die Zahl der Zechen im Ruhrgebiet bis 1998 auf elf und bis 2007 auf sechs reduzierte. Anfang 2012 waren in Nordrhein-Westfalen noch vier Zechen in Betrieb: das Bergwerk West in Kamp-Lintfort wurde Ende 2012 und die Auguste Victoria in Marl wurde Ende 2015 stillgelegt, Bergwerk Ibbenbüren und Prosper-Haniel in Bottrop folgten 2018, als letzte Zechen in Deutschland. Im Aachener Revier wurde die letzte Zeche bereits 1997 geschlossen, die letzte Grube im Saarrevier, das Bergwerk Saar, stellte die Förderung zum 30. Juni 2012 ein.
Folgen
- Im Herbst 1965 kam es in der Bundesrepublik trotz vormals florierender Wirtschaft zu einem Einbruch der Konjunktur und damit zur ersten Rezession in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Als Grund dafür gilt unter anderem die Kohlekrise, die zu dieser Zeit einen signifikanten Teil der bundesdeutschen Industrie betraf.
- Als positive, langfristige Folge darf die Umstrukturierung der Industrie des Ruhrgebiets angesehen werden. So wird seit den 1980er Jahren verstärkt Informations- und Kommunikationsindustrie sowie die Umwelttechnik gefördert (Ausbau des tertiären Wirtschaftssektors).
Literatur
- Akademie für Raumforschung und Landesplanung (Hrsg.): Deutscher Planungsatlas. Band 1: Herbert Reiners (Red.): Nordrhein-Westfalen, Lieferung 21: Steinkohle. Kohlenwirtschaft im Ruhrgebiet und im Aachener Steinkohlenrevier, Eigentumsverhältnisse, Zechenbelegschaft und Strukturwandel. Vincentz, Hannover 1979, ISBN 3-507-91432-8.
- Wilhelm Hermann, Gertrude Hermann: Die alten Zechen an der Ruhr. Vergangenheit und Zukunft einer Schlüsseltechnologie. Mit einem Katalog der „Lebensgeschichten“ von 477 Zechen (Reihe Die Blauen Bücher). Verlag Langewiesche Nachfolger, Königstein im Taunus, 6., um einen Exkurs nach S. 216 erweiterte und in energiepolitischen Teilen aktualisierte Auflage 2008, ISBN 978-3-7845-6994-9, S. 95–101.
- Hans Ulrich Lücke (u. a.): Thesen zur Steinkohlenwirtschaft. Entwicklung und Tendenzen. Kommunalverband Ruhrgebiet, Essen 1983, ISBN 3-9234-9441-6.
- Meinhard Miegel: Kurswechsel in der Kohlepolitik? Schlußfolgerung aus einer Diskussion. Verlag Bonn Aktuell, Bonn 1986, ISBN 3-8795-9268-3.
- Christoph Nonn: Die Ruhrbergbaukrise. Entindustrialisierung und Politik 1958–1969, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001, ISBN 978-3-525-35164-2
- WAZ Chronik des Ruhrgebiets, Harenberg, Essen 1987
- Europäisches Parlament (Generaldirektion Wissenschaft): Die Kohle und der Binnenmarkt für Energie. September 1991, Reihe 'Energie und Forschung Nr. 11', ISBN 92-823-0301-2 (siehe europa.eu: Link zu pdf (140 Seiten))
- Europäische Kommission / Eurostat: Kohle 2005–2006
- Europäische Kommission / Eurostat: Der Kohlenbergbau in der Europäischen Union in den Jahren 2004 und 2005
- Europäische Kommission / Eurostat: Der Kohlenbergbau in der Europäischen Union im Jahre 2002 (Kohleförderung ging um 8 % zurück)
- Liste weiterer EU-Veröffentlichungen zu Kohle, Öl und Gas: 239 Liste von Veröffentlichungen
Weblinks
- www.route-industriekultur.ruhr – Umfassende Informationen zur Geschichte der Kohleindustrie und der Kohlekrise
- Webpräsenz der Deutschen Steinkohle AG
Einzelnachweise
- ↑ derstandard.at: Grenzen hoch: Welche Lehren der Kollaps der Monarchie für heute hat