Adjektizische Klagen
Die adjektizischen Klagen („Überleitung“ einer Klage auf den Gewalthaber; seit der Zeit der Glossatoren als actiones adiecticiae qualitatis zusammengefasst) waren im römischen Recht ein Sammelbegriff für Anwendungsfälle, mit denen Schuldverhältnisse mit Drittbeteiligung auseinandergesetzt wurden. Mit ihnen sollten Streitigkeiten aus Verbindlichkeiten (negotia gesta) beigelegt werden, die Gewaltunterworfene eingegangen waren, für die aber deren Gewalthaber (domini) unmittelbar selbst hafteten.[1] Eingeführt wurden die Klagen wohl während der Kaiserzeit im 2. Jahrhundert durch die Prätoren.[2]
Stellvertretung und Durchgriffshaftung
Das Verkehrsbedürfnis nach stellvertretungsrechtlichen Regelungen im Privatrechtsverkehr leitete das antike Rom aus den personenrechtlichen Gewaltverhältnisse her. Der wirtschaftliche Aufschwung ab den Zeiten der jüngeren Republik verlangte danach, dass untergebene Familienmitglieder (Hauskinder und Sklaven) wirtschaftlich eigenständig tätig würden. Das Familienoberhaupt (pater familias) musste nicht zwingend selbst tätig werden, sondern delegierte Geschäfte auf Gewaltunterworfene und Angestellte (patria potestas). Gleichwohl wurde er durch die Geschäfte der filiifamilias und servi vertraglich selbst gebunden,[3] Diese durften nur im Rahmen der ihnen eingeräumten Befugnisse handeln und den Befugnissen entsprechende Verpflichtungen eingehen. Die Mitglieder des dem Familienoberhaupt unterworfenen Hausverbandes waren nicht rechtsfähig, sie waren aber geschäftsfähig.[1] Ausweislich der Forschungen Ernst Levys und Max Kasers soll die begrenzte Selbständigkeit zumindest für die Spätantike gegolten haben.[4]
Forderungen – gleichermaßen Schulden – erwarb der Hausherr aus Geschäften der Gewaltunterworfenen unmittelbar (vinculum iuris), weshalb er dafür auch haftete.[5] Das Prinzip des ansonsten wirksamen Ausschlusses von Verträgen zugunsten Dritter („alteri stipulari nemo potest“ übersetzt etwa: „niemand kann sich für einen anderen etwas versprechen lassen“)[6] blieb durch diese Gewaltverhältnisse unberührt.[7]
Das zivilrechtliche System spiegelte sich im Prozessgeschehen. Hauskinder waren klagbar, aber vermögenslos. Sklaven waren vollumfänglich prozessunfähig.[7] Zum Schutz der Gläubiger mussten Zahlungsverpflichtungen, Eigentumsherausgabeansprüche und Schadensersatzansprüche dem dominus, der gleichzeitig der Geschäftsherr war, auch prozessual zugerechnet werden. Da nach römischem Rechtsverständnis die prozessuale Durchsetzung ein wesentliches Charakteristikum eines Anspruchs war, der – mangels dogmatischer Differenzierung zwischen Privat- und Zivilprozessrecht – im Rahmen der actiones umzusetzen war, sah sich der Gewaltgeber gegebenenfalls einer der adjektizischen Klagen ausgesetzt (Solidarhaftung).
Die einzelnen adjektizischen Klagen (actiones) behandelten die Durchgriffshaftung nach sachlich zu unterscheidenden Kriterien. Gegebenenfalls haftete der Gewalthaber wegen eines Geschäftes sogar aus verschiedenen adjektizischen Klagen gleichzeitig.[7]
Die Klagen im Einzelnen (actiones)
Actio de peculio (Pekuliarklage)
Die actio de peculio fand Anwendung, wenn der dominus dem Gewaltunterworfenen Sondervermögen zur selbständigen Bewirtschaftung überlassen hatte und sich daraus Verpflichtungen ergaben, für die sein Herr einzustehen hatte.[8] Das Sondervermögen wurde peculium genannt, da es sich häufig um Exemplare oder Teile des Viehbestandes (pecus = Vieh) des Gewalthabers handelte. Der Gewalthaber haftete bis zur Höhe des ausgeurteilten Wertes zwar mit seinem gesamten Vermögen, im Urteilsspruch jedoch beschränkt bis zur Höhe des Wertes des Sondervermögens.[9] Soweit die Haftung sich auf den Wert des Pekuliums beschränkte, war der Umfang der Zugriffsmöglichkeit bei der Vollstreckung, offen. Mit Forderungen gegen das Sondervermögen konnte der Herr aufrechnen.[10] Die Befriedigung der Gläubiger erfolgte in der Reihenfolge der Klageinbringung.
In der Zeit der Spätantike sollen Sklaven und Hauskinder gar selbst im Rahmen der actio de peculio gehaftet haben. Die Rechtsforschung führt an, dass die landarbeitende Unterschicht und gewaltunterworfene Hausstandsmitglieder sich zunehmend vereinheitlicht hätten, reduziert auf eine gemeinsame Unterklasse.[4] Sklaven der Spätantike hätten gegenüber der Zeit des Prinzipats sogar eine Aufwertung erfahren.[11]
Actio de in rem verso (Versionsklage)
Mit der actio de in rem verso (Verwendungsklage) konnte der dominus in Anspruch genommen werden, wenn er durch ein Rechtsgeschäft des Gewaltunterworfenen bereichert worden war. In rem verso verdeutlicht dabei die Rückerstattungspflicht („...vel si quid in rem N. N. inde versum est...“ übersetzt etwa: „...oder wenn daraus etwas ins Vermögen des Beklagten gelangt ist...“).[9][12]
In der antiken Literatur festgehaltene Fälle der Anwendung der Versionsklage sind die Schuldenbegleichung für den Hausherren mittels geborgten Geldes und Lebensmittelkäufe für die Familie des Hausherren.[13] Für den Wert der Bereicherung wurde auf den Zeitpunkt des Urteils abgestellt.[14]
Actio tributoria (Verteilungsklage)
Diese Klage wurde gewährt, wenn der Gewaltunterworfene (mit Kenntnis des Gewalthabers) ein Handelsgeschäft oder einen Gewerbebetrieb unterhielt und sich daraus Verbindlichkeiten ergaben, die auf den Geschäftsherrn durchgriffen. Sie ist keine adjektizische Klage im engeren Sinne, sondern kraft Sachzusammenhangs der Geschäftstätigkeit Gewaltunterworfener, dem ein Pekulium für Handelsgeschäftstätigkeiten eingeräumt war.[15] Dieses wurde zum Sondervermögen, über das der Prätor im Falle der Überschuldung den Sonderkonkurs eröffnete und die Gläubiger entsprechend ihrer Quote befriedigte. Das restliche Vermögen des Gewalthabers blieb unberührt (Haftungsbeschränkung).[16]
Actio quod iussu (Weisungsklage)
Hatte ein Gewalthaber einen Geschäftspartner (Dritten) ermächtigt, Geschäfte auf eigene Gefahr mit dem Gewaltunterworfenen zu tätigen, konnte er bei pathologischem Verlauf mittels der actio quod issu selbst belangt werden, so als sei es sein eigenes Geschäft gewesen.[17] Der Ermächtigung (iussum) wurde die nachträgliche Genehmigung (ratihabitio) gleichgestellt.[18] Wurde eine Ermächtigung missbräuchlich überschritten, waren die zutreffenden Klagearten die actio de peculio[19] beziehungsweise actio de in rem verso.
Actio exercitoria et institoria (Reederei / Handelsgeschäft)
Gegen Firmeninhaber richtete sich die Klage aus actio institoria, abgeleitet aus dem lateinischen institor, der Angestellte. Die gegen den Reeder gerichtete Klage war die actio exercitoria, was sich aus dem lateinischen exercere ableitet und auf den Betrieb einer Reederei hinweist.
Beide Klagetypen waren nicht auf Gewaltunterworfene beschränkt. Sie fanden kasuistische Anwendung. Beispielsfälle hierfür sind die Haftung des Reeders (exercitor navis) für die Schulden des eingesetzten Kapitäns oder des Ladeninhabers (taverna) für den im Geschäftsbetrieb eingesetzten Betriebsleiter (institor).[20] Die Verpflichtung des Gewalthabers bestand in diesen Fällen auf der Unterstellung einer Generalermächtigung zum Abschluss aller Verträge, die im Zusammenhang mit der übertragenen Aufgabe stehen. Die römischen Juristen rechtfertigen die Haftungsausdehnung des Gewalthabers auf Verpflichtungen durch Gewaltfreie durch die Analogie der Tätigkeiten von Schiffs- oder Betriebsleitern zu hauseigenen Gewaltunterworfenen.[1]
In spätklassischer Zeit hatte Papinian Analogien zu den Fällen geschaffen und angefangen aus ihnen das Prinzip der Stellvertretung zu entwickeln. Er übertrug es beispielsweise auf den von seinem Geschäftsherrn beauftragten Vermögensverwalter (procurator), der eine Sache kaufte beziehungsweise verkaufte oder ein Darlehen aufnahm.[21] Ernst Rabel würdigte diesen Ansatz Papinians als eines seiner Ruhmesblätter, wenngleich es noch sehr lange dauern sollte, bis zum 19. Jahrhundert, dass die Dogmatik des Stellvertretungsrechts schließlich entwickelt war. Erst die wissenschaftliche Prägnanz der Vertreter der historischen Rechtsschule machte es möglich, dass eine klare Trennung und damit Abgrenzbarkeit der Rechtsbegriffe „Stellvertretung“, „Vollmacht“ und „Auftragsgeschäft“ vorgenommen werden konnte.[22]
Verfahren und Rechtsfolgen
Verfolgt wurden vornehmlich vertragliche Erfüllungsansprüche aus Mutuum oder Stipulation und sachenrechtliche Übertragungsansprüche, daneben Ansprüche aus Bereicherungsrecht, wenn die Erfüllung scheiterte. Geeigneter Klagetyp war die condictio. Beantragt wurde per legis actio per condictionem. Deliktsrechtsrechtlich kam bei Diebstahl die condictio furtiva zum Zuge.
Literatur
- Jan Dirk Harke: Römisches Recht. Von der klassischen Zeit bis zu den modernen Kodifikationen. Beck, München 2008, ISBN 978-3-406-57405-4 (Grundrisse des Rechts), § 6 Rnr. 4–10 (S. 75–79).
- Herbert Hausmaninger, Walter Selb: Römisches Privatrecht, Böhlau, Wien 1981 (9. Aufl. 2001) (Böhlau-Studien-Bücher) ISBN 3-205-07171-9, S. 319–325.
- Heinrich Honsell: Römisches Recht. 5. Auflage, Springer, Zürich 2001, ISBN 3-540-42455-5, S. 35 f.
- Max Kaser: Das römische Privatrecht, Band I, 2. Auflage, München 1971.
- Max Kaser: Das römische Privatrecht, Band II, Die nachklassischen Entwicklungen, 2. Auflage, München 1975.
- Nicole Kreuter: Römisches Privatrecht im 5. Jh. n. Chr: Die Interpretatio zum westgotischen Gregorianus und Hermogenianus (Freiburger rechtsgeschichtliche Abhandlungen), Duncker & Humblot, Berlin 1993.
- Ernst Levy: Weströmisches Vulgarrecht, Das Obligationenrecht, Weimar 1956.
- Ulrich Manthe: Geschichte des römischen Rechts (= Beck'sche Reihe. 2132). C.H.Beck, München 2000, ISBN 3-406-44732-5, S. 60 ff.
- Uwe Wesel: Geschichte des Rechts. Von den Frühformen bis zur Gegenwart. 3. überarbeitete und erweiterte Auflage. Beck, München 2006, ISBN 3-406-47543-4. S. 212 f.
Anmerkungen
- ↑ a b c Jan Dirk Harke: Römisches Recht. Von der klassischen Zeit bis zu den modernen Kodifikationen. Beck, München 2008, ISBN 978-3-406-57405-4 (Grundrisse des Rechts), § 6 Rnr. 4–10 (S. 75–79).
- ↑ Iwan von Müller (Begr.), Walter Otto, Hermann Bengtson (Forts.), Max Kaser (Verf.): Handbuch der Altertumswissenschaft (10,3,3,1. Das altrömische, das vorklassische und klassische Recht. 1955.) § 141 (Haftung aus Geschäften der Gewaltunterworfenen und Angestellten); S. 505–508.
- ↑ Die Aufführung der Hauskinder und Sklaven nebeneinander in: Pseudopaulinische Sentenzen 2,31,20.
- ↑ a b Ernst Levy: Weströmisches Vulgarrecht, Das Obligationenrecht, Weimar 1956, S. 70 ff. (72); Max Kaser: Das römische Privatrecht, Band I, 2. Auflage, München 1971, S. 607 und Band II, Die nachklassischen Entwicklungen, 2. Auflage, München 1975, S. 100 ff. (102 ff.), 106, 113, 125.
- ↑ Gaius 2.87.
- ↑ Ulpian, Digesten 45,1,38,17; im Common Law hatte sich eine ähnlich lautende Doktrin der „privity of contract“ bis zum Erlass des Contract (Rights of third parties) Act aus dem Jahre 1999 grundsätzlich bis heute konserviert.
- ↑ a b c Heinrich Honsell: Römisches Recht. 5. Auflage, Springer, Zürich 2001, ISBN 3-540-42455-5, S. 35 f.
- ↑ Quellen hierzu: Ulpian, Digesten 15.1.21 pr.; Gaius 4.73.
- ↑ a b Herbert Hausmaninger, Walter Selb: Römisches Privatrecht, Böhlau, Wien 1981 (9. Aufl. 2001) (Böhlau-Studien-Bücher) ISBN 3-205-07171-9, S. 319–325.
- ↑ Gaius 4.73.
- ↑ Nicole Kreuter: Römisches Privatrecht im 5. Jh. n. Chr: Die Interpretatio zum westgotischen Gregorianus und Hermogenianus (Freiburger rechtsgeschichtliche Abhandlungen), Duncker & Humblot, Berlin 1993, S. 144 ff. (144).
- ↑ Justinian I. erweiterte die actio de in rem verso auf die Bereicherungen, die durch Handlungen und Rechtsakte Gewaltfreier im Interesse des Bereicherten vorgenommen wurden. Diese Rechtsentwicklung wurde für die moderne Rechtsauffassung zum Vorbild, denn sie fand Niederschlag in den §§ 1041, 1042 ABGB.
- ↑ Codex Iustinianus 4,26,7,3 (mit Erweiterung auf Gewaltfreie); Institutiones Gai 4,72a und Sententiae Receptae 2,9,1 f.
- ↑ Handbuch der Altertumswissenschaft – X. Rechtsgeschichte des Altertums. 10,3,3. Max Kaser: Das römische Privatrecht. Verlag C. H. Beck, München 1955. S. 507.
- ↑ Gaius, 4,72.
- ↑ Gaius 4,72.
- ↑ Gaius 4.70
- ↑ Ulpian eod. 1,6.
- ↑ Gaius, 4.70.
- ↑ Gaius 4.71.
- ↑ Papinian, Digesten 14.3.19 pr.; siehe auch Ulpian, Digesten 19.1.13.25.
- ↑ Vergleiche hierzu etwa Helmut Coing: Europäisches Privatrecht 1800–1914. München 1989. ISBN 3-406-30688-8. § 4, S. 41–46.