Antideutsche

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Antideutsche in Frankfurt 2006 unter dem Motto Nieder mit Deutschland

Antideutsche sind eine aus verschiedenen Teilen der Linken hervorgegangene politische Strömung in Deutschland und Österreich.[1] Sie wenden sich gegen einen spezifisch deutschen Nationalismus, der insbesondere im Zuge der deutschen Wiedervereinigung erstarkt sei. Weitere antideutsche Positionen sind Solidarität mit Israel sowie Gegnerschaft zu Antizionismus, Antiamerikanismus, Islamismus, bestimmten („regressiven“) Formen des Antikapitalismus und Antiimperialismus. Diese führten und führen zu Kontroversen innerhalb der linken Szene.

Begriffsgeschichte

Markus Mohr und Sebastian Haunss führen die Geschichte des Begriffs „antideutsch“ auf „mehr oder minder explizit antideutsch motivierte Ideen und Gedanken“ zurück. So habe 1844 Karl Marx in seiner Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie den „Krieg den deutschen Zuständen! Allerdings!“ gefordert. Antideutsche Ideen habe auch Sebastian Haffner in den 1930er Jahren in seinen Büchern Germany: Jekyll & Hyde und Geschichte eines Deutschen entwickelt. Der britische Diplomat Robert Vansittart habe während des Zweiten Weltkrieges allen Deutschen eine „pathologische Aggressivität“ unterstellt und sie als „die Störenfriede der Zivilisation seit Tacitus“ bezeichnet.[2]

In der Neuen Linken taucht erstmals auf der Titelseite des linksradikalen Untergrundblattes 883 aus Berlin in der 27. Ausgabe vom 14. August 1969 die Formulierung „Anti-deutsche Agitation“ auf. Es „scheint dieser Begriff offenbar von der militant-antikommunistisch eingestellten Frontstadtbevölkerung den protestwilligen Studenten entgegen gehalten worden zu sein“, so Mohr und Haunss.[3]

Der Begriff Antideutsche war bis 1989 noch eine ziemlich diffuse Fremdbezeichnung für die innerdeutsche antipatriotische Bewegung wie auch für die Politik der Alliierten gegenüber Deutschland im Zweiten Weltkrieg. Vor dem Hintergrund des Zweiten Golfkrieges 1991, bei dem es auf Antikriegsdemonstrationen laut Bundesinnenministerium auch zu Sympathieäußerungen für das Regime Saddam Husseins gekommen war, solidarisierten sich insbesondere die Zeitschrift konkret, deren Herausgeber Hermann L. Gremliza und Teile des zerfallenden Kommunistischen Bundes (KB) bedingungslos mit dem Staat Israel.[4][5] Seine heutige Prägung erfuhr der Begriff erst später, indem er als Selbstbezeichnung von einer spezifischen politischen Strömung innerhalb der Linken wieder aufgegriffen wurde.

Der Kosovokrieg, den die rot-grüne Bundesregierung mit der deutschen Vergangenheit legitimierte, führte 1999 zu Kontroversen in der politischen Linken: Die Mehrheit der radikalen Linken, aber auch etablierte Linksliberale stellten sich auf die Seite Serbiens und gegen die Intervention der NATO, sehr wenige „Antiimperialisten“ solidarisierten sich mit der UÇK, einige autonome und „antinationale“ Linke wandten sich in abstrakter Weise sowohl gegen die NATO-Intervention als auch gegen den serbischen Krieg und Nationalismus. Die proserbische Position vereinte auch die ansonsten feindseligen „Antideutschen“ und „Antiimperialisten“.[1]

Kritik aus anderen linken Strömungen

Im Kern wird eine Wendung der Antideutschen nach rechts bzw. eine partielle „Rückkehr in die bürgerliche Wertegemeinschaft“ unter Aufgabe linker „Essentials“ kritisiert.

Gerhard Hanloser bemängelt im von ihm herausgegebenen Sammelband Sie warn die Antideutschesten der deutschen Linken, hieran anknüpfend, eine „Kritische Kritik“, wie Karl Marx sie in Bezug auf Bruno Bauer als bloß theoretisierende, nicht aber praktische Kritik bekämpfte. Diese „Kritische Kritik“ sei letztlich, so Hanloser, nur eine „Selbstbespiegelung vermeintlich kritischer Geister“. Kritik verkomme so zum „Habitus“ und setze sich mit „Denunziation“ und „Polemik“ gleich, was sich auch im oft unsachlichen Stil antideutscher Publikationen widerspiegele.[6] Ilse Bindseil kritisiert in einem im gleichen Sammelband erschienen Beitrag, dass die Antideutschen sich letztlich nicht mit den Konsequenzen von Auschwitz für die deutsche Gesellschaft und für die eigene Biografie beschäftigten. Sie wirft den Antideutschen moralisches Sektierertum vor und sieht dessen Ursache in einer „Suche nach Flucht in die Unschuld“ der Nach-68er, die erkennen mussten, dass der Bruch mit der Generation sie nicht vor den Zuständen der „postfaschistischen Gesellschaft“ schütze. Statt der Komplexität von Themen wie Auschwitz gerecht zu werden, bestehe in diesem Teil der Gesellschaft der Hang zu unterkomplexen Reflexions- und Handlungsschemata, die letztlich vom Ausgangsproblem ablenkten und dieses nicht mehr transparent erscheinen ließen. „Das Böse musste her, damit der Riss in der Biografie gekittet werden konnte.“[7]

Einschätzung durch Behörden

Zeigen einer Israelflagge durch Antideutsche bei einer Demonstration, 2013

Der Verfassungsschutzbericht des Bundes von 2006 stellte die Antideutschen aufgrund unterschiedlicher ideologischer Ausprägungen nicht als einheitlichen Block dar. Als Gemeinsamkeit nannte er das Bekenntnis zu „bedingungslose[r] Solidarität mit der Politik Israels und dem jüdischen Volk“. Dies schließe die „Befürwortung aller Maßnahmen ein, die geeignet erscheinen, den Bestand des Staates Israel als einzigen Schutzraum der Holocaustüberlebenden zu sichern. Da die USA als einziger ‚ehrlicher‘ Verbündeter Israels gesehen würden, wendeten sich Teile der Antideutschen gegen jede Form des Antiamerikanismus.“[8] Der Verfassungsschutzbericht 2008 sah den Höhepunkt des antideutschen Einflusses auf den „traditionellen Linksextremismus“ inzwischen überschritten, ihr werde in der Szene kaum noch Aufmerksamkeit entgegengebracht.[9] Im Bericht des Folgejahres wurden Antideutsche nicht mehr erwähnt.[10]

Nach einem von der Bundeszentrale für politische Bildung veröffentlichten Aufsatz des Politikwissenschaftlers Rudolf van Hüllens aus dem Jahr 2015 verdiene die offensichtliche Bewusstwerdung des rassistisch-antisemitischen Charakters des Nationalsozialismus bei den Antideutschen Anerkennung, denn die Ausblendung des Antisemitismus stelle eine der gravierendsten ideologischen Fehlleistungen des Antifaschismus dar. Zugleich würden sich die Antideutschen – „vermutlich unwissentlich“ – auf die Trennlinie zubewegen, die demokratisches Engagement für die Dritte Welt und gegen Rechtsextremismus bzw. Antisemitismus bisher von ihren linksextremistischen Verzerrungen „Antiimperialismus“ und „Antifaschismus“ geschieden habe. Dabei seien Ablösungsprozesse von totalitären Ideologien des Marxismus-Leninismus in Gang gekommen. Allerdings sei die undifferenzierte Assoziation des Islam mit islamistischer Gewalt gegenaufklärerisch und geeignet, gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit zu fördern. Das gelte auch für die Suggestion, die Deutschen seien aufgrund historischer, kultureller kollektiver mentaler Prägungen in besonderem Maße für extremistische Gewalt gegenüber anderen prädestiniert.[11]

Publikationen

Die Wochenzeitung Jungle World sowie die Zeitschriften Konkret und Bahamas werden bzw. wurden verschiedentlich der antideutschen Strömung zugeordnet.

Literatur

  • Assoziation Antideutscher Kommunisten (Hrsg.): Antideutscher Katechismus. ça ira, Freiburg 2003, ISBN 3-924627-18-5 (PDF)
  • Rudi Bigalke: Das antideutsche Spektrum zwischen realpolitischer Lobbyarbeit und Ideologiekritik – Die Kampagne „Stop the Bomb“. In: Uwe Backes, Alexander Gallus, Eckhard Jesse (Hrsg.): Jahrbuch Extremismus & Demokratie, 27. Jahrgang (2015), Nomos, Baden-Baden 2015, ISBN 978-3-8487-2522-9, 137–153.
  • Eva C. Schweitzer: Links blinken, rechts abbiegen: Die unheimliche Allianz zwischen Neurechten, woken Antideutschen und amerikanischen Neokonservativen. Westend Verlag, Frankfurt am Main, 2021. ISBN 978-3-8648-9342-1.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. a b Wie vor 20 Jahren der Kosovo-Krieg die Linken und die Grünen entzweite, Thomas Schmidinger, Der Standard, 23. Mai 2019
  2. Markus Mohr, Sebastian Haunss: Die Autonomen und die anti-deutsche Frage oder: »Deutschland muss …«. In: Gerhard Hanloser (Hrsg.): „Sie warn die Antideutschesten der deutschen Linken“. Zu Geschichte, Kritik und Zukunft antideutscher Politik. Unrast Verlag, Münster 2004, S. 65.
  3. Markus Mohr, Sebastian Haunss: Die Autonomen und die anti-deutsche Frage oder: »Deutschland muss …«, S. 66.
  4. Stefan Kestler: Antisemitismus und das linksextremistische Spektrum in Deutschland nach 1945 (erschienen in: Neuer Antisemitismus? Judenfeindschaft im politischen Extremismus und im öffentlichen Diskurs). Bundesministerium des Innern, 2005, S. 94.
  5. Rudolf van Hüllen: "Antiimperialistische" und "antideutsche" Strömungen im deutschen Linksextremismus | bpb. Abgerufen am 11. Juli 2020.
  6. Gerhard Hanloser (Hrsg.): „Sie warn die Antideutschesten der deutschen Linken“. Zu Geschichte, Kritik und Zukunft antideutscher Politik, S. 8.
  7. Ilse Bindseil: Sektiererische Reflexion und korrektes Denken. Versuch einer philosophischen Identifikation (PDF; 119 kB)
  8. Verfassungsschutzbericht 2006. (pdf, 7,3 MB) Bundesministerium des Innern, S. 164 ff., archiviert vom Original am 6. August 2009; abgerufen am 18. September 2017.
  9. Verfassungsschutzbericht 2008. (pdf, 4,9 MB) Bundesministerium des Innern, S. 157, archiviert vom Original am 7. Oktober 2009; abgerufen am 18. September 2017.
  10. Verfassungsschutzbericht 2009. (pdf, 4,3 MB) Bundesministerium des Innern, archiviert vom Original am 4. Juli 2010; abgerufen am 18. September 2017.
  11. Rudolf van Hüllen: "Antiimperialistische" und "antideutsche" Strömungen im deutschen Linksextremismus | bpb. Abgerufen am 11. Juli 2020.