Stephan Grigat (Politikwissenschaftler)

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Stephan Grigat (* 1971 in Berlin[1]) ist ein deutscher Politikwissenschaftler und Publizist. Er ist seit März 2022 Professor für Theorien und Kritik des Antisemitismus an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen und am Centrum für Antisemitismus- und Rassismusstudien (CARS) in Aachen. 2007 war er Mitbegründer der Kampagne Stop the Bomb, für die er bis 2021 als wissenschaftlicher Direktor in Österreich tätig war[2][3]. Seit 2017 ist er Research Fellow am Herzl Institute for the Study of Zionism der University of Haifa und seit 2022 am London Centre for the Study of Contemporary Antisemitism.

Werdegang

Grigat studierte 1991 bis 1997 Politikwissenschaft, Geschichte und Philosophie an der Freien Universität Berlin und der Universität Wien. Von 2000 bis 2003 war er Promotionsstipendiat der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin.[4] Im Jahre 2006 promovierte er über die Rezeption des Marxschen Fetischbegriffs und die Kritik des Antisemitismus[5] am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin bei Wolf-Dieter Narr und Eva Kreisky. Von 2004 bis 2006 lebte Grigat u. a. als Forschungsstipendiat in Tel Aviv.[4] Die Schwerpunkte seiner Forschung sind marxistische und Kritische Theorie, die Geschichte linker Bewegungen, Antisemitismus, der Nahostkonflikt und Iran.[4]

In den letzten Jahren war er Lehrbeauftragter am Institut für Judaistik, am Institut für Politikwissenschaft und am Institut für Philosophie der Universität Wien sowie am Centrum für Jüdische Studien der Universität Graz. 2015/2016 war Grigat Gastprofessor für kritische Gesellschaftstheorie an der Justus-Liebig-Universität Gießen, 2016/2017 war er Gastprofessor für Israelstudien am Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien an der Universität Potsdam/Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg, 2017/2018 war er Research & Teaching Fellow an der Hebräischen Universität Jerusalem. Von 2017 bis 2021 war er Permanent Fellow am Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien. 2019 war er Dozent für Politikwissenschaft an der Universität der Bundeswehr München; von 2019 bis 2022 war er Dozent für Politikwissenschaft an der Universität Passau.

Bis 2008 war er an Veranstaltungen und Aktivitäten der ideologiekritischen Gruppierung Café Critique beteiligt.[6][7][8]

Grigat arbeitete als freier Publizist unter anderem für Jungle World und bis 2015 für Konkret. Er hat Gastbeiträge u. a. im Tagesspiegel, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Zeit, Frankfurter Rundschau, taz, Cicero Online, Neue Zürcher Zeitung, Basler Zeitung, Der Standard, Die Presse, Salzburger Nachrichten und Wiener Zeitung veröffentlicht.

Im Zentrum von Grigats Interesse steht das Thema Antisemitismus und sein Verhältnis zur Tradition der Linken wie zum Islam. Philosophisch versteht sich Grigat in der Tradition von Marx und der Kritischen Theorie, die er im Gegensatz zum traditionellen Marxismus und zum linken Mainstream sieht.[9] Weitere wichtige Autoren sind für ihn Oscar Wilde[10], Johannes Agnoli,[11] Moishe Postone[12] und Guy Debord.[13]

Seit dem 1. März 2022 besetzt Grigat die bundesweit einzigartige Professur „Theorien und Kritik des Antisemitismus“ am Centrum für Antisemitsmus- und Rassismusstudien (CARS) an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen in Aachen.[14] Das CARS wurde 2020 am Standort Aachen gegründet und stellt die theoriegeleitete Auseinandersetzung, kritische Analyse und Forschung zu Ursachen, Erscheinungsformen und Entwicklungen von Antisemitismus sowie Rassismus in den Mittelpunkt der Arbeit.

Positionen

Kritik an der traditionellen Linken

Als zentralen Kritikpunkt an der traditionellen Linken formuliert Grigat den Vorwurf des Antisemitismus, der sich bis zu den Frühsozialisten zurückverfolgen lasse.[15][16] Auch in den Frühschriften von Karl Marx und Briefen von Marx und Engels fänden sich Formulierungen und Argumentationen, die auf antisemitische Klischees zurückgriffen. Marx’ früher Kritik am Kapitalismus habe noch jene Schärfe der Begriffe gefehlt, die in seiner späteren Kritik der politischen Ökonomie dem Ressentiment entgegenwirke.

In der europäischen Arbeiterbewegung sei der Antisemitismus immer wieder geleugnet, verharmlost oder in den schlimmsten Fällen – als konsequenter Antikapitalismus – offen propagiert worden. Als radikalste Form eines linken Antisemitismus können die stalinistischen Kampagnen gegen Zionismus und Kosmopolitismus gelten. Die von Lenin geführte Oktoberrevolution habe zwar den russischen Juden zunächst zahlreiche Vorteile im Vergleich zur Zarenzeit gebracht. Von Stalin sei aber bereits im Kampf um Lenins Nachfolge Antisemitismus als Mittel eingesetzt worden; später habe er sich von einem taktischen zu einem überzeugten Antisemiten gewandelt, der am Ende seines Lebens eine gewaltsame Umsiedlung der sowjetischen Juden in Erwägung zog. Nach dem Zweiten Weltkrieg habe zwar die Sowjetunion für kurze Zeit das Projekt der israelischen Staatsgründung unterstützt. Spätestens Ende der vierziger Jahre wurde der Antizionismus jedoch zur offiziellen Staatsdoktrin.

In Westeuropa habe sich der Antisemitismus der Linken nach dem Zweiten Weltkrieg als Antizionismus nach dem Sechstagekrieg (1967) geäußert. Dieser habe bald auf große Teile der Linken übergegriffen und zeige sich am deutlichsten in der Bundesrepublik Deutschland – „von der linken Sozialdemokratie, den Grünen und Alternativen, feministischen Gruppierungen, K-Gruppen, Autonomen und Antiimperialisten bis zu den bewaffneten Gruppen“.[16]

Islamismus-Kritik

Grigat kritisiert den Antisemitismus als essenziellen Bestandteil der islamistischen Ideologie. Die größte antisemitische Bedrohung stellt aus seiner Sicht derzeit das iranische Regime dar, für dessen Boykott er sich nachdrücklich einsetzt. Er ist Mitbegründer der Kampagne Stop the Bomb, die vor den atomaren Aufrüstungsplänen des Iran warnt sowie von deutschen und österreichischen Unternehmen fordert, ihre Geschäftsbeziehungen mit dem Staat einzustellen. In besonderer Weise wird von ihm der geplante Milliardendeal der OMV mit dem Iran kritisiert, der aus seiner Sicht „Österreich zum langfristigen strategischen Partner des Mullahregimes in Teheran machen“ würde.[17]

Werke

Monografien

  • Fetisch und Freiheit. Über die Rezeption der Marxschen Fetischkritik, die Emanzipation von Staat und Kapital und die Kritik des Antisemitismus. Ça Ira, Freiburg 2007, ISBN 3-924627-89-4 (Informationen beim Verlag).
  • Die Einsamkeit Israels. Zionismus, die israelische Linke und die iranische Bedrohung. Konkret, Hamburg 2014, ISBN 978-3-930786-73-2.[18]

Herausgeberschaften

  • Iran – Israel – Deutschland. Antisemitismus, Außenhandel und Atomprogramm. Hentrich & Hentrich, Berlin 2017, ISBN 978-3-95565-220-3, (Informationen beim Verlag).
  • AfD & FPÖ. Antisemitismus, völkischer Nationalismus und Geschlechterbilder. Nomos, Baden-Baden 2017, ISBN 978-3-8487-3805-2, (Informationen beim Verlag).
  • Postnazismus revisited. Das Nachleben des Nationalsozialismus im 21. Jahrhundert. 2., erweiterte und geänderte Auflage von Transformation des Postnazismus, (Hrsg.), Ça Ira, Freiburg i. Br. 2012, ISBN 978-3-86259-106-0, (Informationen beim Verlag).
  • Iran im Weltsystem. Bündnisse des Regimes und Perspektiven der Freiheitsbewegung. (Hrsg. mit Simone Dinah Hartmann). Studien-Verlag, Innsbruck u. a. 2010, ISBN 978-3-7065-4939-4, (Informationen beim Verlag).
  • Der Iran: Analyse einer islamischen Diktatur und ihrer europäischen Förderer. (Hrsg. mit Simone Dinah Hartmann). Studien-Verlag, Innsbruck/Wien/Bozen 2008, ISBN 978-3-7065-4599-0, (Informationen beim Verlag).
  • Feindaufklärung und Reeducation: kritische Theorie gegen Postnazismus und Islamismus. (Hrsg.). Ça Ira, Freiburg i. Br. 2006, ISBN 3-924627-93-2, (Informationen beim Verlag).
  • Spektakel – Kunst – Gesellschaft: Guy Debord und die Situationistische Internationale. (Hrsg. mit Günther Friesinger und Johannes Grenzfurthner). Verbrecher-Verlag, Berlin 2006.
  • Transformation des Postnazismus: der deutsch-österreichische Weg zum demokratischen Faschismus. (Hrsg.). Ça Ira, Freiburg i. Br. 2003, ISBN 3-924627-74-6, (Informationen beim Verlag).
  • Antisemitismus. Sonderheft Weg und Ziel. Marxistische Zeitschrift, 56. Jg., Nr. 2, 1998 (gemeinsam mit Gerhard Scheit)

Beiträge

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Grigat, Stephan | Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg. In: www.zentrum-juedische-studien.de. Abgerufen am 22. Juli 2016.
  2. STOP THE BOMB begrüßt neue Iran-Sanktionen, Stop the Bomb Kampagne, 4. November 2018
  3. Oberbank fördert die Ajatollahs, Stop the Bomb Kampagne, 7. September 2017
  4. a b c Seite am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien
  5. Fetisch und Freiheit. Über die Rezeption der Marxschen Fetischkritik, die Emanzipation von Staat und Kapital und die Kritik des Antisemitismus.
  6. Café Critique
  7. TAZ-Blog von Wolfgang Koch
  8. Home: Letter from Berlin: The anti-anti-Zionists. In: haaretz.com. 3. August 2007, abgerufen am 29. August 2017.
  9. Vgl. z. B. Stephan Grigat: Befreite Gesellschaft und Israel. Zum Verhältnis von Kritischer Theorie und Israel, in: Stephan Grigat (Hrsg.): Feindaufklärung und Reeducation. Kritische Theorie gegen Postnazismus und Islamismus. Freiburg: ça ira-Verlag 2006, S. 115–129 (pdf; 85 kB)
  10. Stephan Grigat: [1]
  11. Stephan Grigat: Agnolis Kritik der Politik. Das Elend der Politikwissenschaft und der Staatsfetisch in der marxistischen Theorie
  12. Stephan Grigat: Moishe Postones Interpretation der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie
  13. Stephan Grigat: Der Fetisch im Spektakel. Zur Gesellschaftskritik Guy Debords. In: Jungle World, 20/2001
  14. Stephan Grigat hat Professur für Theorien und Kritik des Antisemitismus in Aachen übernommen. In: Ruhrbarone. 23. März 2022, abgerufen am 5. April 2022.
  15. Zum Thema „Antisemitismus in der Linken“ vgl. z. B. Stephan Grigat: Befreite Gesellschaft und Israel. Zum Verhältnis von Kritischer Theorie und Israel, in: Stephan Grigat (Hrsg.): Feindaufklärung und Reeducation. Kritische Theorie gegen Postnazismus und Islamismus. Freiburg: ça ira-Verlag 2006, S. 115–129 (pdf; 85 kB)
  16. a b Stephan Grigat: Links und gegen Juden? Antisemitismus und Antizionismus in der österreichischen Linken. In: tribüne, heft 169, erstes quartal 2004
  17. Vgl. Stephan Grigat: Österreich als Türöffner für die Mullahs, In: Die Presse, 18. Dezember 2007
  18. Inhaltsverzeichnis / Hilflos gegenüber realen Problemen – Rezension von Micha Brumlik