Antikapitalismus

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Als Antikapitalismus bezeichnet man Grundhaltungen, die gegenüber kapitalistischen Ideen eine fundamental entgegengesetzte Position einnehmen. Er ist eine radikale Form der Kapitalismuskritik und zielt nicht bloß auf Reformen, sondern auf die Aufhebung bzw. Zerschlagung des kapitalistischen Systems. Der Antikapitalismus – genauso wie die Kapitalismuskritik insgesamt – ist vor allem eine Domäne der politisch Linken. Es gibt oder gab frühsozialistischen, marxistischen, anarchistischen, romantischen, konservativ-revolutionären, völkischen und nationalsozialistischen Antikapitalismus. Ob kapitalismuskritische Positionen von rechts als antikapitalistisch einzuordnen sind, ist umstritten.

Begriffsbestimmung

Wolfgang Hock bestimmte den Antikapitalismus als „die ökonomische Seite einer generell gegen den Liberalismus gerichteten, umfassend ausgebildeten Ideologie“,[1] wobei es auch kapitalismuskritische Organisationen gibt, die die liberale Freiheitliche demokratische Grundordnung nicht infrage stellen. Neben dem sozialistischen Antikapitalismus gibt es auch einen kulturkritischen Antikapitalismus, der die liberale Wirtschaftsordnung als kultur- und naturzerstörerisch begreift, respektive einen Antikapitalismus von rechts.

Der Soziologe Dieter Rucht grenzt Antikapitalismus von Kapitalismuskritik ab: Diese lehne den Kapitalismus nicht kategorisch ab, sondern kritisiere an ihm nur bestimmten Formen und vor allem Auswüchse. Antikapitalismus sei dagegen radikaler: Er wolle den Kapitalismus nicht einhegen oder reformieren, sondern abschaffen, was häufig auf revolutionärem Wege erstrebt werde. Kapitalismuskritik von Rechtsradikalen oder Neonazis dürfe nicht als Antikapitalismus verstanden werden, da sie keine Systemkritik darstelle, sondern nur moralisierend Macht und Verhalten von Eliten thematisiere, wenn sie nicht im Sinne einer Querfrontstrategie nur taktisch motiviert sei.[2]

Der Extremismusforscher Fabian Fischer problematisiert den Begriff Antikapitalismus, da er lediglich ein Gegenbegriff zu einem von vornherein negativ konnotierten und unscharfen Begriff sei, nämlich den „Kapitalismus“, den er in Anführungszeichen nennt. Dieser erscheine in dieser Konstruktion essentialistisch als „wirklich“, während er wissenschaftlich betrachtet „nur ein Denkmodell zur Veranschaulichung von Abhängigkeiten und Wechselwirkungen“ sei. Die Bündelung der ihm zugewiesenen gesellschaftlichen und sozialen Phänomene unter dem Rubrum Kapitalismus sei aber nicht zwingend: Ausbeutung zum Beispiel gebe es auch in anderen gesellschaftlichen Konstellationen und es sei nicht ausgemacht, ob die als kapitalistisch abgelehnten Phänomene nicht eher in der Moderne oder der Conditio humana gründeten. Fischer unterscheidet daher zwischen einem Antikapitalismus in struktureller Perspektive, der „den Kapitalismus“ in Gestalt einer drastischen Negativkonstruktion in den Blick nehme, und einem in inhaltlicher Ebene, der ihn kritisiere, aber sich dabei direkt oder indirekt gegen Werte und Minimalbedingungen des demokratischen Verfassungsstaates richte.[3] Es gebe anthropomorphen (zumeist antisemitischen), politischen, sozialen, kulturpessimistischen, zinsfeindlichen und antifaschistischen Antikapitalismus.[4]

Antikapitalistische Strömungen

Siehe auch Kapitalismuskritik für einen Überblick über die kapitalismuskritischen Standpunkte der jeweiligen Strömungen.

Romantik

Die romantische Kritik am Kapitalismus war anfangs den Dichtern vorbehalten. Ludwig Tieck wendet in seiner Erzählung Der junge Tischlermeister die Nostalgie - der Handwerker wird als Künstler ohne Gewinnstreben gezeichnet - gegen den bürgerlichen Kapitalismus. Die Zünfte erscheinen weniger als Gegner von Innovation und Produktionssteigerung, als letzter Hort gegen das Gewinnstreben. Novalis lässt in seinem Heinrich von Ofterdingen den Bergmann für eine Wirtschaft plädieren, die bei der Ausbeutung der Minen auf den Nutzen für das Gemeinwesen achtet. Ähnlich wie Tieck projiziert er hierbei die Idee von einer dem Menschen dienlichen Wirtschaft auf das Mittelalter. Das Auseinanderfallen von Gewinnmaximierung und Vervollkommnung des Menschen analysiert Novalis indes nicht, allenfalls der Befund wird aufgestellt. Ihr jüngerer Schriftstellerkollege Wilhelm Hauff zeigt im Märchen Das kalte Herz exemplarisch die Verrohung und Unmenschlichkeit des Kapitalismus am Beispiel des jungen Köhlerknechts Peters, der nunmehr als Geldverleiher nicht nur die Armenspende unterbindet, sondern Wucherzinsen verlangt und schließlich seiner Gattin das Leben nimmt. Erst die Abwendung vom Gewinnstreben erlöst ihn. Theoretiker eines romantischen Antikapitalismus wie Adam Müller von Nitterdorf plädierten für eine Reformulierung des Ständewesens als Garant gegen die Auswirkungen der Industrialisierung. Baader erkannte in deutschen Lande ähnlich wie die Frühsozialisten in Frankreich die Differenz von Armut und Pauperismus und forderte die Bekämpfung der Massenverelendung.

Die Reaktivierung sozialer Ordnungen wie die Stände und das Zunftwesen, die Synthese von teilweise konkurrierenden Systemen, so die Ökonomie, das Recht, dem Staat oder die Sexualität galten den sozialistischen Kritikern hingegen als Rückschritt, misslungene Wiederverzauberung oder Blindheit gegenüber dem Kapitalismus als Wirtschaftsform der Moderne. Der Antikapitalismus der Romantik zeigte zwar im Staat und Wirtschaftsleben kaum Wirkung, nicht zuletzt aufgrund seines bei Durchsetzung regressiven und als Idee innerhalb des Kapitalismus kompensatorischen Charakters, jedoch antizipierten sie zahlreiche antikapitalistische Haltungen, so die Eigenverantwortung und Rückverfolgbarkeit der Produktion, so weigerte sich beispielsweise Müller Baumwolle zu tragen und unterstützte heimische Schäfer durch den Kauf und das Tragen von Wollkleidung[5]. Ihre Befunde wie der Warencharakter, die Zerstörung der Umwelt, die Entstehung der Proletarier wurde von nachfolgende Denker geteilt, wenngleich sie die Ursachen differenzierter betrachteten. Die romantische Kapitalismuskritik ist im Regionalgeld, der Wachstumskritik und zahlreichen Gegenbewegungen wie dem des Regionalen, der Slow-Food Bewegung, Vegetarismus und Konsumkritik weiterhin wirksam, insofern ihr Vorwurf an eine Seelenlosigkeit des Kapitalismus und der Zerstörung eines gemeinschaftlichen Gefüges darin partiell transportiert wird. Die ästhetische Kapitalismuskritik, welche Uniformität und mangelnde Güte moniert, hat in der Romantik ihre Wurzeln, welche wiederum bis auf Rousseau zurückgehen.

Utopischer Sozialismus

Der frühsozialistische Antikapitalismus geht ursprünglich von einer Entfremdung des gesellschaftlichen Lebens im Zuge der industriellen Revolution aus. Bereits Sozialisten wie Charles Fourier kritisierten den Kapitalismus und entwarfen utopische, unwissenschaftliche Gegenmodelle wie das Phalanstère-System, die allerdings auf Ablehnung innerhalb der wissenschaftlich Sozialistischen Welt stießen, welche innerhalb der Internationale Arbeiterassoziation (Erste Internationale) bereits keine Rolle mehr spielten[6].

Fouriers Gegenspieler Robert Owen hingegen gilt als Begründer des Genossenschaftswesen und bemühte sich um praktische Lösungen für menschenwürdigere Arbeitsbedingungen und Formen des Zusammenlebens etwa in der von dem württembergischen Pietisten Johann Georg Rapp gegründeten Kommune (New) Harmony.

Marxismus

Der Marxismus sieht sich als Kritik an der Arbeiterbewegung. Er ist antikapitalistisch eingestellt und strebt den Sozialismus sowie als Endstadium den Kommunismus an. Dies soll (seit dem Verwürfnis des revolutionären mit dem reformistischen Lager in der Zweiten Internationale) durch einen radikalen Bruch mit der momentanen bürgerlichen Gesellschaft, in einer gesellschaftlichen Umstrukturierung und einer dadurch verbundenen Vergesellschaftung geschehen. Infolge des Historischen Materialismus sieht sie sowohl den Kapitalismus als auch seine in seiner Logik folgenden unaufhaltsamen Überwindung als historische Notwendigkeit an, worin sie die legitimation ihres Antikapitalismus begründen. Der marxistische Sozialismus ist daher per-se antikapitalistisch.[7] Im 20. Jahrhundert und bedingt durch diverse Interpretationen des unvollendeten Werks von Karl Marx und Friedrich Engels entstanden diverse Strömungen, welche sich auf den Marxismus berufen und ihn weiterentwickelt haben, darunter auch der Dengismus und der Titoismus, welche sich von dem vollends antikapitalistischen orthodox marxistisch antikapitalistischem Ideal abwandten und sich einem Marktsozialismus, welcher sich kapitalistischen Logiken bedient, annäherten.

Feminismus

Der marxistischer Feminismus strebt die Überwindung des kapitalistischen Systems an. Ein Beispiel für die Überschneidung ist die Feministin Alexandra Kollontai, die Geschlechtergerechtigkeit mit Antikapitalismus verband.[8] Zu den Vertretern eines zeitgenössischen antikapitalistischen Feminismus zählen beispielsweise Nina Power und Laurie Penny, die im Kapitalismus, der Klassenhierarchie und dem Konsumismus eine wesentliche Ursache für die Unterdrückung der Frauen sehen. Ihr Antikapitalismus unterscheidet sich von traditionellem Marxismus und Sozialismus; er betrachtet nicht nur die Klassenunterdrückung in der industriellen Gesellschaft, sondern auch patriarchale Strukturen und weiße Vorherrschaft.[9]

Marxismus-Leninismus

Der Marxismus-Leninismus lehnt den Kapitalismus entschieden ab, und propagiert die gewaltsame Revolution zum Sturz des Kapitalismus durch Enteignung der Kapitalisten und Aufhebung des Privateigentums an Produktionsmitteln. Er kritisiert am Kapitalismus die Ausbeutung der Arbeiter durch die Kapitalisten, die Entfremdung der Arbeit, die Anarchie der Produktion, die Verelendung der Arbeiterklasse in Folge der periodischen Wirtschaftskrisen die nach der Marxistische Krisentheorie aus der Grundlage des Kapitalismus dem Privateigentum an Produktionsmitteln entstehen, und die imperialistischen Kriege die gesetzmäßig aus dem Kapitalismus entstehen.

Antifaschismus

Der antikapitalistische Antifaschismus bekämpft den Kapitalismus, weil er in ihm die sozioökonomische Ursache des Faschismus sieht. Seit den 1920er Jahren vertrat die Kommunistische Internationale eine Faschismustheorie, nach der der Faschismus die „terroristische Diktatur der am meisten reaktionären, chauvinistischen und imperialistischen Elemente des Finanzkapitals“ sei. Die Bourgeoisie lasse, falls sie sich bedroht sehe, die demokratische Maske fallen und wehre sich mittels Faschismus gegen die Machtansprüche des Proletariats.[10] Weil in dieser Perspektive auch die Sozialdemokratie bürgerlich-demokratisch und damit präfaschistisch erschien, wurde sie während der Weimarer Republik von der KPD als sozialfaschistisch denunziert, was ein breites gesellschaftliches Bündnis gegen den aufkommenden Nationalsozialismus verhinderte.[11] Der so verstandene Antifaschismus wurde in der DDR Staatsdoktrin und war ein wesentliches Element der politischen Legitimation des SED-Regimes.[12] In der Bundesrepublik wurde er ein wichtiges Mittel in der Agitation der außerparlamentarischen Opposition und trug dazu bei, parlamentarische Demokratie und Soziale Marktwirtschaft pauschal als wesentliche Ursachen für Rechtsextremismus zu denunzieren.[13]

Syndikalismus

Syndikalismus als gewerkschaftlicher Sozialismus ist eine Theorie, die in ihrer Handlung für eine Aneignung der Produktionsmittel an die Gewerkschaften als Vertreterin der arbeitenden Klasse eintritt. Sie nehmen großen Einfluss vom Anarchisten Pierre-Joseph Proudhon, welcher als Gründer des Syndikalismus gesehen wird. Ihnen zufolge soll der Kapitalismus mit einem Generalstreik überwunden werden, in dessen Folge der Kapitalismus durch einen solidarischen Sozialismus ersetzt werden soll. Der Syndikalismus umfasst zudem den vor allem im spanischen- (Durch die C.N.T. - F.A.I.) und mexikanischen Bürgerkrieg (Durch die Zapatisten) einflussreichen Anarchosyndikalismus.

Christentum

Ein religiöser, christlich motivierter Antikapitalismus wurde vom 1926 gegründeten Bund religiöser Sozialisten Deutschlands vertreten. Ähnliche Positionen finden sich im römisch-katholischen Bereich in der lateinamerikanischen Befreiungstheologie,[14] aber auch in kirchlichen Dokumenten zur katholischen Soziallehre.[15]

Antisemitismus und Völkische Bewegung

Nach dem Gründerkrach von 1873 und in der dadurch ausgelösten Großen Depression, die bis 1896 anhielt, verbreitete sich im Deutschen Reich ein hauptsächlich antikapitalistisch geprägter Antisemitismus, der zwischen „raffendem“ und „schaffendem“ Kapital unterschied. Letzteres wurde positiv bewertet und mit angeblich „arischer“ Industrie und Handwerk assoziiert, während jenes mit dem Judentum und der Börse konnotiert und negativ bewertet wurde. Dadurch wurden die objektiven Probleme des Kapitalismus personifiziert und so scheinbar bearbeitbar gemacht. Der Historiker Norbert Kampe sieht diese von Hofprediger Adolf Stoecker und dem Geschichtsprofessor Heinrich von Treitschke verbreiteten Denkweise „gewissermaßen als ,Umstiegsideologie' für die Mehrheit des deutschen (Klein/Bildungs-) Bürgertums auf dem Weg vom Liberalismus zum Konservatismus und Rassismus“.[16]

In der Völkischen Bewegung des Deutschen Kaiserreichs wurde die Kulturkritik an den Phänomenen der modernen Massengesellschaft regelmäßig in antisemitischer Gestalt formuliert. Sie fokussierte auf das neue Phänomen der Warenhäuser, die tatsächlilich größtenteil in jüdischer Hand waren und mit denen der Einzelhandel nur schwer konkurrieren konnte. Der Kapitalismus wurde mit einer angeblichen Weltverschwörung des „Finanzjudentums“ und mit dem antisemitischen Stereotyp des „Wucherers“ assoziiert, der „nordisch-germanischen Menschen“ wesensfremd sei.[17]

Nationalsozialismus

Ein Antikapitalismus mit deutlich antisemitischer Ausprägung findet sich im zentralen 25-Punkte-Programm der NSDAP. so traten sie vor allem in ihren Gründungsjahren für die Realisierung eines „nationalen Sozialismus“ ein, welcher jedoch strikt antimarxistisch gestaltet war. Auch Joseph Goebbels sah sich anfangs als überzeugter Sozialist und trat unter anderem gemeinsam mit den Brüdern Otto und Gregor Strasser in den Gründungsjahren der NSDAP für die Realisierung eines „völkisch-nationalen Sozialismus“ ein, wandte sich später jedoch von diesen Vorstellungen ab.[18] In einem Zeitungsartikel „Unser Sozialismus“ vom April 1931 definierte Goebbels als Kapitalismus „das Kapital, zum Schaden und Verhängnis des Volkes zu mißbrauchen“, ohne dass der Staat und die verantwortlichen Parteien dagegen einschreiten. Er schrieb: „Diesen Mißbrauch nennen wir Kapitalismus, und ihn wollen wir als Idee mit all ihren macht- und wirtschaftspolitischen Folgerungen beseitigen.“[19] Joachim Petzold sieht darin „ideologische Verrenkungen“, um sich „antikapitalistisch zu drapieren und doch die Interessen des Kapitals zu vertreten“.[20] Für Adolf Hitler hingegen spielten antikapitalistische Ideen keine Rolle. Vielmehr suchte er nach einem Ausgleich mit bürgerlichen und konservativen Kräften und trat in entschiedene Opposition zum antikapitalistischen Lager.[21] Er propagierte eine Ideologie, gemäß der die sozioökonomischen Probleme seiner Zeit vorwiegend durch Gewinnung von Lebensraum (im Osten) und die Auslöschung der Juden gelöst werden könnten. Schon bald im Laufe der 1920er Jahre setzte sich Hitler in den parteiinternen Richtungsstreitigkeiten durch.[22] Der antikapitalistisch gesinnte Flügel der NSDAP spielte allmählich keine größere Rolle mehr. Er wurde schließlich nach der von der NS-Führung initiierten Säuberungswelle 1934 endgültig bedeutungslos. Auch im NS-Staat spielten antikapitalistische Überlegungen keine besondere Rolle mehr.

Rechtsextremismus in der Bundesrepublik

Auch rechtsextreme Parteien in der Bundesrepublik Deutschland wie die SRP oder die NPD nehmen oder nahmen antikapitalistische Positionen ein. Udo Voigt etwa stellte dem „menschenverachtenden, ungebändigten Kapitalismus nach US-amerikanischer Art“ einen „deutschen Sozialismus zum Wohle des eigenen Volkes“ gegenüber, der den Klassenkampf überwinden solle. Ähnliche Positionen werden gegenwärtig von den rechtsextremen Teilen der rechtspopulistischen Partei Alternative für Deutschland, etwa dem mittlerweile infolge der Überwachung durch den Verfassungsschutz formell aufgelösten Flügel,[23][24] vertreten. Jedoch hat die Partei auch einen neoliberalen Flügel. Die sozialpolitische Ausrichtung ist innerhalb der Partei umstritten.[25]

Liberalismus

In den Vereinigten Staaten findet sich eine Synthese aus Liberalismus und Antikapitalismus.[26] Thomas Jefferson vertrat einen „liberalen Antikapitalismus“. Er war der Ansicht, dass abhängige Lohnarbeit eine Form der „Lohnsklaverei“ darstelle und äußerte sich kritisch zur Akkumulation von Kapital und Eigentum an Produktionsmitteln in den Händen einer Aristokratie. Echte Unabhängigkeit setze den Zugang zu eigenen Produktionsmitteln voraus. Dennoch befürwortete er eine Marktwirtschaft, jedoch ohne den Zwang, einer Lohnarbeit nachzugehen.[27] Des Weiteren ist Jean de Crèvecoeur ein Vertreter dieser Strömung und auch die Southern Agrarians (Robert Penn Warren, Allen Tate, John Crowe Ransom) können dieser zugeordnet werden.[26]

Verhältnis zum Antisemitismus

Antisemitische Elemente des Antikapitalismus

Insbesondere der frühe Antikapitalismus ging häufig mit Antisemitismus einher, so etwa bei den Frühsozialisten Charles Fourier[28] und Pierre-Joseph Proudhon,[29] bei dem Anarchisten Michail Bakunin.[30] Auch bei dem Marxisten Franz Mehring finden sich antisemitische Formulierungen.[31] Auch bei anderen Marxisten mischten sich Aversionen in seine Äußerungen über Juden. Dies zeigte sich z. B. in einer Bemerkung über Ferdinand Lassalle in einem Brief an Engels von 1862, dass dieser „von den Negern abstammt, die sich dem Zug des Moses aus Ägypten angeschlossen hatten (wenn nicht seine Mutter oder Großmutter von väterlicher Seite sich mit einem nigger kreuzten)“.[32]

In der Propaganda der antikapitalistisch eingestellten Arbeiterbewegung vor 1933 finden sich antisemitische Versatzstücke, die bis auf Karl Marx zurückgehen, sich in seiner Schrift Zur Judenfrage finden und seitdem immer wieder erscheinen. Die KPD, die während der Novemberrevolution aus dem Spartakusbund und anderen Gruppen hervorgegangen war, nutzte während der Weimarer Republik ein Arsenal judenfeindlicher Parolen. Die taktischen, der Wahlpropaganda dienenden Entgleisungen der Kommunisten drücken weniger ein geschlossenes antisemitisches Weltbild aus, zeigen aber, dass in der Arbeiterschaft mit derlei Agitation Stimmen geholt werden konnten. Paul Wilhelm Massing, Arno Herzig und Shulamit Volkov konstatieren zunächst, die Sozialdemokraten seien von antisemitischen Ressentiments überwiegend frei gewesen und hätten eher eine „anti-antisemitische Haltung“ eingenommen.[33] Dieses Bild wurde 1978 durch Rosemarie Leuschen-Seppels Buch Sozialdemokratie und Antisemitismus im Kaiserreich revidiert. Sie betonte die Fehleinschätzung der Sozialdemokraten, im Antisemitismus ein überholtes Auslaufmodell und Relikt zu sehen. Zudem analysierte sie den soziokulturell verwurzelten Antisemitismus der Arbeiterbewegung und wies nach, dass die sozialdemokratische Unterhaltungsliteratur des späten Kaiserreichs und Karikaturen der SPD-Satirezeitschrift Der wahre Jacob mit judenfeindlichen Klischees arbeiteten.[34] Erschien der Antisemitismus auf diese Weise nicht nur als Jugendsünde, sondern als kontinuierliches Element des sozialistischen Milieus, kam eine neuere Untersuchung von Julia Schäfer zu dem Ergebnis, dass abwertende Darstellungen von Juden in der sozialdemokratischen Satirezeitschrift auf die antikapitalistische Propaganda begrenzt geblieben seien. Schäfer verglich die Judenbilder mit denen der antisemitischen Zeitschrift Kikeriki, in denen die negativen Zuschreibungen auch in anderen Zusammenhängen genutzt wurden. Sie verwies darauf, dass der wahre Jacob Rassentheorien ironisiert habe und die Macher im Verlauf der 1920er Jahre schrittweise auf judenfeindliche Darstellungen verzichtet hätten, vermutlich um sich von der massiven antisemitischen Propaganda der Nationalsozialisten abzugrenzen.[35]

Typisch für einen antisemitischen Antikapitalismus ist die Unterscheidung zwischen „schaffendem“ und „raffendem Kapital“. Ersteres wird positiv mit Deutschtum und Handarbeit konnotiert und als echte Wertschöpfung verstanden, letzteres dagegen pejorativ mit dem angeblich parasitären Zinsmechanismus, mit Börsenkapital und dem Judentum assoziiert.[36] In diesem Denken werden abstrakte Wirtschaftszusammenhänge personifiziert bzw. personalisiert: Der Kampf richtet sich dann nicht gegen ein Wirtschaftssystem, sondern gegen Menschen, die davon vermeintlich oder real profitieren, weswegen der Politikwissenschaftler Fabian Fischer hier von einem „anthropomorphen Antikapitalismus“ spricht.[37]

Der Antikapitalismus von rechts, wie im Nationalsozialismus oder in der Völkischen Bewegung, ist regelmäßig antisemitisch.

Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus innerhalb antikapitalistischer Theorien

Friedrich Engels schrieb 1890 an Isidor Ehrenfreund:

„Der Antisemitismus ist also nichts anderes als eine Reaktion mittelalterlicher, untergehender Gesellschaftsschichten gegen die moderne Gesellschaft, die wesentlich aus Kapitalisten und Lohnarbeitern besteht, und dient daher nur reaktionären Zwecken unter scheinbar sozialistischem Deckmantel.“[38]

Iring Fetscher ist der Ansicht, dass Engels die sozialen Wurzeln der antisemitischen Bewegung damit richtig erfasst hat. Ruinierte Kleinbürger suchten die Schuld an ihrem Schicksal nicht im Privateigentum an Produktionsmitteln, also der kapitalistischen Wirtschaft als solcher, sondern bei einzelnen Institutionen, bei Börsen und Banken, welche mit den Juden identifiziert würden. Diese „pseudokonkrete Verschwörungstheorie“ erfordert nach Fetscher erheblich weniger Intelligenz als die Einsicht in einen komplizierten ökonomisch-technischen Prozess.[39]

Die Neue Linke sowie die Frankfurter Schule kritisierten schon in den 1920er Jahren beziehungsweise nach dem Zweiten Weltkrieg eine Verbindung von Antisemitismus und Antikapitalismus.[40] In ihrer Dialektik der Aufklärung analysierten Max Horkheimer und Theodor W. Adorno den Antisemitismus als Form des Irrationalismus. Er sei das bestimmende Merkmal des Faschismus, der wiederum die Apotheose des Kapitalismus bilde.[41] Juden würden „vom absolut Bösen als das absolut Böse gebrandmarkt“.

Die Verbindung von Antisemitismus und Antikapitalismus entstehe durch verkürzte Kapitalismusauffassungen, nach dem der Kapitalismus ein von den herrschenden Eliten aufgezwungener Status sei, der durch eine Befreiung jener beseitigt werden könne - Ähnlich wie das Bild des Faschismus, welches die DDR vertrat, vergleiche den Faschismusbegriff des „Antifaschistischern Schutzwalls“.[42] Durch diese Denkweise werde verkannt, dass der Kapitalismus ein System sei, welches sowohl die Proletarier als auch die Bourgeoisie beinhaltet, wobei beide Klassen den Zwang haben, sich zu erhalten, und nicht die Chance haben, das System zu überwinden.[40]

Der Philosoph Slavoj Žižek warnte im Januar 2020 davor, den aktuellen Antikapitalismus in allen Fällen für nichts anderes als eine versteckte Form des Antisemitismus zu halten.[43]

Literatur

  • Wolfgang Hock: Deutscher Antikapitalismus. Der ideologische Kampf gegen die freie Wirtschaft im Zeichen der großen Krise, Knapp, Frankfurt am Main 1960.
  • Michael Barthel und Benjamin Jung: Völkischer Antikapitalismus? Eine Einführung in die Kapitalismuskritik von rechts, Reihe: Unrast transparent. Rechter Rand, Bd. 9, Unrast Verlag, Münster 2013, ISBN 978-3-89771-114-3.

Weblinks

Wiktionary: Antikapitalismus – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

  1. Wolfgang Hock: Hock, Wolfgang (1960): Deutscher Antikapitalismus. Der ideologische Kampf gegen die freie Wirtschaft im Zeichen der großen Krise. Frankfurt 1960, S. 12.
  2. Dieter Rucht: Neuere kapitalismuskritische und antikapitalistische Bewegungen In: Forschungsjournal Soziale Bewegungen 29, Heft 3 (2016), S. 121–134, hier S. 123 und 128 f.
  3. Fabian Fischer: Die konstruierte Gefahr. Feindbilder im politischen Extremismus. Nomos, Baden-Baden 2018, ISBN 978-3-8452-9346-2, S. 168 f.
  4. Fabian Fischer: Die konstruierte Gefahr. Feindbilder im politischen Extremismus. Nomos, Baden-Baden 2018, ISBN 978-3-8452-9346-2, S. 174–193.
  5. Baxa, Jakob: Adam Müller. Ein Lebensbild aus den Befreiungskriegen und aus der deutschen Restauration. Fischer 1930, S. 349.
  6. Die Idee Fouriers, durch das Phalanstere-System das sämtliche Meerwasser der Erde in Limonade zu verwandeln, war sehr phantastisch. Allein die Idee Bernsteins, das Meer der kapitalistischen Bitternis durch flaschenweises Hinzufügen der sozialreformerischen Limonade in ein Meer sozialistischer Süßigkeit zu verwandeln, ist nur abgeschmackter, aber nicht um ein Haar weniger phantastisch. Rosa Luxemburg: Sozialreform oder Revolution?, Abschnitt "4. Zollpolitik und Militarismus"
  7. Thomas Kroll, Bettina Severin-Barboutie: Wider den Kapitalismus: Antikapitalismen in der Moderne. Campus Verlag, 2021, ISBN 978-3-593-44253-2, Antikapitalismen in der Moderne: Annäherung an ein Forschungsfeld.
  8. Katrine Smiet: Sojourner Truth and Intersectionality: Traveling Truths in Feminist Scholarship. Routledge, 2020, ISBN 978-0-429-75406-7, S. 121.
  9. Giuliana Monteverde: Not All Feminist Ideas Are Equal: Anti-Capitalist Feminism and Female Complicity. In: Journal of International Women's Studies. Band 16, Nr. 1, 31. Oktober 2014, ISSN 1539-8706, S. 62–75 (bridgew.edu [abgerufen am 3. April 2022]).
  10. Wolfgang Wippermann: Faschismustheorien. Zum Stand der gegenwärtigen Diskussion. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1989, S. 21 ff.
  11. Fabian Fischer: Die konstruierte Gefahr. Feindbilder im politischen Extremismus. Nomos, Baden-Baden 2018, S. 190.
  12. Herfried Münkler: Die Deutschen und ihre Mythen. Rowohlt, Berlin 2009, S. 421–424.
  13. Fabian Fischer: Die konstruierte Gefahr. Feindbilder im politischen Extremismus. Nomos, Baden-Baden 2018, S. 191 f.
  14. Winfried Ziegler: Die Befreiungstheologie. Entwurf einer theologischen Ethik (PDF; 83,6 kB). Onlinematerial zum Ethikunterricht, Abruf im Januar 2019.
  15. Jorge Bergoglio: Zwischen Himmel und Erde. Jorge Bergoglio im Gespräch mit dem Rabbiner Abraham Skorka. Riemann, München 2013, ISBN 978-3-570-50161-0, S. 184.
  16. Norbert Kampe: Antisemitismus. In: Everhard Holtmann (Hrsg.): Politik-Lexikon. 3. Auflage, Oldenbourg, München 2000, ISBN 978-3-486-79886-9, S. 23–26, hier S. 25.
  17. Heike Hoffmann: Völkische Kapitalismus-Kritik: Das Beispiel Warenhaus. In: Uwe Puschner, Walter Schmitz, Justus H. Ulbricht (Hrsg.): Handbuch zur „Völkischen Bewegung“ 1871–1918. Saur, München 1999, ISBN 3-598-11421-4, S. 558–571.
  18. Ulrich Höver: Joseph Goebbels. Ein nationaler Sozialist. Bouvier, Bonn 1992, S. 67–81, 88 101.
  19. Zit. n. Joachim Petzold: Die Demagogie des Hitlerfaschismus. Akademie Verlag, Berlin Ost 1982, S. 316 f.
  20. Petzold: Demagogie. S. 317.
  21. Udo Kissenkoetter: Gregor Straßer und die NSDAP; Deutsche Verlags-Anstalt; Stuttgart 1978; ISBN 3421 01881 2
  22. Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP), 1920-1923/1925-1945, Historisches Lexikon Bayerns; Zugriff am 22. Juli 2021
  23. Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat: Verfassungsschutzbericht 2020. Abgerufen am 28. Juli 2021.
  24. DER SPIEGEL: AfD: Björn Höcke löst „Flügel“ auf. Abgerufen am 28. Juli 2021.
  25. Stefan Dietl: Die AfD und die soziale Frage. Zwischen Marktradikalismus und „völkischem Antikapitalismus“. Unrast Verlag, Münster 2017, ISBN 978-3-89771-238-6, S. 55–64.
  26. a b Bernd Engler, Kurt Müller: Metzler Lexikon amerikanischer Autoren. Springer-Verlag, 2017, ISBN 978-3-476-05241-4, S. 164 (google.com [abgerufen am 2. April 2022]).
  27. Claudio J. Katz: Thomas Jefferson's Liberal Anticapitalism. In: American Journal of Political Science. Band 47, Nr. 1, 2003, ISSN 0092-5853, S. 1–17, doi:10.2307/3186089.
  28. Paul Morris: Judaism and Capitalism. In: Richard H. Roberts (Hrsg.): Religion and the Transformations of Capitalism. Comparative Approaches. Routledge, London/New York 1995, S. 90; Lisa Moses Leff: Fourier, Charles. In: Richard S. Levy (Hrsg.): Antisemitism. A Historical Encyclopedia of Prejudice and Persecution. ABC-Clio, Berkeley 2005, Bd. 1, S. 238; Annette Schaefgen: Fourier, Charles. In: Wolfgang Benz (Hrsg.): Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Bd. 2: Personen. De Gruyter, Berlin 2009, ISBN 978-3-598-44159-2, S. 243.
  29. Dominique Trimbur: Proudhon, Pierre-Joseph. In: Wolfgang Benz (Hrsg.): Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Bd. 2: Personen. De Gruyter, Berlin 2009, S. 657 f.; Frédéric Krier: Sozialismus für Kleinbürger. Pierre Joseph Proudhon – Wegbereiter des Dritten Reiches. Böhlau, Köln/Weimar/Wien 2009, S. 389 f.
  30. Cornelia Schmitz-Berning: Vokabular des Nationalsozialismus. Walter de Gruyter, Berlin/New York 2007, ISBN 978-3-11-092864-8, S. 461; Klaus von Beyme: Sozialismus. Theorien des Sozialismus, Anarchismus und Kommunismus im Zeitalter der Ideologien 1789–1945. Springer, Wiesbaden 2013, S. 121 f.
  31. Robert S. Wistrich: Anti-capitalism or antisemitism? The case of Franz Mehring. In: Leo Baeck Institute Year Book. 22, 1977, S. 35–51; Götz Aly: Warum die Deutschen? Warum die Juden? Gleichheit, Neid und Rassenhass 1800–1933. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011, S. 127 f.; Edmund Silberner: Sozialisten zur Judenfrage. Ein Beitrag zur Geschichte des Sozialismus vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis 1914. Colloquium, Verlin 1962, S. 125 ff.; Matthias Vetter: Marx, Karl. In: Wolfgang Benz (Hrsg.): Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Bd. 2: Personen. De Gruyter, Berlin 2009, S. 526.
  32. Mario Keßler: Sozialismus In: Wolfgang Benz (Hrsg.): Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Bd. 3: Begriffe, Ideologien, Theorien. De Gruyter, Berlin 2010, ISBN 978-3-598-24074-4, S. 306.
  33. Christoph Nonn: Antisemitismus. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2008, S. 61–62.
  34. Christoph Nonn: Antisemitismus. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2008, S. 62.
  35. Christoph Nonn: Antisemitismus. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2008, S. 63.
  36. Matthew Lange: Bankjuden. In: Wolfgang Benz (Hrsg.): Handbuch des Antisemitismus. Band 3: Begriffe, Ideologien, Theorien. De Gruyter Saur, Berlin 2008, ISBN 978-3-598-24074-4, S. 42.
  37. Fabian Fischer: Die konstruierte Gefahr. Feindbilder im politischen Extremismus. Nomos, Baden-Baden 2018, S. 181.
  38. Zit. n. Iring Fetscher: Zur Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland. In: Hermann Huss, Andreas Schröder (Hrsg.): Antisemitismus. Zur Pathologie der bürgerlichen Gesellschaft. Frankfurt am Main 1965, S. 15.
  39. Fetscher: Zur Entstehung des politischen Antisemitismus. S. 15 ff.
  40. a b Michael Schwandt: Kritische Theorie - Eine Einführung. In: theorie.org. 7. Auflage. Schmetterling Verlag, Stuttgart 2010, ISBN 3-89657-664-X, S. 23–28 und 50–84.
  41. Martin Jay: Frankfurter Schule und Judentum: Die Antisemitismustheorie der Kritischen Theorie. In: Geschichte und Gesellschaft. 5. Jahrg., 1979, S. 449. JSTORE
  42. Thomas Haury: Antisemitismus in der DDR | bpb. Abgerufen am 28. Juli 2021.
  43. Gesellschaft - Falsche Freunde. Abgerufen am 28. Juli 2021.