Materiewelle
Der Begriff Materiewelle beschreibt das wellenartige Verhalten von Materie und wird üblicherweise verwendet, wenn dieses Verhalten gegenüber den Erwartungen der klassischen Mechanik in den Vordergrund tritt. Die grundlegende Theorie zum Wellenverhalten von Materie wurde von Louis-Victor de Broglie 1924 in seiner Dissertation erarbeitet, wofür er 1929 den Nobelpreis für Physik erhielt. Materiewellen werden daher auch als De-Broglie-Wellen bezeichnet.
Geschichte
Am Ende des 19. Jahrhunderts stellte man sich Licht als Wellen in Form von elektromagnetischen Feldern vor, deren Welleneigenschaften sich prinzipiell mit dem Huygensschen Prinzip von 1678, genauer aber durch die Maxwell-Gleichungen von 1864 beschreiben lassen. Solche Wellen können mit beliebigem Energieinhalt, auch einem beliebig kleinen, erzeugt und absorbiert werden. Bei der Materie stellte man sich dagegen vor, dass sie sich aus stark lokalisierten Teilchen wohlbestimmter Masse zusammensetzt, die der Newtonschen Mechanik von 1687 gehorchen. Im Jahr 1900 wurde die Unterscheidung von Welle und Materie erstmals angezweifelt, als Max Planck zur Erklärung der Wärmestrahlung eine Theorie vorschlug, nach der Licht nur in bestimmten diskreten Energiequanten emittiert werden kann. Plancks Vorschlag war im Rahmen der klassischen Physik nicht zu begründen, aber Albert Einstein konnte ihn 1905 zur ersten richtigen Erklärung des photoelektrischen Effekts nutzen. Einstein schlug vor, dass das Licht als solches "gequantelt" ist, d. h. immer nur in Form von Energiepaketen vorliegt, und dass diese "Lichtquanten" beim photoelektrischen Effekt einzeln und nur als Ganzes absorbiert werden können. Innerhalb der folgenden zwei Jahrzehnte wurde diese Vorstellung bestätigt, besonders durch Experimente von Robert Millikan und Arthur Compton. Sie bildete den Ausgangspunkt des neuen Wissenschaftsgebiets der Quantentheorie.[1] Einsteins Lichtquanten werden heute Photonen genannt.
Zusammen mit seiner Entdeckung der Lichtquanten erkannte Einstein als erster, dass Licht zugleich als Welle und als Teilchenstrom beschrieben werden muss, und begründete damit den Welle-Teilchen-Dualismus. 1924 vervollständigte Louis-Victor de Broglie dieses Konzept, indem er in seiner Dissertation umgekehrt postulierte, dass auch klassische Teilchen Welleneigenschaften aufweisen sollten. Er erhob damit den Welle-Teilchen-Dualismus zum allgemeinen Prinzip.[2] Dass Materie tatsächlich diese Welleneigenschaften besitzt, wurde erstmals 1927 in Experimenten zur Beugung von Elektronen an dünnen Metallfolien von Clinton Davisson und Lester Germer (Davisson-Germer-Experiment) und unabhängig davon von George Paget Thomson[3] bestätigt. Davisson und Thomson erhielten für diese Entdeckungen 1937 den Nobelpreis für Physik.
Die Materiewelle nach de Broglie wurde in der durch Erwin Schrödinger voll ausgearbeiteten Wellenmechanik zur Wellenfunktion verallgemeinert, deren Betragsquadrat an einem bestimmten Ort die Aufenthaltswahrscheinlichkeitsdichte des Teilchens beschreibt.
Die Einstein-de-Broglie-Beziehungen
Klassische Betrachtung
Einstein schrieb in seiner Deutung des Photoeffekts für Licht der Wellenlänge jedem Photon die Energie und den Impuls zu, wobei das Plancksche Wirkungsquantum und die Lichtgeschwindigkeit bezeichnen. De Broglie wendete diese Gleichung jetzt auf Materieteilchen an, indem er den Zusammenhang umkehrte und jedem Teilchen mit dem Impuls die Wellenlänge
zuordnete. Diese grundlegende Beziehung der Materiewellen wird De-Broglie-Gleichung genannt.[4][5] Damit lässt sich der Gültigkeitsbereich der obigen Gleichungen von Planck und Einstein auf Teilchen mit Masse erweitern. Die entsprechenden De-Broglie-Gleichungen für Wellenlänge und Frequenz der Materiewelle lauten wie folgt:
In der Quantenmechanik ist es häufig zweckmäßig, anstelle der Wellenlänge die Wellenzahl und anstelle der Frequenz die Kreisfrequenz zu verwenden. Der dabei auftretende Faktor wird mit dem Wirkungsquantum zum reduzierten Planckschen Wirkungsquantum (gesprochen: „h quer“) zusammengefasst. Will man zusätzlich die Ausbreitung der Welle mit einer bestimmten Richtung im dreidimensionalen Raum beschreiben, erweitert man die Wellenzahl zum Wellenvektor . In dieser Darstellung lauten die De-Broglie-Gleichungen dann wie folgt:[6]
Aus der Beziehung zwischen Impuls und kinetischer Energie in der klassischen Mechanik folgt für die Dispersionsrelation der Materiewellen
- ,
also ein quadratischer Zusammenhang im Gegensatz zur linearen Dispersionsrelation masseloser Objekte.
Relativistische Betrachtung
Um die De-Broglie-Gleichungen auch in der relativistischen Quantenmechanik zu verwenden, kann der Viererimpuls aus der speziellen Relativitätstheorie verwendet werden. Dieser hängt, abgesehen von der konstanten Lichtgeschwindigkeit, nur von der Masse und der Geschwindigkeit des Teilchens ab. Es gilt:
wobei .
Mit der ersten Formel berechnet man die relativistische Energie. Die zweite Formel beschreibt den relativistischen Impuls des Teilchens. Mit diesen beiden Ausdrücken schreiben sich die De-Broglie-Gleichungen auch wie folgt:
steht für die Masse des Teilchens, für die Geschwindigkeit, für den Lorentzfaktor und für die Lichtgeschwindigkeit im Vakuum.[7][8][9]
Diese beiden Gleichungen lassen sich durch die Verwendung von Vierervektoren in einer Gleichung wie folgt darstellen:
Dabei ist wieder der Viererimpuls des Teilchens und der Vierer-Wellenvektor mit
Aufgrund der relativistischen Energie-Impuls-Relation folgt die Dispersionsrelation
- .
Bei kleinen Wellenzahlen, also kleinen Impulsen verglichen mit , erhält man daraus als Näherung die oben angegebene nichtrelativistische quadratische Dispersionsrelation (wenn man dort zur kinetischen Energie die konstante Ruheenergie addiert). Im hochrelativistischen Fall folgt die lineare Dispersionsrelation
- ,
die auch für masselose Teilchen gilt.
Auswirkungen
Experimenteller Nachweis
Jedem Teilchen und jedem zusammengesetzten Körper kann eine Materiewelle zugeordnet werden. Dies führt dazu, dass Teilchen unter bestimmten Bedingungen Wellenphänomene wie Beugung und Interferenz zeigen. Die ersten Nachweise von Elektroneninterferenz durch Davisson, Germer und Thomson bestätigten dieses Bild und insbesondere de Broglies Wellenlängenformel.[10] Seitdem wurde der Wellencharakter von Materie bis hin zu Molekülgröße in vielen weiteren Versuchen nachgewiesen. Am eindrucksvollsten ist vielleicht der Doppelspaltversuch mit Elektronen, den Claus Jönsson 1959 an der Universität Tübingen realisierte. Heutzutage lässt sich der Nachweis von Welleneigenschaften bei Elektronen schon im Schulunterricht erbringen, zum Beispiel mit einer Elektronenbeugungsröhre.
Materiewellen im Alltag
Die Welleneigenschaften von makroskopischen Gegenständen spielen im Alltag keine Rolle. Wegen ihrer großen Masse sind ihre Impulse auch bei kleinsten typischen Geschwindigkeiten so groß, dass sich mit dem Planckschen Wirkungsquantum extrem kleine Wellenlängen ergeben. Da sich Welleneigenschaften nur dann zeigen, wenn Wellen mit Strukturen wechselwirken, deren Abmessungen im Bereich der Wellenlänge liegen, ist im Makrokosmos kein Wellenverhalten zu beobachten. Das bisher (2016) größte Stück Materie, das in einem besonders ausgeklügelten Experiment Interferenzstreifen zeigte, ist ein Molekül aus 810 Atomen.[11] Indes zeigen sich die Materiewellen durchaus auch im Alltag, wenn auch auf weniger direkte Weise. Wegen ihrer untrennbaren Verbindung mit der Quantenmechanik zeigen sie sich in jedem Gegenstand, dessen physikalische Eigenschaften durch die Quantenmechanik zu beschreiben sind. Ein beliebig herausgegriffenes Beispiel ist etwa ein Handy mit seinen elektronischen Bauteilen.
Anwendungen
Heutzutage werden die Wellenphänomene der Materie vielfältig bei der Untersuchung von Festkörpern und anderen Materialien eingesetzt, aber auch zur Klärung von physikalischen Grundfragen. Anwendungsbereiche sind die Elektronenbeugung, Atominterferometrie und Neutroneninterferometrie.
Ausblick
In der Quantenmechanik wird davon ausgegangen, dass einem Teilchen kein definierter Ort zugewiesen werden kann, sondern nur eine Aufenthaltswahrscheinlichkeit, die durch eine Wahrscheinlichkeitswelle beschrieben wird. Diese Wahrscheinlichkeitswelle muss einer Wellengleichung folgen (z. B. Schrödinger- oder Dirac-Gleichung). Eigenschaften, die man klassischen Teilchen zuordnet, werden durch eng lokalisierte Wellenpakete erklärt. Die Tatsache, dass die Aufenthaltswahrscheinlichkeit einer Wellengleichung folgt und damit auch Wellenform hat, ist der tiefere Grund für die Tatsache, dass Materie Welleneigenschaften zeigt.
Noch einen Schritt weiter gehen Versuche, den Begriff des punktförmigen klassischen Teilchens ganz aus der Quantenmechanik zu elimininieren und die beobachteten Phänomene nur mit Wellenpaketen aus Materiewellen zu erklären.[12][13]
Siehe auch
Weblinks
- Louis de Broglie: The wave nature of the electron. (PDF; 71 kB) Nobel Lecture, 12. Dezember 1929.
- Wave nature of Biomolecules and Fluorofullerenes. Lucia Hackermüller, Klaus Hornberger und Markus Arndt 09/2003
Einzelnachweise
- ↑ A. Einstein (1917). Zur Quantentheorie der Strahlung, Physicalische Zeitschrift 18. S. 121–128.
- ↑ Louis de Broglie: The Reinterpretation of Wave Mechanics. In: Foundations of Physics. Vol. 1, No. 1, 1970.
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- ↑ Louis de Broglie: Licht und Materie. H. Goverts Verlag, Hamburg 1939, S. 163.
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- ↑ C. Cohen-Tannoudji, B. Diu, F. Laloe, Quantenmechanik, Band 1, 2. Auflage, ISBN 3-11-016458-2, 1999, S. 11.
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- ↑ W. S. C. Williams (2002). Introducing Special Relativity, Taylor & Francis, London, ISBN 0-415-27761-2, S. 192.
- ↑ L. de Broglie (1970). The reinterpretation of wave mechanics, Foundations of Physics 1(1): 5–15, S. 9.
- ↑ Rudolf Gross: Materiewellen. (PDF; 827 kB). In: Physik III – Optik und Quantenphänomäne. Vorlesungsskript zur Vorlesung WS 2002/2003. Walther-Meißner-Institute (WMI), Bayerische Akademie der Wissenschaften; abgerufen am 6. August 2009 (Materiewellen – Ausführliche Beschreibung).
- ↑ Christian Brand, Sandra Eibenberger, Ugur Sezer, Markus Arndt: Matter-wave physics with nanoparticles and biomolecules. In: Les Houches Summer School, Session CVII–Current Trends in Atomic Physics. 2016, S. 13 (online [PDF; abgerufen am 13. März 2019]). Es handelt sich um Meso-tetra(pentafluorophenyl)porphyrin (TPPF20) mit der Summenformel C284H190F320N4S12 und einer Molekülmasse von 10123 amu.
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