Dekonstruktivismus (Architektur)

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Seattle Central Library (Rem Koolhaas und Joshua Prince-Ramus)

Dekonstruktivismus ist eine architektonische Stilrichtung, die den Anspruch einer Ablösung der Postmoderne erhebt. In Anlehnung an die Dekonstruktion Jacques Derridas sollen in der Architektur Struktur und Form simultan einer Destruktion und einer erneuten Konstruktion unterzogen werden.

Entwicklung und Entstehung

Der Begriff Dekonstruktivismus als eine Bewegung in der Architektur hat seinen Beginn wohl nicht erst mit der 1988 von Philip Johnson, Heiko Herden und Mark Wigley inszenierten Ausstellung „Deconstructivist Architecture“ im Museum of Modern Art in New York gehabt, in der Werke von sieben Architekten gezeigt wurden: Frank Gehry, Daniel Libeskind, Rem Koolhaas, Peter Eisenman, Zaha Hadid, Coop Himmelb(l)au und Bernard Tschumi. Die Entwicklung hin zu dieser Stilrichtung begann etwa 10 Jahre zuvor mit dem Wohnhaus von Frank Gehry in Santa Monica, das als das erste dekonstruktivistische Bauwerk gilt.

In der Architektur ging (und geht) es gewissermaßen immer um die Organisation des die Funktion gewährleistenden, die Ästhetik bestimmenden und durch die Tektonik definierten Verhältnisses von Tragen und Lasten. Es ging in der Konsequenz daher nicht selten darum, Gebäude im Rückgriff auf einfache geometrische Körper (Würfel, Zylinder, Kugel, Pyramide, Kegel usw.) zu konstruieren. Abweichungen von den Werten der Harmonie, Einheit und Stabilität wurden von der Struktur abgelöst und als Ornament behandelt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts brach die russische Avantgarde mit den klassischen Regeln der Komposition und benutzte reine Formen um schiefe geometrische Kompositionen zu schaffen. Wladimir Tatlin und die Brüder Wesnin versuchten, dies auch auf die Architektur zu übertragen, kehrten aber im endgültigen Entwurfsstadium immer wieder zu stabilen Formen zurück. An dieser Stelle setzt dekonstruktive Architektur an. Sie möchte die Struktur offenlegen, sie aufbrechen und ihre Instabilität sichtbar werden lassen. Aus diesem Grund ist auch der Begriff des Dekonstruktivismus unglücklich gewählt, denn es geht dabei nicht um die De-Konstruktion von Architektur, sondern um das Deutlichmachen des atektonischen Moments dieser Bauten.[1]

Ein dekonstruktiver Architekt ist deshalb nicht jemand, der Gebäude demontiert, sondern jemand, der den Gebäuden inhärente Probleme lokalisiert. Der dekonstruktive Architekt behandelt die reinen Formen der architektonischen Tradition wie ein Psychiater seine Patienten – er stellt die Symptome einer verdrängten Unreinheit fest. Diese Unreinheit wird durch eine Kombination von sanfter Schmeichelei und gewalttätiger Folter an die Oberfläche geholt: Die Form wird verhört.

Mark Wigley in: Johnson 1988 – S. 11

Jacques Derrida und Peter Eisenman arbeiteten eine Zeit lang an verschiedenen Projekten zusammen und führten einen Dialog, der letztlich in einem großen Streit auseinanderging (der Streit, dokumentiert in der Form eines Briefwechsels, findet sich in: Eisenman 1995). Heute besteht außer der Namensgleichheit und einer eher oberflächlichen Ähnlichkeit der Praxis keine wirkliche Verbindung zwischen der Dekonstruktion in der Philosophie und Literaturwissenschaft und dem Dekonstruktivismus in der Architektur.[2]

Beispielhafte Bauwerke

Galerie

Literatur

  • Ernst Seidl: Zerstörungsphänomene in der Baukunst: Atektonik statt Dekonstruktion. In: Bettina Paust (Hg.): Aufbauen – Zerstören. Phänomene und Prozesse der Kunst (Moyländer Diskurse zu Kunst und Wissenschaft 1). Athena-Verlag, Oberhausen 2007, ISBN 978-3-89896-275-9, S. 57–68.
  • Daniel Libeskind u. a.: Alles Kunst? Wie arbeitet der Mensch im neuen Jahrtausend, und was tut er in der übrigen Zeit?. Herausgegeben von Stefanie Carp. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2001, ISBN 3-498-01319-X.
  • Peter Eisenman: Aura und Exzeß. Zur Überwindung der Metaphysik in der Architektur. Herausgegeben von Ullrich Schwarz. Passagen, Wien 1995, ISBN 3-85165-165-0, (Passagen Architektur).
  • Mark Wigley: Architektur und Dekonstruktion. Derridas Phantom. Birkhäuser, Basel 1994, ISBN 3-7643-5036-9, (Birkhäuser-Architektur-Bibliothek).
  • Alois Martin Müller (Hg.): Daniel Libeskind. Radix – Matrix. Architekturen und Schriften. Prestel, München u. a. 1994, ISBN 3-7913-1341-X.
  • Andreas C. Papadakis: Dekonstruktivismus – eine Anthologie. Klett-Cotta, Stuttgart 1989, ISBN 3-608-76290-6.
  • Philip Johnson, Mark Wigley: Dekonstruktivistische Architektur. Hatje, Stuttgart 1988, ISBN 3-7757-0270-9.
  • Simone Kraft: Dekonstruktivismus in der Architektur?. Eine Analyse der Ausstellung »Deconstructivist Architecture« im New Yorker Museum of Modern Art 1988. transcript Verlag, Bielefeld 2015, ISBN 978-3-8376-3029-9.

Weblinks

Commons: Dekonstruktivismus – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Quellen

  1. Seidl, S. 68.
  2. Vgl. Wigley 1994.
  3. nextroom-architektur im netz: Steinhaus, Günther Domenig - Steindorf am Ossiacher See (A) - 2008. Abgerufen am 25. Juni 2022.