Diaspora

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Der Begriff Diaspora ([diˈaspoʀa]; altgriechisch διασπορά diasporá ,Zerstreuung, Verstreutheit‘) bezeichnet die Existenz religiöser, nationaler, kultureller oder ethnischer Gemeinschaften in der Fremde, nachdem sie ihre traditionelle Heimat verlassen haben und mitunter über weite Teile der Welt verstreut sind. Im übertragenen Sinn, der umgangssprachlich häufig ist, kann es auch die so lebenden Gemeinschaften selbst oder ihr Siedlungsgebiet bezeichnen.[1]

Ursprünglich und über viele Jahrhunderte bezog sich der Begriff nur auf das Exil des jüdischen Volkes und seine Zerstreuung außerhalb des historischen Heimatlandes. Seit der frühen Neuzeit bezog er sich auch auf lokale Minderheiten der christlichen Diaspora. In Griechenland werden mit dem Begriff die Auslandsgriechen bezeichnet, die über die Hälfte des Griechentums ausmachen.

Seit den 1990er Jahren wird der auch als Weltzerstreuung übersetzte Begriff Diaspora zunehmend auch in die semantische Nähe der Konzepte des Transnationalismus beziehungsweise der Transmigration gerückt.[2]

Ursprung und Bedeutung

Das Wort stammt aus der Übersetzung der Septuaginta, der griechischen Übersetzung der hebräisch-aramäischen Bibel (Tanach): „Der Herr wird dich unter alle Völker verstreuen, vom einen Ende der Erde bis zum anderen Ende der Erde.“ (Dtn 28,64 EU) Es wird dabei als Metapher gebraucht, die eine Auflösung des Volkes beziehungsweise Trennung und Entfernung von seinem Heimatland umschreibt.

Jüdische Diaspora

Ursprünglich wurden mit Diaspora geschlossene Siedlungen der Juden bezeichnet, die nach dem Untergang des Reiches Juda 586 v. Chr. zunächst im Babylonischen Exil entstanden und sich in den folgenden Jahrhunderten von dort und von Palästina aus ausbreiteten. Nach der Vertreibung der Juden aus Palästina 135 n. Chr. durch Kaiser Hadrian trat eine neue Situation ein: Anders als andere Flüchtlinge, die auf der Suche nach einem neuen Lebensraum aufbrachen, war für die vertriebenen Juden kennzeichnend, dass sie aus religiösen Gründen an eine Rückkehr in ihre Heimat in Palästina glaubten. Dieser Glaube an das Gelobte Land war sowohl schriftlich in der hebräisch-aramäischen Bibel (Dtn 30,3 EU) wie im Hauptgebet der Juden verankert. Das Ende der Diaspora sollte durch die Ankunft des Messias herbeigeführt werden (Jes 11,12 EU; Jes 27,12f EU). Diese einzigartige Situation, die auf die Juden identitätsstiftend wirkte, motivierte manche Wissenschaftler, die Bedeutung des Begriffs Diaspora allein auf das jüdische Exilleben in der Zeit vom ersten Babylonischen Exil bis zur Vertreibung aus Palästina 135 n. Chr. zu beschränken. Dagegen soll das Leben der Juden in der Zeit nach der Vertreibung im Jahr 135 bis zur Gründung des Staates Israel 1948 als Galut bezeichnet werden. Diese Definition wurde in der Judaistik einflussreich, weil sie als einzige in der Encyclopaedia Judaica angegeben wird.[3]

Der Begriff wird aber heute oft auf verschiedene Erscheinungsformen von Leben außerhalb der Heimat angewandt, auch dann, wenn dies nicht an einen Glauben an einen Messias gebunden ist. Dennoch ist die jüdische Diaspora mit 8.074.300 Menschen (Stand 1. Januar 2016) trotz des inflationären Gebrauchs immer noch eine relativ große und bedeutende Diaspora.[4]

Für Juden gilt das talmudische Prinzip des Dina de-malchuta dina (aramäisch דִּינָא דְּמַלְכוּתָא דִּינָא „Das Gesetz des Landes ist Gesetz“). Es wurde vom babylonischen Amoräer Samuel in Verhandlungen mit dem Sassanidenherrscher Schapur I. im 3. nachchristlichen Jahrhundert festgelegt und hat seine Gültigkeit in der jüdischen Diaspora bis heute bewahrt. Es schreibt vor, dass Juden grundsätzlich verpflichtet sind, die Gesetze des Landes, in dem sie leben, zu respektieren und zu befolgen. Das bedeutet auch, dass die Landesgesetze in bestimmten Fällen sogar den Rechtsgrundsätzen der Halacha vorgehen.

Andere religiöse und ethnische Diasporas

Schon seit der frühen Neuzeit wird der Begriff auch auf lokale Minderheiten der christlichen Diaspora bezogen. Während der Begriff der Diaspora im religionshistorischen Kontext gemeinhin negativ konnotiert ist, ist der Diasporabegriff des aktuellen Theoriediskurses nicht mehr zwingend primär negativ besetzt. In jedem Fall kann die diasporische Situation – das Leben als ethnische oder kulturelle Gemeinschaft in der Fremde – als ein Paradigma der globalisierten Welt gelten. Die Diaspora situiert sich im Spannungsfeld zwischen kosmopolitischer Losgelöstheit und einem Nationalismus, der sich nicht länger rein territorial definiert. Diasporische Kulturen und Gruppen sind vielfältig und heterogen geworden. Im Kontext verwendete Begriffe wie Exil, Immigrant, Ausgestoßener, Flüchtling, Expatriate oder Minderheit und Transnationalität zeigen die Probleme auf, eine allgemein gültige Definition des Begriffs Diaspora aus heutiger Sicht zu erstellen.[5]

William Safran hat sechs Regeln zur Unterscheidung von Diasporas von Migrantengemeinden festgelegt. Sie halten einen Mythos aufrecht oder behalten eine kollektive Erinnerung an ihre Heimat. Sie betrachten ihre angestammte Heimat als ihre wahre Heimat, zu der sie schließlich zurückkehren werden. Sie fühlen sich der Wiederherstellung oder Erhaltung dieser Heimat verpflichtet. Und sie beziehen sich persönlich oder stellvertretend auf die Heimat bis zu einem Punkt, an dem sie ihre Identität prägt.[6]

Über die materiellen Probleme hinaus stellt die Diasporasituation die Menschen vor die Frage nach ihrer kulturellen Identität. Oft betonen und überhöhen sie die Werte ihres Ursprungslandes. Freiwillige oder erzwungene Ab- und Ausgrenzung einerseits (Parallelgesellschaft), Assimilation bis zum Verlust der Muttersprache oder Religion der Gemeinschaft andererseits sind die Extreme, zwischen denen Diasporabevölkerungen ihren Weg suchen. Die dabei seit Jahrhunderten gewonnenen Erfahrungen können wertvoll sein für eine Welt, in der kulturelle Vielfalt zur Normalsituation wird. Insgesamt entwickeln Minderheiten, die lange Zeit nirgends hoffen dürfen, eine Mehrheit zu werden, durchaus spezifische Politik-Konzepte; auch gegenüber anderen Minderheiten.

Robin Cohen unterscheidet in seinem Buch über den Begriff der Diaspora verschiedene Konzepte von Diaspora. Zunächst die Opfer-Diaspora, für die er als Beispiel die Armenier, die Juden oder auch die afrikanischen Sklaven nennt. Er führt ferner die Diaspora von Arbeitsmigration und Bevölkerungsbewegungen in imperialen Kolonialreichen auf und nennt dort als Beispiel die Inder im Commonwealth. Er spricht von der Diaspora des Handels und untersucht diese am Beispiel der Chinesen und der Libanesen. Er beschreibt eine kulturelle Diaspora und bespricht dies am Beispiel der karibischen Diaspora. Schließlich beschäftigt er sich mit jenen Vorstellungen von Diaspora, die vor allem eine starke Sehnsucht nach einem Heimatland artikulieren oder gar einen Mythos um dieses Heimatland pflegen.[7] Die letzten Spuren ihrer ursprünglichen kulturellen Zugehörigkeit von Menschen in einer Diaspora bestehen demnach häufig im Widerstand der im Exil lebenden Gemeinschaft gegen einen Wechsel der Sprache und in der Aufrechterhaltung der traditionellen religiösen Praxis.

Liste der Diasporas

Wichtige Diasporas umfassen die folgenden Gemeinschaften (in alphabetischer Reihenfolge):

Moderne Diaspora

Das 20. Jahrhundert ist als Jahrhundert der Migration durch zahllose Fluchtbewegungen gekennzeichnet, die ihre Ursachen in Krieg, Nationalismus, Armut und Rassismus haben. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sahen zahlreiche Flüchtlinge aus Europa, Asien und Nordafrika ihr Heil in Nordamerika.

Zu den Flüchtlingsethnien zählen u. a.:

Diaspora-Politik

Diaspora-Politik, auch Emigranten-Politik (auf Englisch emigrant policies), zielt in den meisten Fällen darauf ab, einerseits die Verbindungen der Emigranten zu ihren Herkunftsorten und -staaten zu stärken und andererseits ihre Integration in das Aufnahmeland zu befördern. Dabei ist Diaspora-Politik nicht mit Emigrationspolitik zu verwechseln, welche den Akt der Auswanderung selbst reguliert. Diaspora-Politik setzt später an: Bei den Rechten, Pflichten und Partizipationsmöglichkeiten von ausgewanderten Bürgern, die bereits außerhalb der Landesgrenzen leben. Die Ansätze der Einbindung der ausgewanderten Bürger in ihre Herkunftsländer werden als „staatsgeführter Transnationalismus“ (auf Englisch state-led transnationalism) bezeichnet.

Gründe für Diaspora-Politik

Die Gründe, warum Herkunftsstaaten ein Interesse an fortdauernden Banden zu ihren Emigranten haben, sind vielseitig. Sie reichen von der Sicherstellung eines stetigen Zustroms an Geldüberweisungen (Remittances), über Kontrolle der im Ausland lebenden Bevölkerung bis hin zu einer Funktionalisierung der Emigranten als außenpolitische Lobby im Residenzland. Das wichtigste Politikfeld dabei sind staatsbürgerliche Rechte, gefolgt von sozialpolitischen Maßnahmen, die eine Ausweitung wohlfahrtsstaatlicher Funktionen über die Staatsgrenzen hinaus darstellen.

Auch für die Aufnahmestaaten der Migranten ist Diaspora-Politik wichtig, denn manche Staaten helfen ihren emigrierten Bürgern aktiv dabei, sich in die dortige Gesellschaft zu integrieren. Solche Politikansätze können die Integrationskosten für Emigranten senken – und bieten ein bislang wenig genutztes Potenzial für die Kooperation von Herkunfts- und Zielstaaten.[11]

Herausforderungen für Herkunfts- und Aufnahmeländer

Diaspora-Politik bleibt gleichwohl eine Herausforderung. Die Ausweitung von Politiken über die Staatsgrenzen hinaus antwortet zwar auf ein Anliegen vieler Emigranten, aber sie führt auch zu neuen Forderungen – sei es nach transparenterer und institutionalisierter Beteiligung im Herkunftsland oder für mehr und bessere Unterstützung im Aufnahmeland. Für staatliche Politik bleibt dies ein schwieriges Terrain. Jenseits der Landesgrenzen bedarf es eng koordinierter Politikansätze für Bereiche, die im Land selbst in die Zuständigkeit ganz unterschiedlicher Instanzen fallen. Gleichzeitig sind die Ressourcen zur Umsetzung im Ausland über das konsularische Netzwerk und die Kooperation mit Migrantenorganisationen und lokalen Repräsentanten in aller Regel viel geringer.[11]

Lateinamerika als Vorreiter

Die Tolerierung doppelter Staatsbürgerschaft hat in Lateinamerika größere Verbreitung gefunden als in jeder anderen Weltregion. Mit Ausnahme von Kuba erlauben alle Staaten ihren ausgewanderten Bürgern die Annahme einer zweiten Staatsbürgerschaft ohne Verlust der ersten. Während in Europa Nationalität und Staatsbürgerschaft vielfach synonym verwendet werden, besteht in Lateinamerika eine rechtliche Unterscheidung zwischen beiden Kategorien. Während Nationalität die Mitgliedschaft in einem Nationalstaat bezeichnet, ist Staatsbürgerschaft (auf Spanisch ciudadanía) eine Unterkategorie davon, die sich auf den Status der formalen Teilhabe an der politischen Gemeinschaft bezieht.

Die Forschung zu Lateinamerika zeigt, dass dort die Ausweitung der Diaspora-Politik mit einer Orientierung an Bürgerrechten und staatlichen Leistungen verbunden ist, die die Integration in die Aufnahmeländer positiv beeinflussen können. Auch für europäische Aufnahmeländer gilt, dass unter den vielfältigen Formen, in denen Herkunftsstaaten die Bande zu ihren Emigranten pflegen, es Möglichkeiten zu produktiver Kooperation gibt, die die Kosten von Migration und Integration senken können – zum Nutzen aller Beteiligter. Sowohl Herkunfts- und Aufnahmeländer als auch Migranten können davon profitieren.

Die Ausweitung staatlicher Funktionen und politische Innovationen im Umgang mit Emigranten sind ein weltweiter Trend, der ein neues Interesse der Herkunftsstaaten an ihren emigrierten Bürgern widerspiegelt. Lateinamerika erlebt die Ausweitung von Diaspora-Politik als Strategien, eine zerbrochene Beziehung zu all jenen Menschen wiederzubeleben, die wegen fehlender Perspektiven ihre Länder verlassen haben.[12]

Literatur

  • Gavriʾel Sheffer: Diaspora Politics. At Home Abroad. Cambridge University Press, New York 2003, ISBN 0-521-81137-6.
  • Ruth Mayer: Diaspora. Eine kritische Begriffserklärung. Transcript, Bielefeld 2005, ISBN 3-89942-311-9.

Weblinks

Commons: Diasporas – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien
Wiktionary: Diaspora – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

  1. Eintrag Diaspora, in Duden.de, abgerufen am 13. April 2019.
  2. Jenny Kuhlmann: Exil, Diaspora, Transmigration, Bundeszentrale für politische Bildung, 6. Oktober 2014. Abgerufen am 4. Juli 2017.
  3. Encyclopaedia Judaica, Second Edition, Volume 5: Coh-Doz, S. 637–643.
  4. Sergio Della Pergola: World Jewish Population, 2016. In: Arnold Dashefsky, Ira M. Sheskin (Hrsg.): American Jewish Year Book 2016. Springer, 2017, S. 274, 311–317. ISBN 978-3-319-46121-2 (E-Book: doi:10.1007/978-3-319-46122-9; eingeschränkte Vorschau in Google Books).
  5. Ruth Mayer: Diaspora. Eine kritische Begriffsbestimmung. transcript Bielefeld, 10/2005. ISBN 978-3-89942-311-2. Eingeschränkte Vorschau (Memento vom 14. Februar 2018 im Internet Archive)
  6. William Safran: Diasporas in Modern Societies: Myths of Homeland and Return. In: Diaspora: A Journal of Transnational Studies. 1, 1991, S. 83–99 (doi:10.1353/dsp.1991.0004).
  7. Robin Cohen: Global Diasporas: An Introduction. Routledge, 2008, ISBN 978-0-415-43550-5.
  8. http://www.demoscope.ru/weekly/2006/0251/tema02.php (russisch-kyrillischer Text)
  9. V. G. Makarov; V. S. Christoforov: «Passažiry ‹filosofskogo paroxoda›. (Sud’by intelligencii, repressirovannoj letom-osen’ju 1922 g.)». In: Voprosy filosofii Nr. 7 (600) 2003, S. 113–137 [russ.: «Die Passagiere des ‹Philosophenschiffs›. (Die Schicksale der im Sommer/Herbst 1922 verfolgten Intelligenzija)»; enthält eine Liste mit biographischen Angaben zu allen 1922–1923 aus Russland exilierten Intellektuellen].
  10. Serben in Deutschland, Serbien-Montenegro.de Serben in Deutschland und im deutschsprachigen Raum (Memento vom 22. November 2010 im Internet Archive)
  11. a b Pedroza, Luicy; Palop, Pau; Hoffmann, Bert: Neue Nähe: Die Politik der Staaten Lateinamerikas zu ihren Emigranten. Hrsg.: GIGA Focus Lateinamerika. Band 3. Hamburg Juli 2016, S. 13 (giga-hamburg.de [PDF]).
  12. Pedroza, L., Palop, P. & Hoffmann, B.: Emigrant Policies in Latin America and the Caribbean. FLACSO-Chile, Santiago de Chile 2016, ISBN 978-956-205-257-3, S. 360 (giga-hamburg.de [PDF]).