Einsamer Wolf (Terrorismus)
Ein einsamer Wolf (engl. lone wolf) ist ein terroristischer Tätertyp, der nicht unter einem Kommando steht oder von einer Gruppe materiell unterstützt wird.
„Einsame Wölfe“ handeln stets als Einzeltäter und ohne spezifischen Auftrag Dritter, bestimmen also Zeitpunkt, Objekt und Methodik ihres Terroranschlags selbst. Sie folgen in der Regel einer extremistischen Ideologie, ohne ihre Aktion(en) mit anderen Vertretern derselben Ideologie abzustimmen, und ohne persönlichen Kontakt zu möglichen Gesinnungsgenossen. Dadurch sind „einsame Wölfe“ für Geheimdienste schwer im Voraus zu erkennen, weil sie bei der Überwachung verdächtiger Netzwerke nicht auftauchen.
Hintergrund
Der amerikanische Neonazi Louis Beam, ehemals Mitglied des Ku-Klux-Klan, entwarf zu Beginn der 1990er Jahre das Konzept „Führerloser Widerstand“, mit dem er Timothy McVeigh, der den Bombenanschlag auf das Murrah Federal Building in Oklahoma City 1995 maßgeblich plante und ausführte, beeinflusste.[1] Den Begriff einsamer Wolf für einen rechtsextremistischen, rassistischen Einzeltäter prägte der Gründer der White Aryan Resistance, Tom Metzger, um 1995 in einem 'Manifest', in dem es heißt: „Ich bin der Untergrundkämpfer und unabhängig. Ich bin in Deiner Nachbarschaft, in den Schulen, Polizeiabteilungen, Bars, Coffeeshops, Einkaufszentren et cetera, und ich bin 'Der einsame Wolf'.“[2]
Das Konzept findet sich bereits bei anarchistischen Terroristen seit 1850 und wurde später von Rechtsextremen aufgegriffen.[3] Im Zusammenhang mit der Propaganda der Tat, die der russische Anarchist Pjotr Alexejewitsch Kropotkin im weiteren Verlauf zu einer terroristischen Strategie umwandelte, schienen Gewaltakte gerechtfertigt, mit denen die erhoffte Revolution angefacht werden sollte.[4]
Typologie
Raffaello Pantucci vom International Centre for the Study of Radicalisation and Political Violence (ICSR) unterscheidet vier Typen:[5]
- Loner (Einzelgänger)
- Lone Wolf (einsamer Wolf)
- Lone Wolf Pack (Rudel einsamer Wölfe)
- Lone Attacker (einzelner Angreifer)
Terrorakte einsamer Wölfe
Afrika, Naher Osten, Asien
- Baruch Goldstein, Hebron 1994
- Eden Natan-Zada, 2005
- Alaa Abu Dhein, 2008
- Bombenanschlag in Aksu (Stadt), August 2010
- Ermordung von Salman Taseer, 2011
- Anschlag auf zwei Moscheen in Christchurch (Neuseeland), 2019
Europa
- Helmut Oxner, 1982
- John Ausonius, 1991/92
- Franz Fuchs, 1993–1997 Bajuwarische Befreiungsarmee (BBA)
- Kay Diesner, Februar 1997
- David Copeland verübte im April 1999 in London innerhalb von 13 Tagen eine Serie von drei Nagelbombenanschlägen
- Michael Berger ermordete am 14. Juni 2000 in Dortmund und Waltrop die Polizisten Matthias Larisch von Woitowitz (35), Yvonne Hachtkemper (34) und Thomas Goretzky (35); siehe Polizistenmorde von Dortmund und Waltrop
- Volkert van der Graaf ermordete Pim Fortuyn, 2002
- Arid Uka verübte den Mordanschlag am Frankfurter Flughafen am 2. März 2011
- Anders Behring Breivik verübte die Anschläge in Norwegen 2011
- Mohammed Merah verübte die Anschlagsserie in Midi-Pyrénées, 2012
- Anschlag auf das Jüdische Museum von Belgien 2014
- Anschlag in München 2016
- Anschlag in Halle (Saale) 2019
Vereinigte Staaten
- Theodore Kaczynski, der „Unabomber“ 1978–1995
- Eric Rudolph, 1996–1998
- Ali Hassan Abu Kamal, Empire State Building 1997
- Der Rassist Buford O. Furrow jr. erschoss einen Menschen in Los Angeles 1999
- Hesham Mohamed Hadayet erschoss zwei Menschen am Los Angeles International Airport (LAX), 2002
- Naveed Afzal Haq erschoss eine Frau in Seattle, 2006
- Der Abtreibungsgegner Scott Roeder ermordete den Frauenarzt George Tiller, 2009
- Richard Andrew Poplawski erschoss drei Polizisten in Pittsburgh, 2009
- Abdulhakim Mujahid Muhammad erschoss einen Soldaten in Little Rock (Arkansas), 2009
- James von Brunn erschoss einen Wächter im United States Holocaust Memorial Museum, 2009
- Der Militärarzt Nidal Malik Hasan erschoss 13 Menschen bei seinem Amoklauf in Fort Hood 2009
- Joseph Andrew Stack III. flog mit seiner Piper PA-28 in ein Gebäude der US-Steuerbehörde in Austin (Texas) und tötete dadurch einen Finanzbeamten, 2010
- Der Rassist Wade Michael Page erschoss sechs Menschen in einem Sikh-Tempel in Oak Creek (Wisconsin), 2012
- Die Brüder Dzhokhar und Tamerlan Tsarnaev verübten den Anschlag auf den Boston-Marathon, 2013
- Der Rassist Frazier Glenn Miller jr. erschoss drei Menschen in Overland Park (Kansas), 2014
- Elliot Rodger tötete in Isla Vista (Kalifornien) sechs Menschen, 2014
- Omar Mateen tötete 49 Menschen und verletzte 53 beim Massaker in Orlando am 12. Juni 2016[6]
Aktualität
Der Berliner Verfassungsschutz warnte im März 2020 in einem Papier zu Extremisten und der COVID-19-Pandemie vor gewaltsamen Aktionen „ungebundener, auch irrationaler Einzelakteure“, so genannter „lone actors“. Es sei denkbar, dass in einer derartigen Situation einzelne Rechtsextremisten aktiv werden könnten, um den für einen „Tag X“ anvisierten „Umsturz kurzfristig herbeizuführen“ bzw. durch Terror oder Destabilisierung zu beschleunigen.[7]
Kritik
Die US-amerikanische Sicherheitspolitikerin und Dozentin Juliette Kayyem lehnt das Konzept des einsamen Wolfes ab. In einer Kolumne in der Washington Post schrieb sie 2014, terroristische Anschläge wie der Anschlag in El Paso und eine offenbare Nachahmungstat, der Anschlag von Dayton 2019, müssten als ideologischer Konflikt betrachtet werden; dies zu bestreiten, würde bedeuten, die Taten aus der terroristischen Rhetorik herauszulösen, in der sie entstünden. Ihr Fazit lautete: „Es gibt keine einsamen Wölfe.“[8]
Weblinks
- Secilia Kloppmann: Der Terror der einsamen Wölfe - Wie Einzelgänger zu rechten Attentätern werden | Podcast. MDR INVESTIGATIV – Hinter der Recherche via YouTube, 23. Oktober 2020.
Literatur
- Florian Hartleb: „Einsamer-Wolf-Terrorismus“ – Neue Dimension oder drastischer Einzelfall? Was lernen wir aus dem Fall „Breivik“ in Norwegen? In: Kriminalistik. Unabhängige Zeitschrift für die kriminalistische Wissenschaft und Praxis. Band 67, 2013, Nr. 1, S. 25–35.
- Peter R. Neumann: Die neuen Dschihadisten. IS, Europa und die nächste Welle des Terrorismus. Ullstein, Berlin 2015, ISBN 978-3-430-20203-9, S. 25–26, 158–165.
- Jeffrey D. Simon: Lone Wolf Terrorism: Understanding the Growing Threat. Prometheus, Amherst 2016, ISBN 978-1-63388-237-9.
- Armin Pfahl-Traughber: Das „Lone Wolf“-Phänomen im deutschen Rechtsterrorismus. Eine Analyse von Fallbeispielen. In: Sybille Steinbacher (Hrsg.): Rechte Gewalt in Deutschland. Zum Umgang mit dem Rechtsextremismus in Gesellschaft, Politik und Justiz. Göttingen 2016, S. 205–220.
- Florian Hartleb: Einsame Wölfe. Der neue Terrorismus rechter Einzeltäter. Hamburg, Hoffmann & Campe 2018, ISBN 978-3-455-00455-7.
Siehe auch
Einzelnachweise
- ↑ Peter R. Neumann: Die neuen Dschihadisten. IS, Europa und die nächste Welle des Terrorismus. Ullstein, Berlin 2015, S. 158.
- ↑ Florian Hartleb: Attentat in München: Der andere Terror. Die Zeit, 12. Oktober 2017, S. 13
- ↑ Peter R. Neumann: Die neuen Dschihadisten. IS, Europa und die nächste Welle des Terrorismus. Ullstein, Berlin 2015, S. 158
- ↑ Peter R. Neumann: Die neuen Dschihadisten. IS, Europa und die nächste Welle des Terrorismus. Ullstein, Berlin 2015, S. 22.
- ↑ ICSR.info (englisch).
- ↑ Bluttat in OrlandoExperte: Blutbad in Orlando ist der Weckruf der einsamen Wölfe von Ulf Lüdeke Focus Online, 13. Juni 2016
- ↑ Maria Fiedler: Verschwörungstheorien, Propaganda, Chaos: Wie Rechtsextreme in der Corona-Krise zündeln. www.tagesspiegel.de, 27. März 2020
- ↑ Juliette Kayyem: There are no lone wolves. In: The Washington Post. 4. August 2019, abgerufen am 25. Mai 2022 (englisch).