Eisenbahnunfall von Genthin
Bei dem Eisenbahnunfall von Genthin fuhr im Bereich des Bahnhofs Genthin am 22. Dezember 1939 der D 180 von Berlin Potsdamer Bahnhof nach Neunkirchen (Saar) auf den D 10 von Berlin Potsdamer Bahnhof nach Köln Hauptbahnhof auf. Mindestens 186 Tote und 106 Verletzte waren zu beklagen.[1] Es ist der bis heute schwerste Unfall von Reisezügen in Deutschland.[2]
Ausgangslage
Die Bahnstrecke Berlin–Magdeburg war mit der Zugsicherung Indusi ausgerüstet.[1]
Der im vorweihnachtlichen Verkehr völlig überfüllte D-Zug D 10 nach Köln (allein im Packwagen sollen 35 Menschen ums Leben gekommen sein) war pünktlich um 23:15 Uhr in Berlin abgefahren, sammelte allerdings unterwegs schnell Verspätung an, weil sich das Aus- und Einsteigen durch Überfüllung im Zusammenhang mit dem Weihnachtsverkehr und Fronturlaubern und der Verdunkelung der Bahnhöfe verzögerte. In Potsdam hatte der Zug bereits fünf, in Brandenburg 12 Minuten Verspätung. Weil er einem langsameren Militärzug folgte, erhöhte sie sich auf 27 Minuten.[1]
Der nachfolgende D 180 wurde von der Dampflokomotive 01 158 gezogen. Deren Indusi-Sicherung war für eine Reparatur ausgebaut, die Lok aber gleichwohl zum Einsatz gekommen, da kriegsbedingt Lokomotivmangel bestand.[1] Der D 180 von Berlin Potsdamer Bahnhof nach Neunkirchen (Saar) Hauptbahnhof war um 23:45 Uhr in Berlin abgefahren, hielt noch einmal in Potsdam und sollte dann bis Magdeburg Hauptbahnhof durchfahren. Der Abstand zwischen beiden Zügen verringerte sich so stetig. Unmittelbar vor Genthin fuhren die Züge nur noch im Blockabstand.[1]
Unfallhergang
Der D 10 und der ihm folgende D 180 verließen in Berlin den Potsdamer Bahnhof in einem Abstand von 30 Minuten. Auf Grund der Verspätung des D 10 reduzierte sich der Abstand so weit, dass ab Wusterwitz nur noch ein freier Blockabschnitt zwischen den Zügen lag. Ab der letzten vor dem Bahnhof Genthin liegenden Blockstelle Belicke (km 86,685) fuhr der D 10 zusätzlich mit verminderter Geschwindigkeit, weil er selbst auf den vor ihm fahrenden M 176 aufgelaufen war.
Als sich der D 180 der Blockstelle Belicke näherte, war der Abschnitt zwischen dieser und der Einfahrt des Bahnhofs Genthin immer noch mit dem D 10 belegt. Durch Gründe, die im Nachhinein nicht mehr ermittelt werden konnten, überfuhr der D 180 das „Halt“ gebietende und den D 10 deckende Blocksignal und drang in den noch mit diesem belegten Blockabschnitt ein. Der Lokomotivführer erklärte später in der Vernehmung, die beiden entscheidenden Signale, Vorsignal und Hauptsignal, in der Stellung „Fahrt frei“ erkannt zu haben. Diese Behauptung konnte unter anderem durch die Untersuchung der Anlagen und die Aussage des Blockwärters Belicke widerlegt werden. Da die Indusi der Lok ausgebaut war, erfolgte keine Zwangsbremsung.[1] Spekulationen führten die schlechte Sicht – es herrschte Nebel in der Nacht – oder persönliches Versagen des Lokführers als mögliche Ursachen an. Der Heizer konnte im Bereich Belicke wegen der Feuerung die Strecke nicht beobachten. Der Lokomotivführer hatte bereits 1917, 1922 und 1931 Halt zeigende Signale missachtet.[3] Die Jahrzehnte später eingebrachte Theorie, eine Kohlenmonoxidvergiftung des Lokführers könnte der Grund für dessen Fehler gewesen sein (die Rauchgase der Lokomotive hätten aufgrund der Wetterlage in das Führerhaus gelangen können), wurde widerlegt.
Der Wärter der Blockstelle Belicke hatte nach der Vorbeifahrt am Halt zeigenden Blocksignal die Stellwerke des Bahnhofs Genthin über die Signalübertretung benachrichtigt. Nach der Quelle[3] bereitete der Wärter des Stellwerks Genthin-Ost (Go) (km 91,080), nachdem dort die Meldung aus Belicke eingegangen war, den Nothaltauftrag an den D 180 vor. Dazu nahm er eine Winkelampe aus der Wandhalterung, wodurch diese rot zu leuchten begann. Diese leuchtende Handlampe wurde allerdings auf dem gerade das Stellwerk passierenden D 10 gesehen, worauf dieser eine Schnellbremsung einleitete und mit seinem Zugschluss ca. im km 92,2 um 0:51 Uhr stoppte.
Als sich der D 180 dem Bahnhof Genthin näherte, traf er dort ca. 600 m vor dem an der östlichen Einfahrt gelegenen Schrankenposten Bude 89 – Karower Straße (km 90,240) auf das noch für den D 10 „Fahrt ohne Geschwindigkeitsbegrenzung erwarten“ signalisierende Einfahrvorsignal Va und in der Folge im km 90,580 auf das Fahrt zeigende Einfahrsignal A sowie das „Fahrt ohne Geschwindigkeitsbegrenzung erwarten“ zeigende Ausfahrvorsignal Vg. Warum es dem Schrankenwärter Bude 89 – Karower Straße in den 2 Minuten zwischen den Zügen nicht gelang, vor dem D 180 als Notsignal Knallkapseln an den Schienen zu befestigen, dazu ist keine Quellenaussage bekannt. Sein Versuch, durch Winkzeichen den vorbeifahrenden D 180 zum Halten zu bewegen, misslang. Zudem unterließ es der Stellwerkswärter Genthin-Ost, nachdem der D 10 zum Stillstand gekommen war, umgehend das Einfahrsignal A auf Halt zu stellen.
In der Folge fuhr der D 180 gegen 0:53 Uhr[4] mit etwa 100 km/h in den Bahnhof Genthin ein und prallte auf den dort stehenden D 10.
Folgen
Durch den Aufprall wurden die vier hinteren Wagen des D 10 teilweise ineinander geschoben. Die Lokomotive und sechs Wagen des auffahrenden Zuges entgleisten. Nach den Zahlen der Deutschen Reichsbahn waren 186 Tote und 106 Verletzte zu beklagen. Nach anderen Quellen war – wie auf dem Denkmal vor dem Bahnhof vermerkt – von 278 Toten und 453 Verletzten die Rede.[2] Neben der Kesselwagenexplosion in der BASF (1948) war dies der folgenschwerste Eisenbahnunfall in Deutschland.
Die Rettungsarbeiten gestalteten sich schwierig und dauerten eine ganze Woche. Wegen der Verdunklung war nur die Notbeleuchtung eingeschaltet, das Aufstellen von Scheinwerfern in der Nacht bedurfte einer Sondergenehmigung. Viele Männer waren kriegsbedingt eingezogen. Die Temperaturen sanken in der Nacht auf −15 °C, so dass auch viele Verletzte erfroren.
Der Lokomotivführer des D 180 und dessen Heizer überlebten das Unglück. Der Lokomotivführer wurde in einem Strafverfahren zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt.
Die Lokomotive des D 180 wurde wegen Lokomotivmangel im Zweiten Weltkrieg nach dem Unfall repariert und 1941 wieder in Dienst gestellt. Nach einem Umbau 1964 erhielt sie die Nummer 01 531. Sie ist heute unter der Nummer 01 1531 als Ausstellungsstück im Bahnbetriebswerk Arnstadt erhalten.[5]
Am 22. Dezember 1999, dem 60. Jahrestags des Unglücks, wurde auf dem Bahnhofsvorplatz in Genthin ein Denkmal eingeweiht. Die Kosten wurden von privaten Spendern aufgebracht.[6]
Eisenbahnunfall bei Markdorf an demselben Tag
Ebenfalls am 22. Dezember 1939 ereignete sich der Eisenbahnunfall bei Markdorf, bei dem auf der Bahnstrecke Stahringen–Friedrichshafen der Bodenseegürtelbahn zwischen Markdorf und Kluftern ein Güter- und ein Personenzug kollidierten und über 100 Menschen ums Leben kamen. Der Eisenbahnhistoriker Albert Kuntzemüller bezeichnete das Datum als den „schwärzesten Tag der deutschen Eisenbahngeschichte“.[7]
Literatur
- Erich Preuß: Den falschen Zug gestoppt. Der Zusammenstoß in Genthin. Die größte Katastrophe bei Deutschlands Eisenbahnen. In: Martin Weltner: Bahn-Katastrophen. Folgenschwere Zugunfälle und ihre Ursachen. München 2008, ISBN 978-3-7654-7096-7.
- Ronald Meyer-Arlt: Die vergessene Katastrophe. In: Lübecker Nachrichten vom 20. Dezember 2014, S. 3. (Hinweis: Der Beitrag erschien auch in weiteren, möglicherweise gar allen zur Verlagsgesellschaft Madsack gehörenden Tageszeitungen, z. B. in der Märkischen Allgemeinen vom 20. Dezember 2014, dort im MAZ-Journal auf S. 2, und in den Dresdner Neuesten Nachrichten vom 22. Dezember 2014 auf S. 4.)
- Erich Preuß: Eisenbahnunfälle in Europa; transpress Verlagsgesellschaft mbH Berlin, 1. Auflage 1990, ISBN 3-344-70716-7.
- H.J. Ritzau: Katastrophen der deutschen Bahnen Teil II - Chronik 1845-1992, Band 3 aus der Reihe Schatten der Eisenbahngeschichte; Ritzau KG - Verlag Zeit und Eisenbahn, Pürgen, ISBN 3-921304-86-5 (ab Seite 97).
- Belletristik
- Gert Loschütz: Besichtigung eines Unglücks. Hörspiel. WDR/NDR/SWR 2001, 81 Minuten. Regie: Norbert Schaeffer. Komposition: Gerd Bessler.
- Gert Loschütz: Besichtigung eines Unglücks. Roman. Schöffling, Frankfurt am Main 2021, ISBN 978-3-89561-157-5[8].
Einzelnachweise
- ↑ a b c d e f Erich Preuß: Den falschen Zug gestoppt. Der Zusammenstoß in Genthin. Die größte Katastrophe bei Deutschlands Eisenbahnen. In: Martin Weltner: Bahn-Katastrophen. Folgenschwere Zugunfälle und ihre Ursachen. München 2008, ISBN 978-3-7654-7096-7, S. 32–35
- ↑ a b Annette Schneider-Solis: Das schwerste Zugunglück in Deutschland.. In: Die Welt, 21. Dezember 2009.
- ↑ a b Erich Preuß: Eisenbahnunfälle in Europa, transpress Verlagsgesellschaft mbH Berlin, 1. Auflage 1990, ISBN 3-344-70716-7.
- ↑ http://www.fw-chronik.de/PDF-Rundbrief/FC-2015-02.pdf, Feuerwehrchronik 11. Jahrgang 31. März 2015 der Freiwilligen Feuerwehr Genthin
- ↑ Das Eisenbahnmuseum Arnstadt: Dampflokomotive 01 1531. Abgerufen am 22. Februar 2014.
- ↑ Horst Sack: Die Eisenbahnkatastrophe von Genthin im Dezember 1939. In: Feuerwehrchronik. 11. Jg., Nr. 2, 31. März 2015, S. 52–64 (fw-chronik.de [PDF]).
- ↑ Albert Kuntzemüller: Die Badischen Eisenbahnen. G. Braun, Karlsruhe 1953, S. 163 ff.
- ↑ Katharina Teutsch: Die scheinbar unscheinbaren Details. Rezension. FAZ, 22. Juli 2021, S. 10
Koordinaten: 52° 24′ 11,7″ N, 12° 9′ 23,6″ O