Eugenie Schwarzwald

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Aufnahme aus den 1920er Jahren von Grete Kolliner

Eugenie „Genia“ Schwarzwald (gebürtige Nussbaum, auch Nußbaum geschrieben; * 4. Juli 1872 in Polupanowka bei Tarnopol, Galizien, Österreich-Ungarn; † 7. August 1940 in Zürich, Schweiz) war eine österreichische Pädagogin, Sozialreformerin und Frauenrechtsaktivistin, die insbesondere als Pionierin in der Mädchenbildung bekannt ist. Sie war die Schwester von Anton Norst (eigentlich Isidor Nussbaum).

Leben und Wirken

Als Tochter von Leo und Ester Nussbaum (Nußbaum) im Kronland Galizien geboren, absolvierte sie Schulen in Czernowitz und besuchte eine Lehrerinnenbildungsanstalt, bevor sie von 1895 bis 1900 Germanistik (Nebenfächer Anglistik, Philosophie und Pädagogik) an der Universität Zürich studierte, der damals einzigen Hochschule im deutschsprachigen Raum, die Frauen zum regulären Studium zuließ. Sie wurde am 30. Juli 1900 als eine der ersten Österreicherinnen mit der Dissertation „Metapher und Gleichnis bei Berthold von Regensburg“ zum Dr. phil. promoviert.

Eugenie Schwarzwald (1872–1940) Pädagogin, Frauenrechtsaktivistin
Eugenie Schwarzwald

Schwarzwaldschule

Nach ihrer Heirat am 16. Dezember 1900 mit Hermann Schwarzwald lebte sie in Wien und übernahm dort am 1. Oktober 1901[1] von Eleonore Jeiteles (1841–1918) das Mädchenlyzeum am Franziskanerplatz 5. Das k.k. Ministerium für Cultus und Unterricht erteilte ihr aber nur eine Genehmigung für drei Jahre zur provisorischen Leitung der Schule („provisorische Direktorin“ aufgrund eines Erlasses vom 11. Oktober 1901; Unterrichtsfach Deutsch).[2] Im Schuljahr 1904/05 bestand das 1888 eröffnete stehende Lyzeum, das seit November 1905 Öffentlichkeitsrecht genoss,[3] aus sechs Klassen, an denen 162 Mädchen von zehn Lehrern sowie zwölf Lehrerinnen unterrichtet wurden.[4] Eugenie Schwarzwald war Verfechterin der Koedukation; sie vertrat die Ansicht, diese „würde die Mädchen klüger und die Knaben gesitteter machen“.[5] Auch spezielle Hochschulen für Frauen lehnte sie ab.[5] Nach Ansicht von Ellen Key war das von Eugenie Schwarzwald geleitete Lyzeum „eine der vornehmsten und bestgeleiteten Mädchenschulen“.[6]

1905 musste sie den Mathematiklehrer Ludwig Dörfler pro forma zum Direktor der Schule ernennen. Die selbstständige Leitung ihrer Schule blieb Schwarzwald lange verwehrt, und ihr in Zürich erworbener akademischer Grad wurde in Österreich nie anerkannt. Trotzdem gelang es ihr, das Lyzeum nach und nach zu einem Schulzentrum mit Volksschule, Gymnasial- und allgemeinen Fortbildungskursen zu entwickeln. Die Volksschule war auch die erste Schule mit Gemeinschaftserziehung. Die Grundideen ihrer Pädagogik waren von Gewaltfreiheit, Förderung der Phantasie und Gestaltungskraft und der freien Entfaltung jedes Kindes geprägt. Mit Maria Montessori pflegte sie den Gedankenaustausch, ihre Ideen waren später eine Grundlage für Otto Glöckels umfassende Schulreform.

Ab 1911 führte sie die Schule als Mädchenrealgymnasium mit acht Klassen. Es war damit die erste Schule in Österreich, an der Mädchen maturieren konnten. Seit 1913 hatte die Schule ihre neue Heimstätte in Wien 1, Wallnerstraße 9 (ident mit Herrengasse 10). Von den bekannten Schriftstellern und Künstlern, die sich im später errichteten Literatencafé Herrenhof im selben Haus trafen, konnte Schwarzwald einige als Lehrer gewinnen, darunter Oskar Kokoschka (Malen und Zeichnen), Adolf Loos (Architektur), Arnold Schönberg und Egon Wellesz (Musik), Hans Kelsen (Soziologie und Volkswirtschaftslehre) und Otto Rommel (Literatur). Rommel war von 1916 bis 1919 auch Direktor. Edmund Bernatzik (1854–1919) organisierte ab 1917, als Frauen noch nicht zum Rechtsstudium zugelassen waren, die Rechtsakademie für Frauen.

Die Wohnung des Ehepaares Schwarzwald in Wien 8, Josefstädter Straße 68, die Adolf Loos gestaltet hatte, war ein weiterer Treffpunkt bekannter Persönlichkeiten des damaligen Wien. Ihren Salon besuchten neben den oben Genannten auch die Schriftsteller Elias Canetti, Egon Friedell, Robert Musil, Karin Michaëlis und bei seinen Aufenthalten in Wien Rainer Maria Rilke. Neben Baron Lajos Hatvany, Alexander Moissi, Paul Lazarsfeld zählten auch Alma Mahler-Werfel und Berta Zuckerkandl zu ihren Gästen. Dank der besonderen Gabe der Gastgeberin, die von fast allen in ihrem Umfeld „Frau Doktor“ genannt wurde, völlig voneinander verschiedene Persönlichkeiten in ihrer jeweiligen Eigenart akzeptieren und durch ihren Charme bezaubern zu können, kamen hier Personen mit den unterschiedlichsten politischen Ansichten zusammen, von Othmar Spann, einem geistigen Vater des Ständestaates, über Karl Popper und Robert Scheu bis zu Sozialisten und Kommunisten. In Robert Musils Hauptwerk, dem Fragment gebliebenen Roman Der Mann ohne Eigenschaften sind der Figur der Diotima, im Roman auch Hermine Tuzzi genannt, einige Züge von Eugenie Schwarzwald geliehen.

Datei:Eugenie Schwarzwald (1872-1940) Jugendbild.JPG
„Fraudoktor.Jugendbild“ ist die Bildunterschrift im Werk von Alice Herdan-Zuckmayer, die Eugenie Schwarzwald im Register des Buches „Genies sind im Lehrplan nicht vorgesehen“ als Hauptperson ihrer autobiographischen Schrift bezeichnet.

Während des Ersten Weltkriegs organisierte sie Gemeinschaftsküchen, Alters-, Erholungs- und Lehrmädchenheime. In der Inflationszeit gründete sie dann die „Österreichische Freundeshilfe für Deutschland“, die Gemeinschaftsküchen in Berlin und Erholungsheime auf dem Lande betrieb. Ab 1918 richtete sie mehrere Heime für Kinder und Erwachsene ein, so in Bad Topolschitz, am Semmering, in Bad Ischl, Mödling, Reichenau an der Rax, Waidhofen an der Ybbs und Bad Fischau, 1919 entstand eine Jugendwerkstatt für Knaben in Wien-Favoriten.

1920 übernahmen die Schwarzwalds die Villa Seeblick (Archkogl) in Archkogl am Grundlsee, die sich ebenfalls zu einem Sammelpunkt für Jugendliche, Schriftsteller, Schauspieler und Freunde entwickelte, so für den Pianisten Rudolf Serkin und die Schriftsteller Jakob Wassermann, Carl Zuckmayer und Sinclair Lewis, die Schauspieler Axel von Ambesser, Helene Weigel, Elisabeth Neumann-Viertel und den britischen Fotografen Bill Brandt ebenso wie dessen Bruder, den Maler Rolf Brandt. Zu ihrem Freundeskreis gehörten um 1930 auch Helmuth James Graf von Moltke, der später als Begründer des Kreisauer Kreises Widerstand gegen die Hitler-Diktatur leistete und 1945 hingerichtet wurde, dessen spätere Frau Freya Deichmann sowie deren Bruder, der Widerstandskämpfer Hans Deichmann.

Sie selbst bezeichnete sich in einem Brief sarkastisch und wohl nicht in vollem Ernst als Antisemitin: „Was mich, die ich ehrlich antisemitisch bin, am meisten ärgert, ist die Tatsache, daß ein Jude, auch wenn er kein Talent und keinen Charakter hätte, wohl aber die Fehler und die Schmiegsamkeit seiner Rasse, unbedingt zum Ziel gelangt. Die Judenfrage ist deshalb unlösbar, weil die Gastvölker nur schlechte Juden haben wollen.“[7] Diese vereinzelte Äußerung steht im krassen Widerspruch zu ihrer Hilfe für Juden, wobei sie bei ihrer Hilfe für Menschen auf die Herkunft und die Religionszugehörigkeit niemals Rücksicht nahm. Als sie 1938 Österreich verlassen musste und schließlich in Zürich ihren Wohnsitz nahm, trug sie sich beim Einwohneramt mit der Religionszugehörigkeit „israelitische Konfession“ ein.

Ab 1933 half sie Flüchtlingen aus Deutschland, 1934 unterstützte sie verfolgte Sozialdemokraten. 1938 wurde sie während eines Aufenthaltes in Dänemark bei Karin Michaëlis auf der Insel Thurø vom Anschluss überrascht; sie kehrte nicht mehr nach Wien zurück, sondern emigrierte in die Schweiz. In Österreich wurde ihr gesamtes Eigentum arisiert und die Schule geschlossen; die meisten Schülerinnen mussten emigrieren oder wurden später in der Shoah ermordet. Ihr Mann konnte im September 1938 noch aus Österreich in die Schweiz fliehen, wo er 1939 starb.

Im Jahr 2011 wurde in Wien-Donaustadt (22. Bezirk) der Eugenie-Schwarzwald-Weg nach ihr benannt.

Bekannte Schülerinnen

Werke

  • Gottfried Keller in der Schule. 1911.
  • Selma Lagerlöf in der Schule. 1912.
  • Zehn Jahre Schule. 1912.
  • Die Semmeringschule. 1913. (Digitalisat bei ANNO)
  • Die Heimkehr des verlorenen Buches. Privatdruck Gotthard Laske, Berlin, 1934.
  • Die Ochsen von Topolschitz. Feuilletons. Edition Garamond, Wien und Mülheim a. d. Ruhr 1995, ISBN 3-85306-006-4.
  • Das Vermächtnis der Eugenie. Gesammelte Feuilletons von Eugenie Schwarzwald 1908–1938 (hg. von Robert Streibel). edition pen im Löcker Verlag, Wien 2017, ISBN 978-3-85409-878-2.

Literatur

in der Reihenfolge des Erscheinens

  • Paul Stefan: Frau Doktor: Ein Bildnis aus dem unbekannten Wien. Drei Masken, München 1922.
  • Alice Herdan-Zuckmayer: Genies sind im Lehrplan nicht vorgesehen. S. Fischer, Frankfurt am Main 1979, ISBN 3-10-031203-1.
  • Axel von Ambesser: „Nimm einen Namen mit A“. Ullstein Verlag. Berlin 1985, ISBN 3-550-06463-2 (Autobiographie).
  • Renate Göllner: Mädchenbildung um 1900: Eugenie Schwarzwald und ihre Schulen. Dissertation an der Universität Wien 1986.
  • Hans Deichmann: Leben mit provisorischer Genehmigung: Leben, Werk und Exil von Dr. Eugenie Schwarzwald. Eine Chronik. Guthmann-Peterson-Verlag, Berlin 1988, ISBN 3-900782-02-4.
  • Renate Göllner: Ein frühes reformpädagogisches Projekt: Eugenie Schwarzwald, eine Pionierin der Mädchenbildung. Universität Klagenfurt, Abt. für Historische Pädagogik, Klagenfurt 1995, DNB 946575916.
  • Erik Adam: Eugenie Schwarzwald und die Reformpädagogik. In: Robert Streibel (Hrsg.): Eugenie Schwarzwald und ihr Kreis. Picus, Wien 1996, ISBN 3-85452-294-0, S. 47–53.
  • Felix Czeike: Historisches Lexikon Wien, Band 5. Kremayr & Scheriau, Wien 1997, ISBN 3-218-00547-7, S. 178.
  • Karin Michaelis: Der kleine Kobold – Lebenserinnerungen, Kore, Freiburg im Breisgau 1998, ISBN 3-933056-67-5.
  • Renate Göllner: Kein Puppenheim: Genia Schwarzwald und die Emanzipation. Peter Lang, Frankfurt am Main 1999, ISBN 3-631-35048-1 (Biographie).
  • Susanne Blumesberger, Michael Doppelhofer, Gabriele Mauthe: Handbuch österreichischer Autorinnen und Autoren jüdischer Herkunft 18. bis 20. Jahrhundert. Band 3: S–Z, Register. Hrsg. von der Österreichischen Nationalbibliothek. Saur, München 2002, ISBN 3-598-11545-8, S. 1246.
  • Renate Göllner: Schwarzwald, Eugenie, geborene Nußbaum. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 24, Duncker & Humblot, Berlin 2010, ISBN 978-3-428-11205-0, S. 34 f. (Digitalisat).
  • Deborah Holmes: Langeweile ist Gift. Das Leben der Eugenie Schwarzwald. Residenz, St. Pölten 2012, ISBN 978-3-7017-3203-6.
  • Robert Streibel: Die zweite Vertreibung der Eugenie Schwarzwald. In: Der Standard, 27./28. Oktober 2012, S. 35.
  • Margit Wolfsberger: Schwarzwald, Eugenie. In: Brigitta Keintzel, Ilse Korotin (Hrsg.): Wissenschafterinnen in und aus Österreich. Leben – Werk – Wirken. Böhlau, Wien/Köln/Weimar 2002, ISBN 3-205-99467-1, S. 671–674.
  • Bettina Balàka: Über Eugenie Schwarzwald. Mandelbaum Verlag, Wien 2020, ISBN 978-3-85476-891-3.

Einzelnachweise

  1. Mädchenlyzeum und Internat in Wien. In: Prager Tagblatt, 20. Juni 1901, S. 6 (Online bei ANNO).Vorlage:ANNO/Wartung/ptb
  2. Personalstand.Jahresbericht des Privat-Mädchen-Lyzeums (Gymnasial-, Forbildungskurse) der Frau Dr. phil. Eugenie Schwarzwald / Jahresbericht des Mädchen-Lyzeums am Kohlmarkt (mit Gymnasial- und Forbildungskursen) […] / Jahresbericht des Mädchenlyzeums der Frau Dr. phil. Eugenie Schwarzwald in Wien (Stadt) / Jahresbericht der Schulanstalten der Frau Dr. phil. Eugenie Schwarzwald in Wien (Stadt) / Jahrbuch der Schulanstalten der Frau Dr. phil. Eugenie Schwarzwald in Wien (Stadt), Jahrgang 1902, S. 8 (Online bei ANNO).Vorlage:ANNO/Wartung/mls
  3. Schulnachricht. In: Die Zeit, 24. November 1905, S. 6 (Online bei ANNO).Vorlage:ANNO/Wartung/zei
  4. D. Höhere Mädchenschulen.Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien, Jahrgang 1904, S. 414 (Online bei ANNO).Vorlage:ANNO/Wartung/sjw
  5. a b Weiteres vom Frauenkongreß. In: Reichspost, 16. Juni 1904, S. 9 (Online bei ANNO).Vorlage:ANNO/Wartung/rpt
  6. Das Mädchenlyzeum am Kohlenmarkt (sic!) in Wien. In: Czernowitzer Tagblatt / (Czernowitzer) Allgemeine Zeitung. (Czernowitzer) Tagblatt, 2. April 1905, S. 6 (Online bei ANNO).Vorlage:ANNO/Wartung/czt
  7. Brief von Schwarzwald an Hans Deichmann vom 3. November 1931. In: Hans Deichmann Leben mit provisorischer Genehmigung: Leben, Werk und Exil von Dr. Eugenie Schwarzwald (1872–1940). Berlin 1988, S. 229.

Weblinks