Fünf Punkte zu einer neuen Architektur
Die Fünf Punkte zu einer neuen Architektur (im frz. Original Cinq points de l’architecture moderne) sind ein Architekturmanifest der Schweizer Architekten Le Corbusier und Pierre Jeanneret. Corbusier publizierte es 1923 in seinem Magazin L’Esprit Nouveau und in der Essaysammlung Vers une architecture. 1927 wurde es, nun auch mit Nennung Jeannerets als Mitautor, auf Deutsch in der Zeitschrift des Deutschen Werkbunds Die Form veröffentlicht.[1]
Fünf Punkte der Architektur
Im Laufe seiner Tätigkeit als Architekt entwickelte Le Corbusier eine Reihe von architektonischen Prinzipien, die er zur Grundlage seiner Entwürfe machte. Zusammen mit seinem Cousin Pierre Jeanneret, mit dem er von 1923 bis 1940 in Paris ein gemeinsames Büro betrieb, publizierte er diese Gestaltungsprinzipien als Fünf Punkte zu einer neuen Architektur. Die Punkte umfassen:
- Die Pfosten (Pilotis): Ein Raster von Betonstützen ersetzt die tragenden Mauern und wird zur Grundlage der neuen Ästhetik.
- Die Dachgärten auf einem Flachdach können sowohl als Nutzgarten wie auch zum Schutz des Betondachs dienen.
- Die freie Grundrissgestaltung (freier Grundriss) und damit der Wegfall von tragenden Mauern ermöglicht eine flexible Nutzung des Wohnraums.
- Das Langfenster durchschneidet die nichttragenden Wände entlang der Fassade und versorgt die Wohnung mit gleichmäßigem Licht.
- Die freie Fassadengestaltung wird ermöglicht durch eine Trennung der äußeren Gestaltung von der Baustruktur (Vorhangfassade).
Beispiele
Villa Savoye
Am erfolgreichsten setzte Le Corbusier das Konzept der Fünf Punkte in der Villa Savoye (1929–1931) um, die er im Lauf der 1920er Jahre stetig entwickelt hatte. Zunächst hob er die Struktur vom Boden an, indem er sie durch Betonpfosten stützte. Diese Pilotis dienten einerseits als strukturelle Stütze des Wohnbaus, andererseits konnten dadurch die tragenden Wände reduziert werden, was die weiteren beiden Punkte ermöglichte: eine freie Fassadengestaltung, d. h. eine unabhängige Gestaltung der nichttragenden Wände, und ein freier Grundriss, d. h. ein Wohnraum, der nicht von tragenden Wänden unterbrochen wurde und somit flexibel gestaltet werden konnte. Das zweite Obergeschoss der Villa Savoye öffnete sich an vier Seiten in horizontalen Bandfenstern zum Garten hin und erfüllt das vierte Prinzip. Im Dachgarten sollte als fünfter Punkt die verbaute Fläche wiedergewonnen werden. Eine Rampe, die vom Erdgeschoss bis zur Terrasse auf Höhe des dritten Obergeschossen führt, ermöglicht das Begehen der Architektur. Die weiße Reling der Rampe erinnert an die Industrieästhetik der Ozeanliner, die Le Corbusier schätzte und die in den 1920er Jahren beliebt war. Die Einfahrt mit ihrem halbkreisförmigen Weg entspricht genau dem Wenderadius eines Citroën-Automobils von 1927.
Carpenter Center
Das Carpenter Center for the Visual Arts in der Harvard University ist Le Corbusiers einziges Gebäude in den Vereinigten Staaten. Auch hier versuchte er seine Fünf Punkte in seinen Entwurf zu integrieren.
Casa Curutchet
Das Casa Curutchet stellt einen Meilenstein in Corbusiers eigenem Werdegang dar, weil es beispielhaft zeigt, wie kulturelle und historische Merkmale der Architektur (die Elemente des traditionellen argentinischen Hofhauses) unter Verwendung von Corbusiers fünf Punkten der modernen Architektur umgeschrieben werden können.
Rezeption
Le Corbusiers Fünf Punkte können zunächst als Versuch gesehen werden, eine neue Formensprache in der Architektur zu entwickeln, indem die Gestaltung von der Konstruktion unabhängig gemacht wird. Darüber hinaus maß etwa der Kritiker Sigfried Giedion dem Konzept aber auch eine transzendente symbolische Bedeutung zu: Für ihn wurde die auf Stützen erhobene Wohnung zum Zeichen der Emanzipation des Menschen von der Natur.
Vor allem der Deutsche Werkbund verhalf Le Corbusiers Ideen zum Erfolg: Im Rahmen der Bauausstellung Die Wohnung 1927 machte Mies van der Rohe in der Stuttgarter Weißenhofsiedlung einige der Prinzipien Le Corbusiers, wie das Flachdach, die freie Fassadengestaltung und die freie Grundrissgestaltung, zu den Hauptkriterien für die teilnehmenden Architekten, deren Bauten als Ensemble zu einer Ikone des Neuen Bauens wurden.
Vermutlich wollte Le Corbusier auf dem ersten CIAM 1928 seine Fünf Punkte zu international anerkannten Prinzipien des Neuen Bauens bestätigen lassen.[2] Internationale Bedeutung errangen die Prinzipien durch die von Philip Johnson und Henry-Russell Hitchcock 1932 kuratierte MoMA-Ausstellung Modern Architecture: International Exhibition und die begleitende Publikation International Style. Johnson und Hitchcock nutzten die Fünf Punkte als Grundlage ihrer Auswahlkriterien für die präsentierten Bauten, womit die Fünf Punkte international zu den Hauptmerkmalen moderner Architektur avancierten.
Allerdings gab es von Beginn an Widerstand gegen dieses Konzept. Im Zuge der Errichtung der Weißenhofsiedlung waren es besonders Angehörige des traditionalistischen Kreises des Deutschen Werkbunds und des sogenannten Heimatschutzes, wie Paul Schulze-Naumburg, welche die Bauten und Prinzipien der „Weißen Moderne“ heftig kritisierten und als „undeutsch“ diffamierten, was die Grundlage für die Ablehnung moderner Architektur im Nationalsozialismus legte.
Siehe auch
- Le Corbusier
- Pierre Jeanneret
- Villa Savoye
- Deutscher Werkbund
- Neues Bauen
- Internationaler Stil
- Congrès International d’Architecture Moderne (CIAM)
- Weißenhofsiedlung
Literatur
- Le Corbusier: Vers une architecture. Paris 1923.
- Le Corbusier, Pierre Jeanneret: Fünf Punkte zu einer neuen Architektur. In: Die Form. Zeitschrift für gestaltende Arbeit. Nr. 2, 1927, S. 272–274 (uni-heidelberg.de).
- Katrin Schwarz: Bauen für die Weltgemeinschaft: Die CIAM und das UNESCO-Gebäude in Paris (= Reflexe der immateriellen und materiellen Kultur. Band 2). de Gruyter, Berlin / München 2016, ISBN 978-3-11-040399-2.
Einzelnachweise
- ↑ Le Corbusier und Pierre Jeanneret: Fünf Punkte zu einer neuen Architektur. In: Die Form. Zeitschrift für gestaltende Arbeit. Nr. 2, 1927, S. 272–274 (uni-heidelberg.de).
- ↑ Katrin Schwarz: Bauen für die Weltgemeinschaft: Die CIAM und das UNESCO-Gebäude in Paris. de Gruyter, Berlin / München 2016, ISBN 978-3-11-040399-2, S. 319.