Gemeindeversammlung

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Eine Gemeindeversammlung ist eine rechtlich geregelte Versammlung in der politischen Gemeinde. In der Schweiz ist sie die unmittelbare Zusammenkunft der stimmberechtigten Bevölkerung und damit ein direktdemokratisches politisches Organ. In Deutschland hat die Gemeindeversammlung grundgesetzlich zwar prinzipiell die gleiche rechtliche Bedeutung, wird in der Praxis jedoch nahezu flächendeckend durch gewählte Vertretungen (Gemeinderäte) ersetzt. In Österreich spielt die Gemeindeversammlung eine untergeordnete Rolle und dient ausschließlich der Erörterung gemeindlicher Angelegenheiten, ohne jedoch irgendwelche Entscheidungsbefugnisse innezuhaben.

Die kommunalpolitisch ausgerichtete Gemeindeversammlung ist nicht zu verwechseln mit der zumeist jährlich stattfindenden Versammlung aller Mitglieder einer katholischen oder evangelischen Kirchengemeinde.

Deutschland

In Deutschland kann laut Grundgesetz die Gemeindeversammlung an die Stelle einer gewählten Körperschaft treten (Art. 28 Abs. 1 Satz 4 GG). Diese Versammlung – vom Gesetzgeber als „Kann-Bestimmung“ ausgestaltet – entscheidet in einem solchen Fall anstelle einer körperschaftlichen Organisation. Damit können in einem solchen Fall alle Bürger alle Angelegenheiten der Gemeinde direkt bestimmen.[1]

Mit Ausnahme von Schleswig-Holstein haben alle Bundesländer die Gemeindeversammlung zugunsten der Gemeindevertretung ausgeschlossen. In Schleswig-Holstein ist eine Gemeindeversammlung nur in Kleinstgemeinden mit bis 70 Einwohnern zulässig, darüber muss ein Gemeinderat gebildet werden.[2] Aufgrund der sehr begrenzten Praxis, gibt es nur wenige Untersuchungen zur Wirkungsweise und dem Funktionieren von Gemeindeversammlungen.[3] Andere direktdemokratische Instrumente auf kommunaler Ebene sind in Deutschland der Einwohnerantrag, das Bürgerbegehren und der Bürgerentscheid.

Österreich

In Österreich wird unter einer Gemeindeversammlung eine gesetzlich geregelte Form von kommunalpolitischer Versammlung verstanden. Dieses Instrument der formalen Bürgerbeteiligung ist jedoch nur in vier Ländern in der jeweiligen Gemeindeordnung verankert: dem Burgenland[4], Oberösterreich[5], Land Salzburg[6] und Tirol[7]. Sie dient vorrangig der öffentlichen Erörterung von Angelegenheiten der Gemeinde, hat jedoch keine unmittelbaren Entscheidungsbefugnisse. Dementsprechend steht die Beteiligung an einer Gemeindeversammlung allen Einwohnern einer Gemeinde offen, nicht bloß der stimmberechtigten Bevölkerung. Eine Gemeindeversammlung kann in aller Regel auch auf Teile der Gemeinde (bspw. ein eingemeindetes Dorf, einen Stadtteil) beschränkt werden. In Salzburg, Tirol und dem Burgenland müssen Gemeindeversammlungen einmal jährlich durchgeführt werden, in Oberösterreich ist sie auf Vorhaben von besonderer Tragweite beschränkt. Im Land Salzburg kann die Gemeindeversammlung zudem durch Unterschrift von 10 v. H. der Gemeindewahlberechtigten anberaumt werden.

Die Länder Kärnten und Wien kennen mit der Bürgerversammlung ein vergleichbares Instrument in der Gemeindeordnung bzw. der Stadtverfassung.

Schweiz

Die Gemeindeversammlung in der Schweiz ist ein direktdemokratisches Organ in den meisten kleinen politischen Gemeinden. Sie sind insbesondere in den kleineren und mittleren Gemeinden der Deutschschweiz verbreitet; Gemeinden über 10'000 Einwohner verfügen hingegen meistens über ein Gemeindeparlament. Bedeutende Ausnahmen davon sind:

Kantone mit Gemeindeparlamenten sind nicht unbedingt städtisch geprägt, obwohl die Kantone mit einem Anteil von 100 % Gemeindeversammlungen (Obwalden, Nidwalden, Uri, Schwyz, Glarus) allesamt der Zentralschweiz angehören. So verfügt der Kanton Tessin nur über Gemeindeparlamente, ebenso der Kanton Neuenburg. Im eher ländlichen Kanton Waadt haben 159 von 309 Gemeinden ein Parlament.[8]

Gemeindeversammlung

Die Gemeindeversammlung ist die «Quasi-Legislative», wobei der Begriff «Legislative» auf Gemeindeebene mit Vorsicht anzuwenden ist, da dort die Gewaltentrennung nur sehr bedingt einem funktionellen Schema von gesetzgebender und vollziehender Tätigkeiten folgt.[9]

Auch Städte mit fast 20'000 Einwohnern besitzen sie zum Teil. Die Landsgemeinde – heute noch in den kleinen Kantonen Appenzell Innerrhoden, mit rund 16'000 Einwohnern, und Glarus, rund 40'000 Einwohner – ist die «grössere Schwester» der Gemeindeversammlung.[10]

Die Stimmberechtigten entscheiden oft noch in der Versammlung («direkt» → direkte Demokratie in der Schweiz, wobei das Referendumsrecht unberührt bleibt). Sie müssen sich in ihrer Entscheidung aber nicht nur auf ein reines «Ja» oder «Nein» zu einer Vorlage beschränken – sie diskutieren die vorgelegten Geschäfte (u. a. das Budget, die Rechnung der Gemeindeverwaltung, Steuerfussänderungen, Bauvorhaben, Nutzungsplanung, Tempo-30-Zonen, Gemeindefusionen), ergänzen, ändern sie ab oder weisen sie zur Überarbeitung zurück. Dieser direkte Austausch trägt zum gegenseitigen Verständnis unterschiedlicher Ansichten und Meinungen bei.[11]

Unterschieden wird zwischen Bürgergemeindeversammlung und Einwohnergemeindeversammlung. An der Bürgergemeindeversammlung ist derjenige teilnahme- und stimmberechtigt, der das Heimatrecht der jeweiligen Land- oder Stadtgemeinde besitzt; an den Einwohnergemeindeversammlung ist die Anforderung das Schweizer Bürgerrecht und der Wohnsitz in der jeweiligen Gemeinde, was im Einwohnerregister verzeichnet wird. In der Schweiz ist der Wohnsitz außerhalb der eigenen Bürgergemeinde nichts außergewöhnliches.

Nicht Stimmberechtigte dürfen der Versammlung zwar beiwohnen, durften bei den Geschäften aber nicht mitentscheiden und müssen sich auf spezielle Plätze begeben (meist in der vordersten Reihe oder auf der Seite), damit es für die Stimmenzähler einfach ist, ihre Hand nicht als Stimme zu zählen, sollte doch jemand (unberechtigterweise) die Hand hochhalten. Sie dürfen auch das Wort nicht verlangen oder ergreifen. Der Gemeinderat hingegen darf jemanden zur Beratung eines Geschäftes beiziehen, der nicht in der Gemeinde stimmberechtigt ist. Es ist üblich, dass Gemeindeangestellte, die nicht in der Gemeinde wohnhaft sind (und somit in einer anderen Gemeinde stimmberechtigt) der Versammlung beiwohnen, wenn Geschäfte ihr Ressort betreffen.

Geleitet wird die Gemeindeversammlung in den meisten Kantonen durch den Gemeindepräsident. Nur im Kanton Bern wird für diese Aufgabe auf eine feste Amtsdauer ein spezieller Gemeindeversammlungspräsident gewählt.

Die Tradition der Gemeindeversammlungen, der Volksversammlung auf kommunaler Ebene, ist noch heute in der deutschen Schweiz weitverbreitet. Gelegentlich werden feierliche Gemeindeversammlungen als «Landsgemeinden» bezeichnet, so z. B. 2019 in Ennetbaden[12] und in Bergdietikon.[13]

Im Kanton Appenzell Innerrhoden heissen die Gemeindeversammlungen Bezirksgemeinde. Dort sind Bezirke die unterste staatliche Ebene. Die Bezirksgemeinde wählt den Bezirkshauptmann (Gemeindeammann) und Bezirksrat (Gemeindeexekutive), die Vertretung im Grossen Rat und an den Bezirksgerichten.[14] Das Äussere Land (Oberegg) kennt hingegen die Urnenwahl.

Hingegen findet sich im Kanton Schwyz noch ein Bezirk als mittlere staatliche Ebene mit einer Landsgemeinde. Die Bezirksgemeinde nimmt die Wahlen des Bezirksammanns, der Bezirksräte, des Landschreibers vor sowie der Bezirksrichter und befindet über Rechnung und Budget. Sachgeschäfte betreffend die Justiz, die Führung der Sekundarstufe I sowie das Gewässer- und Strassenwesen werden an der Landsgemeinde zwar beraten, aber seit 1984 in geheimer Abstimmung an der Urne entschieden.[15]

Versammlung der Korporationen

Wie Landsgemeinden funktionieren auch die Versammlungen der Korporationen, beispielsweise die Talgemeinde der Korporation Urseren oder die Oberallmeindgemeinde der Oberallmeindkorporation Schwyz.

E-Gemeindeversammlung

Während der Covid-Pandemie kam die Diskussion über E-Gemeindeversammlungen auf.[16]

Siehe auch

Literatur

  • Philippe E. Rochat: Versammlungsdemokratie realistisch betrachtet. Die Gemeindeversammlungen der Schweiz (= Schriften zur Demokratieforschung). Zürich 2020, ISBN 978-3-7255-8121-4.
  • Philippe E. Rochat: Die Aargauer Gemeindeversammlungen. Empirische Analyse der Einwohnergemeindeversammlungen 2013 bis 2016. In: Zentrum für Demokratie Aarau (Hrsg.): Studienberichte des Zentrums für Demokratie Aarau. Nr. 14, 2019, ISBN 978-3-906918-14-3 (zdaarau.ch [PDF; abgerufen am 10. Mai 2021]).
  • Andreas Auer: Staatsrecht der schweizerischen Kantone. Bern 2016, ISBN 978-3-7272-3217-6, S. 143–149.
  • Andreas Würgler: Gemeindeversammlungen. In: Historisches Lexikon der Schweiz. 19.08.2005.
  • Christopher Schmidt: Gemeindeversammlungen in der Bundesrepublik Deutschland. Auslaufmodell oder Wiederbelebung? In: Zeitschrift für Parlamentsfragen. Jahrgang 51 (2020), Heft 2, ISSN 0340-1758, S. 408–418, doi:10.5771/0340-1758-2020-2-408 ([2] [abgerufen am 10. Mai 2021]).

Einzelnachweise

  1. Gemeindeversammlung nach der deutschen Verfassung, zuletzt abgerufen am 17. Februar 2014. Diese Interpretation steht jedoch im Widerspruch zur Formulierung des Artikels 28 des Grundgesetzes.
  2. § 54 Gemeindeordnung für Schleswig-Holstein
  3. vgl. Christopher Schmidt: Gemeindeversammlungen in der Bundesrepublik Deutschland. Auslaufmodell oder Wiederbelebung? In: Zeitschrift für Parlamentsfragen. Jahrgang 51 (2020), Heft 2, ISSN 0340-1758, S. 408–418, doi:10.5771/0340-1758-2020-2-408 ([1] [abgerufen am 10. Mai 2021]).
  4. $ 49a der Burgendländischen Gemeindeordnung
  5. § 38a (3) der Gemeindeordnung Oberösterreichs
  6. § 11 der Salzburger Gemeindeordnung
  7. § 66 der Gemeindeordnung Tirols
  8. a b Wenn Gemeindeversammlungen an ihre Grenzen stossen. In: Radio SRF – Regionaljournal Zentralschweiz. Abgerufen am 3. Dezember 2020 (Daten stammen von Andreas Ladner und Alexander Haus, Universität Lausanne).
  9. Andreas Auer: Staatsrecht der schweizerischen Kantone. Stämpfli, Bern 2016, ISBN 978-3-7272-3217-6, S. 148 f.
  10. Andreas Auer: Staatsrecht der schweizerischen Kantone. Stämpfli, Bern 2016, ISBN 978-3-7272-3217-6, S. 154.
  11. Philippe E. Rochat: Die Aargauer Gemeindeversammlungen. Empirische Analyse der Einwohnergemeindeversammlungen 2013 bis 2016, Studienberichte des Zentrums für Demokratie Aarau, Nr. 14 (2019, eine der ZDA-Publikationen auf: www.zdaarau.ch/publikationen)
  12. Martin Rupf: Grossauflauf an Jubiläums-Landsgemeinde unter freiem Himmel – Anlässlich der Feierlichkeiten 200 Jahre Gemeinde Ennetbaden wurde die Gemeindeversammlung auf dem Postplatz wie eine Landsgemeinde veranstaltet. In: Badener Tagblatt. 7. Juni 2019.
  13. Wegen der Hitze – Die Gemeindeversammlung wird kurzerhand zur Landsgemeinde. In: Limmattaler Zeitung. 27. Juni 2019.
  14. Verfassung für den Eidgenössischen Stand Appenzell I. Rh. vom 24. Wintermonat 1872, Art. 33 (abgerufen am 11. Mai 2019).
  15. Auskunft der Staatskanzlei des Kantons Schwyz vom 4. November 2013.
  16. Christina Neuhaus: [ In der Krise hat sich gezeigt, was passiert, wenn der Staat seine Fürsorge übertreibt] – Die Schweiz wird nicht unversehrt aus der Krise kommen. Zu viele Probleme sind noch unbewältigt, andere zeichnen sich erst am Horizont ab. Doch das Land hat die Pandemie in relativer Freiheit gemeistert. Das lässt hoffen. NZZ, 9. März 2021