Hannes Bajohr

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Hannes Bajohr, 2019

Hannes Bajohr (* 1984 in Berlin-Friedrichshain) ist ein deutscher Autor, Philosoph, Literaturwissenschaftler und Übersetzer.

Leben und Werk

Bajohr wuchs in Berlin und Bonn auf. Nach dem Abitur am Pädagogium Godesberg studierte er Philosophie, Germanistik und Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. 2010 schloss er sein Hochschulstudium mit einer Arbeit über die Philosophie Hannah Arendts ab; die 2017 erlangte Promotion war Hans Blumenbergs Sprachphilosophie gewidmet. Neben einer Briefedition zu Peter Weiss trat er als Übersetzer der Werke der Politikwissenschaftlerin Judith N. Shklar hervor, deren wichtigste Werke er ins Deutsche übertrug, einführte und popularisierte. 2008 erschien sein Prosadebüt Koordinaten. Als Schriftsteller veröffentlicht er vor allem Experimente mit digitaler Lyrik und konzeptuellem Schreiben. Akademisch arbeitet er zur deutschen Philosophiegeschichte des 20. Jahrhunderts (Arendt, Blumenberg, philosophische Anthropologie) und zum Digitalen in der Literatur.[1]

Zusammen mit Gregor Weichbrodt ist er Teil des Textkollektivs 0x0a für digitale konzeptuelle Literatur.[2][3][4] Bekanntheit erlangte 0x0a im Frühjahr 2015 mit einer Sammlung von 282.596 Facebook-Kommentaren der rechtsnationalen Pegida-Bewegung, die Weichbrodt mit Hilfe eines Python-Skriptes über einen Zeitraum von über einem Monat sammeln ließ.[5] Bajohr und Weichbrodt veröffentlichen das Text-Korpus auf ihrer Webseite zum Herunterladen und schickten dem Text eine eigene, literarische Interpretation hinterher: In Glaube, Liebe, Hoffnung sortieren sie alle Sätze aus dem Korpus, die mit „Ich glaube“, „Ich liebe“ oder „Ich hoffe“ begannen nach den paulinischen Tugenden („Glaube, Liebe, Hoffnung“) als Persiflage auf das von der Pegida-Bewegung selbst ernannte Ziel, das christliche Abendland vor einer vermeintlichen Islamisierung Deutschlands zu retten.[6] In einer Vertonung von Alexander Keuk wurden anlässlich des 30. Jubiläums des Dresdner Kammerchors im Februar 2016 Teile des Textkorpus unter der Leitung von Hans-Christoph Rademann in der Dreikönigskirche in Dresden vorgetragen.[7][8][9]

2015 erschien sein Roman Durchschnitt, für den "alle Bücher aus Der Kanon. Die deutsche Literatur: Romane, herausgegeben von Marcel Reich-Ranicki, 20 Bände, Frankfurt am Main: Insel, 2002, als Textkorpus verwendet, mit Python dessen durchschnittliche Satzlänge bestimmt (18 Wörter), alle Sätze anderer Länge aussortiert und das Ergebnis anschließend alphabetisch geordnet" wurden.[10][11] Er ist damit der digitalen konzeptuellen Literatur zuzuordnen.[12] Mit Swantje Lichtenstein übersetzte er Kenneth Goldsmiths Uncreative Writing, ein Schlüsselwerk des konzeptuellen Schreibens.[13]

2018 erschien Halbzeug. Textverarbeitung, ein Band mit „digitaler Lyrik“ im Suhrkamp Verlag, der breit rezipiert wurde. In der FAZ lobte Christian Metz „erstaunlich häufig glänzen die Verse voller Witz und Raffinesse“[14], während der Kritiker Michael Braun ablehnend urteilte: „In dieser tristen neuen Welt der digitalen Literatur ist die Phantasie überflüssig geworden. Wenn diese algorithmengestützte Literatur mit ihren mauen Wörterlisten und blassen Collagen Schule macht, dürfen wir uns auf ein Zeitalter der Ödnis einstellen.“[15] In der taz erwiderte darauf Hans Hütt: „Das kann man, wie der Kritiker Michael Braun, respektlos finden. Mit dieser Kritik schlägt er sich auf die Seite der Gestrigen und verbannt die Praxis literaturwissenschaftlicher Forschung ins poetologische Abseits.“[16]

Bajohr arbeitete während seiner Promotion als Dozent an der Columbia University, war wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung, Berlin, mit einem Projekt zur Geschichte „negativer Anthropologie“[17] und anschließend am Seminar für Medienwissenschaft der Universität Basel. Derzeit ist er Junior Fellow am Collegium Helveticum.[18]

Einzeltitel

  • 2008: Koordinaten. Erzählungen. Berlin: J. Frank. ISBN 978-3-940249-32-6.
  • 2011: Dimensionen der Öffentlichkeit. Politik und Erkenntnis bei Hannah Arendt. Berlin: Lukas. ISBN 978-3-86732-103-7.
  • 2011: Als Herausgeber: Peter Weiss: Briefe an Henriette Itta Blumenthal. Zusammen mit Angela Abmeier. Berlin: Matthes und Seitz. ISBN 978-3-88221-698-1.
  • 2013: Als Herausgeber und Übersetzer: Judith N. Shklar: Der Liberalismus der Furcht. Mit einem Vorwort von Axel Honneth und Essays von Michael Walzer, Seyla Benhabib und Bernard Williams. Berlin: Matthes und Seitz. ISBN 978-3-88221-979-1.
  • 2014: Als Übersetzer: Judith N. Shklar: Ganz normale Laster. Berlin: Matthes und Seitz. ISBN 978-3-88221-389-8.
  • 2015: Durchschnitt. Roman. Berlin: Frohmann Verlag. ISBN 978-3-944195-57-5.
  • 2015: Timidities. Berlin: Readux. ISBN 978-3-944801-39-1.
  • 2016: Als Herausgeber: Code und Konzept: Literatur und das Digitale. Berlin: Frohmann Verlag. ISBN 978-3-944195-86-5.
  • 2017: Als Herausgeber und Übersetzer: Judith N. Shklar: Der Liberalismus der Rechte. Berlin: Matthes und Seitz. ISBN 978-3-95757-241-7.
  • 2018: Halbzeug. Textverarbeitung. Berlin: Suhrkamp. ISBN 978-3-518-07358-2.
    • 2021, englischsprachige Übersetzung: Blanks: Word Processing. Denver, Col.: Counterpath Press. ISBN 978-1-93-399675-2.
  • 2019: Wendekorpus. Langgedicht. Berlin: Frohmann. ISBN 978-3-944-19517-9.
  • 2019: Als Herausgeber und Übersetzer: Judith N. Shklar: Verpflichtung, Loyalität, Exil. Berlin: Matthes und Seitz. ISBN 978-3-95757-570-8.
  • 2020: Als Herausgeber und Übersetzer: Judith N. Shklar: Über Hannah Arendt. Berlin: Matthes und Seitz. ISBN 978-3-95757-797-9.
  • 2020: Als Mitherausgeber und Übersetzer: History, Metaphors, Fables: A Hans Blumenberg Reader. Ithaca, NY: Cornell University Press. Zusammen mit Florian Fuchs und Joe Paul Kroll. ISBN 978-1501747984.
  • 2020: Als Herausgeber: Der Anthropos im Anthropozän. Die Wiederkehr des Menschen im Moment seiner vermeintlich endgültigen Verabschiedung. Berlin: de Gruyter. ISBN 978-3-11066-525-3.
  • 2022: Als Herausgeber: Hans Blumenberg, Hans Jonas: Briefwechsel 1954-1978 und weitere Materialien, Suhrkamp, Berlin 2022, ISBN 978-3-518-58777-5.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Speaker's Profile, CROWD Konferenz. Abgerufen am 9. April 2016.
  2. Schulze, Holger: Trinken gehen, Bus fahren. (PDF) In: MERKUR. Abgerufen am 9. April 2016.
  3. Digitale Poesie im Internet: Lyrik-Code und Daten-Dada | Kultur Info | SWR2. Abgerufen am 29. September 2016.
  4. Das Schreiben erweitern. In: Epitext. 3. Juli 2017 (hkw.de [abgerufen am 26. Juli 2017]).
  5. Pegida-Postings bei Facebook: Was der Nachbar denkt, aber nicht ausspricht. In: Spiegel Online. Abgerufen am 9. April 2016.
  6. Die Sprache Pegidas. In: 0x0a. Abgerufen am 9. April 2016.
  7. Karsten Blüthgen: Suchende am Puls der Zeit. Hrsg.: Sächsische Zeitung. Sächsische Zeitung, Dresden 2016.
  8. DNN-Online: Uraufführungen – Jubiläumskonzert des Dresdner Kammerchores in der Dreikönigskirche / Kultur News / Kultur – DNN – Dresdner Neuste Nachrichten. In: www.dnn.de. Abgerufen am 9. April 2016.
  9. mehrLicht: Kan Kun. In: mehrlicht.twoday.net. Abgerufen am 9. April 2016.
  10. Ankündigung im Frohmann Verlag. (Nicht mehr online verfügbar.) Archiviert vom Original am 22. Februar 2015; abgerufen am 24. Januar 2015.  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/frohmannverlag.tumblr.com
  11. Annette Gilbert: »Möglichkeiten von Text im Digitalen«. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Band 91, Nr. 2, 1. Juni 2017, ISSN 0012-0936, S. 203–221, doi:10.1007/s41245-017-0038-y (springer.com [abgerufen am 9. April 2018]).
  12. Hanna Engelmeier: Was ist die Literatur in »Digitale Literatur«? In: Merkur. Band 71, Nr. 823, Dezember 2017, S. 31–45.
  13. Verlagswebsite: Uncreative Writing. Abgerufen am 9. April 2018.
  14. Metz, Christian: Die wundersamen Verse des Hans-Olaf Henkel. In: FAZ. Nr. 147, 18. Juni 2018.
  15. Braun, Michael: Heiliger Algorithmus, bitt' für uns. In: tell. Abgerufen am 24. Mai 2020.
  16. Hütt, Hans: Maschinen lesen besser. In: taz. Abgerufen am 24. Mai 2020.
  17. Hannes Bajohr - ZfL Berlin. Abgerufen am 3. Oktober 2017.
  18. Hannes Bajohr | Collegium Helveticum – ETH Zürich. 7. September 2022, abgerufen am 20. September 2022 (deutsch).