Homophilenbewegung

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Unter der Homophilenbewegung wird die zweite deutsche Homosexuellenbewegung verstanden, die zeitlich ca. zwischen 1949 und 1969 zu verorten ist. Diese Bürgerrechtsbewegung fiel laut Raimund Wolfert einem „doppelten Verschweigen anheim“. So habe einerseits „der westdeutsche Staat kaum etwas unversucht“ gelassen, „um homosexuelle Emanzipationsbestrebungen zu vereiteln“. Andererseits hätten „Vertreter der dritten deutschen Homosexuellenbewegung […] die Bemühungen und Leistungen ihrer Vorgänger nicht zur Kenntnis“ genommen.[1]

Wiedererstarken der deutschen Homosexuellenbewegung in der Nachkriegszeit

Mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland 1949 bestanden die von den Nationalsozialisten verschärften Paragraphen 175, 175a des Strafgesetzbuches, die männliche Homosexualität kriminalisierten, fort. Die Artikel 2 und 3 des Grundgesetzes, welche die „freie Entfaltung der Persönlichkeit“ und die „Gleichberechtigung der Geschlechter“ garantieren, standen diesen Strafgesetzen allerdings gegenüber. Dieses gesetzgeberische Spannungsfeld bildete die Rahmenbedingungen für vornehmlich homosexuelle Männer, sich aktiv gegen die Kriminalisierung ihrer Sexualität zu wenden.[2]

Akteure und Gruppen

Die Homophilenbewegung war geprägt von einer bildungsbürgerlichen Perspektive, aus der man eine über wissenschaftliche Aufklärung erreichte „Humanität und Toleranz“ der eigenen Minderheit gegenüber einforderte. Gleichzeitig bemühte man sich darum, gesellschaftliche Zuschreibungen gegenüber der homosexuellen Minderheit – wie Femininität, Jugendverführung, Triebhaftigkeit bzw. einer Reduzierung gleichgeschlechtlicher Kontakte auf das Sexuelle – für die eigenen Reihen betont zu negieren.[3] Aufgrund der bisherigen Fokussierung der Geschichtswissenschaft auf homosexuelle Emanzipationsbestrebungen vor 1933 und die Lebenswirklichkeit der homosexuellen Minderheit zur Zeit des Dritten Reiches ist bislang wenig über die homophilen Aktivisten und Gruppen selbst bekannt. Zu nennen wären etwa Einzelpersonen wie Erwin Haarmann, Heinz Meininger, Konstantin Ortloff und Anna Stübbe, deren Biographien nur in Teilen rekonstruiert werden können.[4]

Zentrale Gruppierungen, zu denen es nur eine lückenhafte Quellen- bzw. Forschungslage gibt, waren der Frankfurter Verein für humanitäre Lebensgestaltung e.V. (VhL), der Bremer Club Elysium sowie die Hamburger Gesellschaft für Menschenrechte (GfM). Andere Gruppen stellen etwa die Internationale Freundschaftsloge (IFLO) aus Bremen, die Reutlinger Kameradschaft die runde und die Berliner Gesellschaft für Reform des Sexualstrafrechts (GfRdS) dar. Es ist wenig über das Beziehungsgeflecht der Gruppen untereinander bekannt. Gesichert ist allerdings der Kontakt zu Homosexuellenorganisationen ins Ausland. So lassen sich Kontakte zur Schweizer Homophilenzeitschrift Der Kreis, dem Amsterdamer Zentrum für Kultur und Entspannung (COC) und dem International Committee for Sexual Equality (ICSE) belegen.[5]

COC-Logo
COC-Vereinssitz in Amsterdam

Zeitschriften

Von herausragender Bedeutung für die Diskussion der Homophilen untereinander und deren Reflexion als homosexuelle Minderheit über die eigene gesellschaftliche Lage waren Homosexuellenzeitschriften. Neben dem Gedankenaustausch dienten die Zeitschriften auch als Ratgeber, sie versuchten zu belehren sowie „Trost und Beistand zu leisten.“ Sowohl Leser als auch Schreiber sollten sich in diesem Kontext selbst Orientierung verschaffen. Bei Burkhardt Riechers findet sich ein Überblick über die homophile Presse sowie eine zeitliche Einordnung der einzelnen Zeitschriften:[6]

„1951 bis 1952 Die Freundschaft bzw. Die Freunde bzw. Freond mit den Literarischen Monatsblättern Pan, von Rudolf Ihne in Hamburg; 1952 bis 1954. Die Gefährten, vom Frankfurter "Verein für humanitäre Lebensgestaltung" (VhL); 1953 Vox im Hamburger Gustav Leue Verlag: 1953 bis 1954 Hellas, nachfolgend 1954 bis 1955 Humanitas in Hamburg im Verlag Christian Hansen Schmidt; 1955 bis 1958 Der Ring, vom Hamburger Verlag Gerhard Prescha; 1951 bis 1970 Der Weg (früher: Die Insel) vom Verlag Rolf Putziger, später Wolf H.F. Prien & Co. in Hamburg; von 1955 bis 1969 Die Runde (hieß ab 1964 Der Rundblick), von der Reutlinger Kameradschaft "die runde" in hektographierter Form. Mit Abstand am bekanntesten und verbreitetsten war der 1943 bis 1967 von Karl Meier (unter dem Pseudonym "Rolf") in Zürich edierte Kreis mit deutschem, englischem und französischem Teil, wobei ersterer detailliert auf Ereignisse in Deutschland einging. Mit Ausnahme des Weges, des Kreises und der Runde stellten alle Zeitschriften nach spätestens 3 Jahren ihr Erscheinen ein. Wiederholte Indizierungen, Beschlagnahmungen, aber auch Streit verschiedener Homosexuellen-Organisationen untereinander, verhinderten, dass die betreffenden Blätter kontinuierlich erschienen. Der Schweizer Lesezirkel "Der Kreis" und die Württemberger Kameradschaft "die runde" bestanden immerhin fast 25 bzw. 15 Jahre.[7]

Frankfurt am Main als Homophilenhochburg

Das Frankfurt am Main der 1950er-Jahre kann neben Hamburg als Hochburg der Homophilenbewegung gesehen werden.[8] So bemühte sich Hans Giese, der im April 1949 das Institut für Sexualforschung gegründet hatte, dort im Oktober 1949 um eine Neugründung des Wissenschaftlich-humanitären Komitees (WhK). Der Vereinsaktivist Hermann Weber wurde dessen erster Präsident. Der im selben Jahr von Heinz Meininger gegründete Verein für humanitäre Lebensgestaltung (VhL) trat dem WhK geschlossen bei.[9] Bei den berüchtigten Frankfurter Homosexuellenprozessen 1950/1951, die maßgeblich von der Staatsanwaltschaft durch Instrumentalisierung des Kronzeugen Otto Blankenstein initiiert wurden, wandten sich einzelne Mitglieder des VhL, wie etwa der Rechtsanwalt Erich Schmidt-Leichner oder der Journalist Rudolf Eims, aktiv gegen die staatlichen Verfolgungen. Als Ende 1950 ein anonymer Drohbrief gegen den in die Homosexuellenprozesse involvierten Oberstaatsanwalt Hans-Krafft Kosterlitz zugestellt worden war und man bei der Staatsanwaltschaft den Briefschreiber den homophilen Kreisen Frankfurts am Main zurechnete, wurden im Vereinslokal des VhL, dem Felsenkeller, Anfang 1951 polizeiliche Überwachungsmaßnahmen durchgeführt.[10] Im November 1952 richtete der VhL ein Memorandum an das Bundesjustizministerium sowie den Deutschen Bundestag, in dem eine Reform des § 175 StGB gefordert wurde. Zudem organisierte der Verein im selben Jahr in Frankfurt am Main in Kooperation mit niederländischen Aktivisten den 2. Kongress des International Committee for Sexual Equality (ICSE).[11]

Niedergang der Homophilenbewegung

Raimund Wolfert betont bezüglich der Forschungslage zur deutschen Homophilenbewegung, dass es „nach wie vor schwierig“ sei, „die Protagonisten […] zu identifizieren und ihre Bemühungen und Leistungen herauszustellen.“ Dies liege „nicht nur an ihrer Erfolglosigkeit“, sondern insbesondere daran, dass viele Fragen „zum Beziehungsgeflecht der homophilen Aktivisten sowie ihrer Gruppierungen“ noch immer offen seien, „weil schlichtweg grundlegende Informationen über Kontakte und Unternehmungen“ fehlten. Dies gelte „sogar für die Beteiligten eben des Prozesses, welcher der Bewegung letztlich den Garaus machte.“[12] Trotz all dieser Schwierigkeiten gelingt es Wolfert, den langsamen Niedergang der Bürgerrechtsbewegung folgendermaßen zu umreißen:

„Im Sommer 1957 verfielen auch die übrigen noch vorhandenen bundesdeutschen Homophilengruppen in Agonie oder lösten sich auf. Auf dem Brüsseler ICSE-Kongress von 1958 waren die IFLO und die Berliner GfRds die einzigen verbliebenen deutschen Verbände. Nach der Hamburger GfM war auch der Frankfurter VhL von der Bildfläche verschwunden. Als sich der ICSE-Vorstand im Spätsommer 1959 zu einer Arbeitstagung in Bremen traf, war die GfRds ebenfalls nicht mehr dabei […]. Der Berliner Vorstand beschloss im Oktober 1959 die Auflösung des Vereins, und in der folgenden Jahreshauptversammlung am 13. Januar 1960 wurde die Entscheidung von den 15 anwesenden Mitgliedern mehrheitlich gebilligt. Als Liquidator beantragte Hans Borgward im Sommer 1960 beim zuständigen Amtsgericht die Registerlöschung. Der Nachlass der GfRdS wurde der IFLO übereignet, die ihn in einem Keller lagerte. Er wurde bei einem Hochwasser Anfang der 1960er Jahre zerstört […]. Vermutlich erlitt der größte Teil der IFLO-Vereinsunterlagen das gleiche Schicksal.[13]

Hintergrund des Niedergangs dürfte auch die Entscheidung des Bundesverfasssungerichtes vom 10. Mai 1957 sein, wonach Paragraf 175 beibehalten wurde. Erst ab 1965 zeichnete sich der allgemeine Wertewandel in der Gesellschaft auch zunehmend in der Statistik der Verurteilungen durch sinkende Zahlen ab.[14][15]

Literatur

  • Schwules Museum (Hrsg.); Akademie der Künste, Berlin (Hrsg.): Goodbye to Berlin? : 100 Jahre Schwulenbewegung ; eine Ausstellung des Schwulen Museums und der Akademie der Künste, 17. Mai bis 17. August 1997. Berlin 1997, ISBN 3861490625.
  • Rainer Herrn (1999): Anders bewegt. 100 Jahre Schwulenbewegung in Deutschland (Waldschlösschen). MännerschwarmSkript Verlag, Hamburg 1999, ISBN 3-928983-78-4, S. 80.
  • Rainer Hoffschildt: 140.000 Verurteilungen nach „§ 175“. In: Fachverband Homosexualität und Geschichte e. V. (Hrsg.): Invertito – 4. Jg. – Denunziert, verfolgt, ermordet: Homosexuelle Männer und Frauen in der NS-Zeit. MännerschwarmSkript Verlag, Hamburg 2002, ISBN 3-935596-14-6, S. 140–149.
  • Hubert Kennedy: Der Kreis: eine Zeitschrift und ihr Programm. Berlin: Verlag rosa Winkel, 1999. (Bibliothek rosa Winkel, 19). ISBN 3-86149-084-6.
  • Eric Marcus: Making History : The Struggle for Gay and Lesbian Equal Rights, 1945–1990 ; An Oral History. New York 1993, ISBN 0060167084.
  • Andreas Salmen, Albert Eckert, Bundesverband Homosexualität (Hrsg.): 20 Jahre bundesdeutsche Schwulenbewegung : 1969–1989. Köln 1989.
  • Elmar Kraushaar: Unzucht vor Gericht. In: Elmar Kraushaar (Hrsg.): Hundert Jahre schwul. Eine Revue. Berlin 1997. ISBN 3 87134 307 2, S. 60–69.
  • Thomas Löw: Der «Kreis» und sein idealer Schwuler. In: Kuno Trüeb, Stephan Miescher: Männergeschichten. Schwule in Basel seit 1930. Basler Zeitung, Basel 1988, ISBN 3-85815-163-7, S. 157–165.
  • Andreas Pretzel, Volker Weiß (Hg.): Ohnmacht und Aufbegehren. Homosexuelle Männer in der frühen Bundesrepublik. Geschichte der Homosexuellen in Deutschland nach 1945, Band I. Edition Waldschlösschen Band 9, Hamburg 2010, Männerschwarm Verlag, ISBN 978-3-939542-81-0.
  • Burkhardt Riechers: Freundschaft und Anständigkeit. Leitbilder im Selbstverständnis männlicher Homosexueller in der frühen Bundesrepublik. In: Invertito. Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten. Hamburg 1999. S. 12–46.
  • Dieter Schiefelbein: Wiederbeginn der juristischen Verfolgung homosexueller Männer in der Bundesrepublik Deutschland. Die Homosexuellen-Prozesse in Frankfurt am Main 1950/51. In: Zeitschrift für Sexualforschung 5/1 (1992), S. 59–73.
  • Daniel Speier: Die Frankfurter Homosexuellenprozesse zu Beginn der Ära Adenauer – eine chronologische Darstellung. In: Mitteilungen der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft 61/62 (2018), S. 47–72.
  • Karl-Heinz Steinle: Der Kreis: Mitglieder, Künstler, Autoren. Verlag rosa Winkel, Berlin 1999, ISBN 3-86149-093-5. (Hefte des Schwulen Museums; 2).
  • Raimund Wolfert: Gegen Einsamkeit und 'Einsiedelei'. Die Geschichte der Internationalen Homophilen Welt-Organisation. I. H. W. O. Männerschwarm, Hamburg 2009, ISBN 978-83-61719-44-1
  • Marcus Velke: Verfolgung und Diskriminierung – Männliche Homosexualität. In: Kirsten Plötz und Marcus Velke: Aufarbeitung von Verfolgung und Repression lesbischer und schwuler Lebensweisen in Hessen 1945–1985. Bericht im Auftrag des Hessischen Ministeriums für Soziales und Integration zum Projekt „Aufarbeitung der Schicksale der Opfer des ehemaligen § 175 StGB in Hessen im Zeitraum 1945 bis 1985“ (2018), S. 134–265, 275–276. [URL: https://soziales.hessen.de/sites/default/files/media/hsm/forschungsbericht_aufarbeitung_verfolgung.pdf].
  • Wolfert, Raimund. "Zwischen den Stühlen – die deutsche Homophilenbewegung der 1950er Jahre". Forschung im Queerformat: Aktuelle Beiträge der LSBTI*-, Queer- und Geschlechterforschung, edited by Bundesstiftung Magnus Hirschfeld, Bielefeld: transcript Verlag, 2014, pp. 87–104. https://doi.org/10.1515/transcript.9783839427026.87
  • Treiblmayr, Christopher: Männerbünde und Schwulenbewegung im 20. Jahrhundert, in: Europäische Geschichte Online (EGO), hg. vom Institut für Europäische Geschichte (IEG), Mainz 2010-12-03. URL: http://www.ieg-ego.eu/treiblmayrc--2010-de URN: urn:nbn:de:0159-2010101110

Siehe auch

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Wolfert 2014 S. 87f.
  2. Wolfert 2014 S. 87f.
  3. Riechers 1999, S. 12ff.
  4. Wolfert 2014, S. 87ff.
  5. Wolfert 2014, S. 87ff.
  6. Riechers 1999, S. 12ff.
  7. Riechers 1999, S. 18.
  8. Velke 2018, S. 134–265; S. 275–276.
  9. Schiefelbein 1992, S. 61.
  10. Speier, S. 60–64.
  11. Riechers 1999, S. 19.
  12. Wolfert 2014, S. 102.
  13. Wolfert 2014, S. 101.
  14. Michael Glas: 100 Jahre Schwulenbewegung – Teil 3 – Die Formierungsphase ab 1969 (Memento vom 11. Dezember 2011 im Internet Archive), 28. September 1997, Version: 20. Februar 1998, nuernberg.gay-web.de.
  15. Rainer Hoffschildt: 140.000 Verurteilungen nach „§ 175“. In: Fachverband Homosexualität und Geschichte e. V. (Hrsg.): Invertito – 4. Jg. – Denunziert, verfolgt, ermordet: Homosexuelle Männer und Frauen in der NS-Zeit. MännerschwarmSkript Verlag, Hamburg 2002, ISBN 3-935596-14-6, S. 140–149.