Geschichte der Lesben- und Schwulenbewegung

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Die Geschichte der Lesben- und Schwulenbewegung kann man weltweit grob in folgende Abschnitte einteilen:

Zeitraum Nach Selbstidentifikation Wellen nach Repnik[1] Deutschland Schweiz Österreich USA
17. Jh.–1817 Vorereignisse 1786–?
1817–1897 frühe Wegbereiter, Vorkämpfer
1897–1945 Homosexuellenbewegung Erste Welle 1897–1933 1932–1942 (1900–1920er) 1920er
1945–1969 Homophilenbewegung Zweite Welle (1949)/1969–1971 1942–1972 (1960er) 1950–1969
1969–akt. Lesben- und Schwulenbewegung 1971–akt. 1972–akt. 1975–akt. 1969–akt.

Geschichte bis 1970

Pioniere der Homosexuellenbewegung

Im Vorfeld war allgemein das Zeitalter der Aufklärung bestimmend für den Geschichtsverlauf und die Sichtweisen der Menschen. Mit der Französischen Revolution (1789 bis 1799) und der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (1789) und das Ingangsetzen des Prozesses zur Trennung von Kirche und Staat wurden weitere Grundlagen geschaffen. 1787 wurde mit dem Josephinischen Strafgesetz aus pragmatischen Gründen erstmals die Todesstrafe abgeschafft und durch nur leicht weniger tödliche Arbeitsstrafen ersetzt. 1791 wurde in Frankreich Homosexualität erstmals legalisiert, und dies wurde auch im Code pénal impérial von 1810 beibehalten. Durch die Napoleonischen Kriege wurde französisches Recht in vielen Einflussgebieten manchmal kurzzeitig, manchmal recht dauerhaft eingeführt und beeinflusste auch die weitere eigenständige Gesetzgebung. Einflussreich ist auch die Vorgeschichte der Sexualwissenschaft, wo nicht dem Standard entsprechende sexuelle Handlungen von der Sünde zur medizinischen Perversion wurden. Am 30. September 1817 wurde in der Schweiz ein Homosexueller wegen Tötung seines Freundes aufgrund unerfüllter Leidenschaft als einer der letzten Menschen Europas stranguliert und gerädert. Seine Leidensgeschichte beschäftigte Heinrich Hössli sehr, er nahm mit verschiedenen Personen Kontakt auf und veröffentlichte 1836 seinen ersten Band des Eros, Die Männerliebe der Griechen. Er verwendete teilweise noch die Fremdzuschreibungen der Sodomie und Päderastie, aber schrieb auch schon von „dieser Erscheinung“ und Männerliebe.

Karl Heinrich Ulrichs lebte im Königreich Hannover, wo Homosexualität damals nicht unter Strafe stand, bekam aber trotzdem ab 1854 die Widrigkeiten der Mehrheitsgesellschaft zu spüren, als gegen ihn Ermittlungen wegen öffentlichen Ärgernisses begannen. Er schuf die Begriffe des Urnings und der Urninde, veröffentlichte mehrere Schriften über das Räthsel der mannmännlichen Liebe, entwarf ein frühes Konzept sexueller Orientierungen und trug 1867 erstmals öffentlich auf dem Juristentag in München seine Forderung nach Straflosigkeit homosexueller Handlungen vor. Er trat, wie auch andere, gegen die Übernahme des preußischen Strafrechtsparagraphen in das Strafgesetzbuch des neugegründeten Deutschen Reiches ein, jedoch erfolglos, was sich im § 175 des Strafgesetzbuchs von 1872 zeigte. Karl Maria Kertbeny befasste sich, angetrieben von Gerechtigkeitssinn und dem Selbstmord eines Freundes, mit der Thematik, setzte sich ebenfalls für Aufhebung des Preußischen Strafrechtsparagraphen ein und prägte 1868 die noch heute verwendeten Bezeichnungen homosexuell und heterosexuell. Durch die Psychopathia sexualis von Richard von Krafft-Ebing wurden die Bezeichnungen ab 1886 stark verbreitet. 1891 veröffentlichte Albert Moll die erste Auflage seines Werkes Die Conträre Sexualempfindung. Er war zwar für Behandlung, setzte sich aber, wie auch Krafft-Ebing, für Straffreiheit ein. Die Personen standen teilweise miteinander und auch mit anderen in Kontakt, blieben aber überwiegend Einzelkämpfer, auch wenn Ulrichs 1865 schon eine Satzung für den Urningsbund entworfen hatte. Die Verurteilung Oscar Wildes 1895 war Gesprächsthema in ganz Europa. In Großbritannien veröffentlichte 1897 Havelock Ellis sein Werk Sexual Inversion, das erste englischsprachige medizinische Buch über Homosexualität. Er sah gleichgeschlechtliche Beziehungen nicht als Krankheit, Verbrechen oder unmoralisch an.

Die erste Homosexuellenbewegung

Am 15. Mai 1897 begann mit der Gründung des Wissenschaftlich-humanitären Komitees (WhK) die organisierte homosexuelle Emanzipationsbewegung. Im selben Jahr wurde die erste Petition gegen den § 175 eingebracht. Ab 1896 erschien mit Der Eigene die erste Homosexuellenzeitschrift und ab 1899 mit dem Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen eine mehr wissenschaftliche Publikation. 1901 veröffentlichte WhK-Mitbegründer Magnus Hirschfeld mit Was muss das Volk vom Dritten Geschlecht wissen! eine frühe populärwissenschaftliche und nicht primär medizinische Aufklärungsschrift für die breite Masse. Es folgten viele weitere Organisationen wie etwa Freundschaftsvereinigungen. Manche nahmen in bestimmten Punkten eine Gegenposition zum WhK ein; die Forderung nach Abschaffung des § 175 war allen gemein. 1903 gründete sich die Gemeinschaft der Eigenen unter Adolf Brand. 1906 brach Benedict Friedlaender mit dem WhK und gründete die Sezession des Wissenschaftlich-humanitären Komitees, welche später in Bund für männliche Kultur umbenannt wurde, seinen Freitod 1908 aber nicht lange überlebte. 1913 schrieb Hirschfeld, dass sich der Begriff Homosexualität trotz aller Gegenargumente als Standardbegriff etabliert habe. Daneben gab es noch andere Begriffe und Euphemismen. 1919 gründete Hirschfeld sein Institut für Sexualwissenschaft und wurde in der Folge von tausenden Homosexuellen und Transsexuellen kontaktiert.

1919 erschien dann erstmals die Zeitschrift Die Freundschaft vom Herausgeber und Verleger Karl Schultz und etablierte sich rasch als wichtigste deutsche Homosexuellenzeitschrift der Weimarer Republik. Aus ihrem Leserkreis gründeten sich in den Jahren 1919 und 1920 in zahlreichen deutschen Städten Freundschaftsbünde, z. B. in Breslau, Leipzig, Hamburg, Frankfurt am Main, Dresden, Düsseldorf, Hannover, Stuttgart und mehrfach in Berlin. Das Wissenschaftlich-humanitären Komitee lud im August 1920 diese Bünde nach Berlin ein, wo sie sich unter dem Namen Deutscher Freundschaftsverband (DFV) als Dachverband zusammenschlossen. Die Freundschaft wurde zum Organ des DFV ernannt. Damit gab es erstmals eine reichsweite Organisation, die breite Schichten der Homosexuellen erreichte. 1923 nannte sich der DFV unter dem neuen ersten Vorsitzenden Friedrich Radszuweit in Bund für Menschenrecht (BfM) um. Aus Unzufriedenen und Ausgeschlossenen des DFV wurde dann im März 1925 in Berlin der Deutsche Freundschaftsverband neugegründet. Diese beiden Organisationen beherrschten insbesondere in Gestalt der jeweils angeschlossenen Verlage, die zahlreiche schwule und lesbische Zeitschriften veröffentlichten, neben dem WhK in den 1920er und frühen 1930er Jahren die Diskurse der ersten Homosexuellenbewegung in Deutschland.[2]

Ebenfalls 1897 wurde in London von George Cecil Ives die Geheimgesellschaft Order of Chaeronea gegründet, die nicht glaubte, dass die Gesellschaft so bald Homosexualität offen akzeptieren werde. In den USA wurden einige geheime oder halb-geheime Gesellschaften gegründet, über die sehr wenig bekannt ist. Die erste bekanntere war die 1924 gegründete The Society for Human Rights, die durch die Vorbilder aus Deutschland inspiriert wurde; sie wurde jedoch nach einigen Monaten von der Polizei aufgelöst und ihre Mitglieder verhaftet. Teilweise gab es Ableger deutscher Vereine in den benachbarten Ländern. Kurz vor der Besatzung gründete sich 1940 in den Niederlanden der Verein Levensrecht. In Europa und Nordamerika fanden weitere Aktivitäten im Rahmen der sich kurz nach 1900 etablierenden Sexualwissenschaft und der Sexualreform-Bewegung statt. Ab 1909 und vor allem ab 1925/1929 gab es in Deutschland auch immer wieder Bestrebungen, die Strafbarkeit auszudehnen. Normierende Kräfte wurden Ende der 1920er, Anfang der 1930er allgemein wieder stärker. In den USA wurde etwa der Hays Code für Spielfilme ab 1930 auf freiwilliger Basis eingeführt, ab 1934 war er verpflichtend. In Deutschland wurde alles mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 zerschlagen, und der Zweite Weltkrieg gab fast weltweit andere Prioritäten vor. In der neutralen Schweiz begannen ab 1932 engagierte Frauen Freundschafts- und Menschenrechtsblätter zu veröffentlichen. Mitten im Krieg wurde 1942 einfache Homosexualität straffrei, und im selben Jahr begann Karl Meier mit der Herausgabe der Zeitschrift Der Kreis – Le Cercle, zu der Zeit die einzige Zeitschrift für Homosexuelle. Ihr Name wurde dann ab 1951 mit englischen Beiträgen auf Der Kreis – Le Cercle – The Circle erweitert; sie blieb bis 1967 bestehen. Die Abonnenten bildeten quasi auch einen Verein und zu den privaten Festen in der Schweiz kamen Menschen aus ganz Europa. Ab Ende der 1940er Jahre entstanden schon wieder die ersten Vereine in den Niederlanden (Shakespeareclub, heute COC, 1946), Dänemark (Forbundet af 1948) und den USA (Mattachine Society, 1950; Daughter of Bilitis, 1955). Das Klima war aber großteils sehr repressiv, so dass nur zaghaft gesellschaftliche Veränderungen gefordert wurden und vor allem daran gearbeitet wurde, weiter bestehen zu können. In diese Zeit fällt in den USA die McCarthy-Ära von etwa 1947 bis 1956.

In Deutschland spürte man noch stark die Nachwirkungen der nationalsozialistischen Ideologie, viele Protagonisten waren umgekommen oder wurden vertrieben, wenige kamen zurück, und die wenigen Aktivisten zerstritten sich auch teilweise. Wiedergründungen des WhK in den Jahren 1949 und 1956 sowie des Bund für Menschenrecht scheiterten. Der Strafrechtsparagraph blieb auch in der nationalsozialistischen Fassung bestehen, und mit der damit einhergehenden Zensur wurde jede Aufklärung über das Thema erschwert. Es wurden Zeitschriften zensiert und verboten, und der Versuch, homosexuelle Organisationen zu gründen, führte zu Verhaftungen.[3] Es kam nur zu vereinzelten Vorstößen gegen § 175. Sonst gab es nur wenige kleine Privatzirkel. Der Begriff homosexuell wurde von vielen vor allem wegen des Wortteils „-sexuell“ abgelehnt, und neben den Versuchen, neue Begriffe zu finden, bezeichnete man sich meist als homophil. Neben dem Kreis war auch die in Dänemark gegründete International Homosexual World Organisation (IHWO) eines der wenigen Bindeglieder im deutschsprachigen Raum. Ab 1965 konnte man in der BRD ein Sinken der Verurteilungen nach § 175 feststellen. Mit Wirkung vom 1. September 1969 wurde das Strafrecht reformiert und homosexuelle Handlungen über 21 Jahren und unter 18 Jahren straffrei. Mit Du & Ich konnte im Oktober die erste neue Zeitschrift erscheinen, etwas später him, in Hamburg wurde ein Ableger der IHWO als Internationale Homophile Welt-Organisation – Gruppe Norddeutschland e.V. gegründet, der bis 1974 bestand[4]. In Berlin entstanden der Club für progressive Freizeitgestaltung (CpF) und der Schutzverband deutscher Homophiler (SdH). In Wiesbaden wurde die Interessenvereinigung der deutschen Homophilen (IdH) gegründet. Etwas später kam noch die Deutsche Homophile Organisation (DHO) dazu. In Österreich gab es in der ganzen Zeit wenige Einzelkämpfer und einen nicht sehr erfolgreichen Versuch ab 1963, einen Verband für freie Mutterschaft und sexuelle Gleichberechtigung zu etablieren. In der Schweiz wurde noch 1970 die Schweizerische Organisation der Homophilien (SOH) gegründet, konnte aber vor allem linke und studentische Homosexuelle nicht mehr erreichen. Die Tage der Homophilen waren gezählt.

Stonewall und die zweite Homosexuellenbewegung

Mit dem Stonewall-Aufstand vom 27. bis zum 29. Juni 1969 begann in den USA ein neues Zeitalter. Die Homosexuellen wurden wieder selbstbewusster und wollten selbstbestimmend werden. Gay Pride kam auf. Treibende Kraft waren anfangs vor allem politisch Linke und Studenten, die 68er-Bewegung zeigte ihren Einfluss. Innerhalb kurzer Zeit entstanden viele neue Initiativen, von etwa 50 Organisationen schnellte die Zahl auf etwa 2500 zwei Jahre später;[5] sie brachen mit der Angepasstheit der Homophilenbewegung. Manche Aktivisten wechselten, andere hörten auf. 1970 gab es die erste kleine Demonstration in London und 1971 wurde in Paris beim Ersten Mai mitmarschiert. In Deutschland und der Schweiz war Stonewall noch wenigen bekannt. Initiator war der Film Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt aus dem Jahr 1971 (in der Schweiz 1972 gezeigt). Homophile Organisationen waren meist gegen die Aufführung des Films und vor allem gegen die Ausstrahlung im Fernsehen 1972, da man negative Effekte befürchtete. Nach einigen Vorstellungen bildeten sich Diskussionen und daraus Initiativen und Vereine. Die bestehende kommerzielle Subkultur wurde teilweise als Sexghetto verachtet. Zwischen Homophilen und Schwulen kam es immer wieder zu Spannungen. Wenige alte Homophile wechselten die Lager. Zur Geschichte vor 1933 gab es so gut wie keine Verbindung, viele neue Aktivisten wussten nicht einmal, dass es vorher in Deutschland eine Bewegung gegeben hatte. Das erste neue Buch darüber erschien 1975 in den USA, und erst mit der Zeit begann man die alte Bewegung aufzuarbeiten. In Österreich wurde zwar 1971 das Totalverbot männlicher und weiblicher homosexueller Handlungen aufgehoben, aber durch vier neue Paragraphen ersetzt, darunter ein Werbeverbot und ein quasi Vereinsverbot. Die katholische Kirche hatte nach wie vor großen Einfluss auf Politik und öffentliche Meinung. Zusätzlich wurde Homosexualität noch als etwas Privates verstanden, und auch in den österreichischen Medien wurde selten und nur negativ darüber berichtet (während in Deutschland etwa Der Spiegel schon ausgewogener berichtete). Auch andere neue soziale Bewegungen starteten in Österreich später; die Studentenbewegung war im Vergleich zu anderen Ländern nie eine Massenbewegung geworden, und so fehlte es an Möglichkeiten, Protesterfahrung zu sammeln. Dadurch entstanden hier erst 1975/1976 die ersten Gruppen, und 1980 wurde der erste Verein gegründet.[1] Etwas spezifisch Deutsches und Österreichisches waren ab Mitte der 1970er Jahre die starke Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus und die Forderung nach Erwähnung, Anerkennung als Opfer und Wiedergutmachung. Auch hierzu kamen entscheidende Impulse aus den USA. Inzwischen ist die neue Lesben- und Schwulenbewegung auf allen eisfreien Kontinenten aktiv.

1970er Jahre

Die Schwulenbewegung der 1970er Jahre orientierte sich international sehr stark an anderen Neuen Sozialen Bewegungen, insbesondere an der Neuen Linken. Die Lesbenbewegung verschmolz zu einem großen Teil mit der Frauenbewegung und prägte dort das Paradigma des Lesbischen Feminismus.

Neben einzelnen Demonstrationen und verschiedenen politischen Aktivitäten, die sich gegen die Diskriminierung von Homosexuellen richteten, entstand eine alternative Infrastruktur, die sich außerhalb der kommerziellen Subkultur etablierte. Buchläden, Verlage, Zentren und Vereine aus der damaligen Zeit existieren vereinzelt heute noch.

Ein zentrales Konzept war das Coming-out, das Homosexuellen ermöglichen sollte, eine selbstbewusste Identität als Lesbe oder Schwuler herauszubilden. Das schwule Coming-out hatte vor allem bei schwulen Männern und für die Schwulenbewegung in den 1970er Jahren und zum Teil noch bis heute zwei wichtige Aspekte, die im Idealfall miteinander verknüpft waren:

  • Das individuelle Coming-out. Das war das eigene Sich-bewusst-werden und das Bekanntgeben der eigenen Homosexualität gegenüber der Familie und dem engsten Freundeskreis.
  • Das gesellschaftliche Coming-out. Hier sollte der einzelne in seiner jeweiligen gesellschaftlichen Stellung sein „Schwul sein“ öffentlich machen, damit zum einen die Gesellschaft sich mit der Homosexualität in möglichst vielen Berufen und gesellschaftlichen Positionen auseinandersetzen kann/muss, und zum anderen andere Homosexuelle eine Identifikationsmöglichkeit haben, die ihnen das persönliche Coming-out und das Leben als selbstbewusste Schwule wiederum erleichtert.

Vereinigte Staaten

Gay Liberation Front und Gay Activists Alliance

In New York bildete sich unmittelbar nach dem Stonewall-Aufstand im Juni 1969 die Gay Liberation Front (GLF). Die Namenswahl war eine Anspielung auf die südvietnamesische Befreiungsfront Vietkong. Als erste Organisation, die bereit war, in offener Konfrontation für die Befreiung von Schwulen und Lesben einzutreten, markierte die GLF, wie auch der ihr vorausgegangene Stonewall-Aufstand, eine völlig neue Qualität. Mit der Sichtbarmachung von Lesben und Schwulen legte sie eine Grundlage für alle späteren Liberalisierungen, obwohl ihre Ziele über die Integration einer Minderheit hinausgingen.

Bereits sehr früh zeichnete sich eine Spaltung an der Frage ab, ob die GLF andere militante linke Organisationen wie z. B. die Black Panther Party unterstützen sollte. 1970 gründeten Jim Owles und Marty Robinson außerhalb der GLF eine neue Organisation: die Gay Activists Alliance (GAA). In einer Broschüre für Neulinge stellte sie sich so dar:

„Die Gay Activists Alliance ist eine militante (obwohl gewaltfreie) homosexuelle Bürgerrechtsorganisation. […] Die GAA hat sich ausschließlich der Befreiung der Homosexuellen verschrieben und vermeidet jede Beteiligung an einem Aktionsprogramm, das keinen offensichtlichen Bezug zu Homosexuellen hat. […] Die GAA gebraucht die Taktik einer konfrontativen Politik. Politiker und Personen in gesellschaftlicher Autorität, die zur Unterdrückung von Homosexuellen beitragen, werden öffentlich bloßgestellt durch Massendemonstrationen, das Sprengen von Versammlungen sowie Sit-ins.“

Nach dem Auszug der gemäßigten Aktivisten verstand sich die GLF offen als revolutionäre Organisation. In einem Interview mit Mitgliedern der GLF New York, das in der San Francisco Free Press veröffentlicht wurde, wurde auf die Frage, was die Gay Liberation Front sei, geantwortet:

„Wir sind eine revolutionäre homosexuelle Gruppe von Männern und Frauen, die sich mit der Erkenntnis gebildet hat, dass komplette sexuelle Befreiung für alle Menschen nicht verwirklicht werden kann, wenn nicht die existierenden sozialen Institutionen abgeschafft werden. Wir lehnen den Versuch der Gesellschaft ab, uns sexuelle Rollen und Definitionen unserer Natur aufzuerlegen. Wir treten aus diesen Rollen und simplistischen Mythen heraus. Wir werden sein, wer wir sind. Zur gleichen Zeit schaffen wir neue soziale Formen und Beziehungen, das bedeutet Beziehungen, die auf Brüderlichkeit, Kooperation, menschlicher Liebe und ungehinderter Sexualität basieren. Babylon hat uns gezwungen, uns einer Sache zu verpflichten … der Revolution.“

Ein Jahr alt, umfasste die GLF neben den Vollversammlungen am Sonntagabend, die von ca. siebzig bis achtzig Personen besucht wurden, 19 Zellen oder Aktionsgruppen, zwölf Gruppen zur Bewusstseinsbildung, ein Treffen am Mittwochabend für Männer, ein Frauentreffen am Sonntagabend vor der Vollversammlung, drei Wohn-Kommunen und eine Radical Study Group. Darüber hinaus gab es die GLF-Zeitung Come Out! und die Zeitschrift der GLF-Kommune in der 17. Straße, Gay Flames.[6] Aus den Erfahrungen der US-GLF wurden in einigen anderen Ländern Ableger gegründet, unter anderem die englische Gay Liberation Front, die – von Aubrey Walter und Bob Mellors ins Leben gerufen – vor allem in London, später im ganzen Land ihre Aktivitäten entfaltete.

Entstehung des lesbischen Feminismus

Die Gründung des lesbischen Feminismus ging auf den zweiten Jahreskongress zur Vereinigung der Frauen am 1. Mai 1970 zurück, wo unter Veranstaltung eines Happenings das Manifest der Frauenidentifizierten Frau verteilt wurde. Darin hieß es:

„Was ist eine Lesbe? Eine Lesbe ist die Wut aller Frauen, verdichtet bis zum Punkt der Explosion. Lesbisch ist das Wort, das Etikett, der Zustand, der Frauen auf Linie hält. … Lesbisch ist ein Label, das vom Mann erfunden wurde, um es auf jede Frau zu werfen, die es wagt, seinesgleichen zu sein, seine Vorrechte in Frage zu stellen … das Primat ihrer eigenen Bedürfnisse zu behaupten. Es ist das Primat von Frauen, die sich auf Frauen beziehen … die Basis für die Kulturrevolution.“

Die lesbischen Frauen, die das Abschlussplenum mit einer Reihe von Resolutionen konfrontierten, gaben sich im Anschluss an den Kongress den Namen „Radicalesbians“. Die Separierung von der Schwulenbewegung rief bei den GLF-Frauen zunächst heftige Kritik hervor. Doch die Unsichtbarkeit von Lesben in der GLF, am Ende der Vorwurf des Sexismus, der Ignoranz gegenüber den Problemen von Frauen führten schließlich zu ihrem Auszug. 1970 gründeten sie in San Francisco die Gay Women’s Liberation. Und 1973 ging aus der Gay Activists Alliance, der bürgerlichen Abspaltung der GLF, die Lesbian Feminist Liberation hervor.

Die lesbisch-feministische Bewegung verabschiedete sich vom Begriff gay und legte sich die Bezeichnungen lesbian und dyke zu.

1971 gründeten sich die Furien, mit Basis in Washington, D. C., die das Programm des lesbischen Separatismus weiterentwickelten und auf die Organisation des privaten Lebens übertrugen. „Heterosexuelle Frauen werden durch Männer verwirrt, setzen Frauen nicht an erste Stelle“, schrieb Rita Mae Brown, eine der Gründerinnen. „Sie verraten Lesben und zuletzt verraten sie auch sich selbst.“ In der ersten Nummer ihrer gleichnamigen Zeitschrift hieß es schließlich:[7]

„Der Lesbianismus bedroht die männliche Herrschaft in ihrem Kern. In politisch bewusster und organisierter Form hat er eine zentrale Funktion dabei, unser sexistisches, rassistisches, kapitalistisches und imperialistisches System zu zerstören. […] Lesben müssen Feministinnen werden und gegen die Unterdrückung von Frauen kämpfen, genau wie Feministinnen Lesben werden müssen, wenn sie männliche Herrschaft zu beenden hoffen.“

Deutschsprachiger Raum

Bundesrepublik Deutschland

In Deutschland gilt die Uraufführung des Films Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt (BRD 1970, Regie: Rosa von Praunheim, Text: Rosa von Praunhein, Martin Dannecker, Sigurd Wurl) bei den Berliner Filmfestspielen 1971 als Initialzünder der Schwulenbewegung. Noch im selben Jahr gründeten sich die Homosexuelle Aktion Westberlin (HAW) und die Rote Zelle Schwul (RotZSchwul) in Frankfurt[8]. Am Samstag, 29. April 1972 wurde in Münster die erste Schwulendemo in der Bundesrepublik durchgeführt.[9][10]

Eine erneute Aufführung des Films Anfang 1972 führte zur Gründung der HAW-Frauengruppe. Die HAW Frauen, die sich ab 1974 feministisch definierten und der Frauenbewegung annäherten, verfolgten eine offensive Strategie des Sichtbarwerdens. Zentral war der von ihnen mitgestaltete Film … und wir nehmen uns unser Recht (ausgestrahlt am 14. Januar 1974 auf den Dritten Programmen). Ziel der HAW-Frauen war, aus der Isolierung, der Einsamkeit und der Tabuisierung lesbischen Lebens herauszukommen und dies möglichst allen lesbischen Frauen zu ermöglichen. Im Film wurde ihre Adresse gezeigt – die Frauen erhielten jede Menge Post – und in der Folge gründen sich bundesweit Lesbengruppen.

Tuntenstreit

1973/74 kam es zu einer ersten Strategiediskussion in der Schwulenbewegung, dem so genannten Tuntenstreit. Der Konflikt brach beim Pfingsttreffen 1973 in Westberlin aus. Als bei der Abschlussdemonstration mit über 700 Teilnehmern die aus Frankreich und Italien angereisten Schwulen in Frauenkleidern, sogenannte Tunten, auftraten, kam es zum Eklat, der sich schließlich zur HAW-internen Strategiedebatte ausweitete. Ergebnis war die Spaltung in einen integrationistischen Flügel aus orthodoxen Marxisten und die radikale Fraktion der Feministen.

Für die Ersteren war die Homosexuellenunterdrückung ein „vorkapitalistisches Relikt“ und kein Wesensmerkmal der bürgerlichen Gesellschaft. Da eine Integration der Homosexuellen jederzeit möglich erschien, wurde die Aufgabe der „homosexuellen Sozialisten“ darin gesehen, in der Arbeiterbewegung aktive Solidarität für die homosexuelle Minderheit und bei den Homosexuellen ein Bewusstsein über ihre mehrheitliche Lage als ausgebeutete Lohnarbeiter zu entwickeln.

Anders die feministische Fraktion. Deren Vertreter lehnten eine Minderheitenpolitik ab, die darauf hinauslaufe, die herrschende Form von Heterosexualität unangetastet zu lassen. Letztere sei durch gewaltsame Überzeichnung der Geschlechterrollen und eine latent homosexuelle Identifizierung der Männer untereinander geprägt. Aus dieser Perspektive leiteten sie die Forderung nach einer autonomen Schwulenbewegung ab, die, statt in Demutsgesten gegenüber den heterosexuellen Genossen zu verfallen, eigenständige Positionen entwickeln und in die Linke einbringen müsse.

In dieser Situation gründeten am Rande eines Treffens bundesdeutscher Schwulengruppen im Mai 1977 einige Personen, die alle auch in ihren jeweiligen Wohnorten in Schwulengruppen aktiv waren, die Gruppe NARgS, die erreichte, dass während des dritten Russell-Tribunals über „Menschenrechtsverletzungen in der Bundesrepublik Deutschland“ 1978/79 auch ein Fall von Verhinderung sachlicher Informationen über Homosexualität als Rechtsverletzung behandelt wurde. Die Erfahrungen aus der Vorbereitungszeit führten in der Gruppe zu dem Entschluss, eine Veranstaltung von und für Schwule zu planen, um autonom über Ziele und Wege der Schwulenbewegung bestimmen zu können. Durch die umfangreiche Berichterstattung wurde Homolulu zu einem Einschnitt[11] in der Entwicklung der bundesdeutschen Schwulenbewegung.

Deutsche Demokratische Republik

Im Jahr der Weltjugendfestspiele, die 1973 in Ost-Berlin stattfanden, gab es bereits einen regen Austausch zwischen Mitgliedern der Homosexuellen Aktion Westberlin (HAW) und Schwulen, die in der DDR politisch engagiert waren. Einige HAW-Aktivisten waren damals oder wenig später Mitglieder der SEW, welche mit der westdeutschen DKP vergleichbar war. Diese Parteimitglieder, z. B. Volker Eschke, aber auch unabhängige HAW-Aktivisten hatten Kontakt zu Peter Rausch, Michael Eggert und anderen, die damals eine lose Vereinigung von Schwulen in der DDR bildeten.

Einerseits hatte die Staatsführung der DDR nichts gegen Kontakte zu West-Berliner Kommunisten einzuwenden, andererseits stieß der schwule Emanzipationsanspruch doch auf mehr oder weniger offenes Misstrauen von staatlicher Seite. So wurden viele Treffen zwischen DDR-Schwulen und HAW-Mitgliedern – oft bemerkt, manchmal auch unbemerkt – von der Staatssicherheit überwacht.

Heute gibt es nur wenige Dokumente über das homosexuelle Leben in der DDR. Ein Stück lesbischer Emanzipationsgeschichte in der DDR arbeitet der Film warum wir so gefährlich waren. geschichten eines inoffiziellen gedenkens auf.

Niederlande

Das bereits 1946 als Shakespeareclub in Amsterdam gegründete Cultuur- en Ontspanningscentrum (C.O.C.) konnte 1971 eines seiner Hauptziele, die Reform des Artikel 248-bis im Wetboek van Strafrecht (niederländisches Strafgesetzbuch), erreichen. Dieser ehemalige Paragraph stellte den gleichgeschlechtlichen Kontakt zwischen 16 und 21 Jahren unter Strafe und ließ Strafen bis zu einem Jahr Haft zu. Hingegen lag für heterosexuelle Menschen das Schutzalter bei 16 Jahren. In diesen Zeitraum konnte auch eine zunehmende Akzeptanz der Homosexualität in der niederländischen Gesellschaft erreicht werden. 1973 wurde das COC, welches seit 1971 den Namen Nederlandse Vereniging voor Integratie van Homoseksualiteit COC führt, offiziell als Verein registriert. Neben dem COC entstanden in dieser Zeit weitere LGBT-Vereine in den Niederlanden.

Schweiz

1975 fand in Basel die erste öffentliche Demonstration die Teilnahme einer Schwulen Gruppe mit einem Transparent beim 1.-Mai-Umzug statt. Drei Jahre später gab es nach der Übergabe einer Petition für die Aufhebung der Schwulenregister ein Sit-in auf dem Zürcher Platzspitz, welches bereits als Christopher-Street-Liberation-Memorial Day bezeichnet wurde. Die erste offizielle Nationale Schwulendemo fand 1979 in Bern statt.

1980er Jahre

Vereinigte Staaten

Im Sommer 1979 entstand mit Samois erstmals eine feministische Lesben-Gruppe, die sich in den 1980er Jahren politisch für die Rechte von lesbischen Sadomasochistinnen engagierte. Ihr 1981 veröffentlichter Titel Coming to Power führte schließlich auch in der lesbischen Gemeinschaft zu einer erhöhten Akzeptanz und zu mehr Verständnis des Themas BDSM. Die Gruppe nahm gegen den Widerstand der Organisatoren gemeinsam mit der BDSM-Gruppe Janus an der Veranstaltung Gay Freedom Day Parade teil und trug dabei erstmals T-Shirts mit der Aufschrift The Leather Menace. Dies gilt als erstes offenes Auftreten einer sadomasochistischen Lesben-Gruppe auf einer öffentlichen Veranstaltung. Die offene Teilnahme der Gruppe bei dieser Veranstaltung machte erstmals Differenzen zu einer Teilmenge der nichtsadomasochistischen Lesben deutlich, die BDSM als Grundlage von Frauenhass und Gewaltpornographie sahen.

In Folge kam es zunächst zu massiver Zensur in der lesbischen Subkultur. Der resultierende ideologische Konflikt dauerte jahrzehntelang an und legte die Grundlage für eine bis heute andauernde Auseinandersetzung, die im angelsächsischen Raum unter der Bezeichnung Feminist Sex Wars bekannt ist. Hierbei kam es zu teilweise äußerst aggressiven Auseinandersetzungen mit verschiedenen feministischen Organisationen wie Women Against Violence in Pornography and Media (WAVPM) und Women Against Pornography. Prominente Vertreter der sich hieraus ergebenden theoretischen Diskussion sind z. B. Pat Califia und Gayle Rubin und auf der einen und Andrea Dworkin und Catharine MacKinnon auf der anderen Seite. Die Arbeiten der Befürworter führten zu der Entwicklung des Sexpositiven Feminismus. Der Diskurs über die Legitimität weiblichen Sadomasochismus hält bis heute an. Im deutschsprachigen Raum nahm die Diskussion um die PorNO-Kampagne die wichtigsten Argumente und Forderungen der antipornografischen Seite auf, eine vergleichbar intensive Diskussion unter Feministen blieb jedoch weitestgehend aus, da die Thesen der Debatte überwiegend nur in den kritischen Teilaspekten transferiert wurden.

Bundesrepublik Deutschland

Die 1980er Jahre waren in der Bundesrepublik vor allem durch eine Institutionalisierung der Lesben- und Schwulenbewegung geprägt:

  • 1982 entstand der Lesbenring als Dachorganisation lesbischer Frauen und 1986, als dessen schwules Pendant, der Bundesverband Homosexualität (BVH).
  • Ab 1977 entstanden im Umfeld der Berliner Allgemeinen Homosexuellen Arbeitsgemeinschaft (AHA-Berlin e.V.) zahlreiche Gruppen, die in gesellschaftliche Großorganisationen hineinwirken wollten: die Ökumenische Arbeitsgruppe Homosexuelle und Kirche zum Evangelischen Kirchentag 1977 in Berlin, der Arbeitskreis Homosexualität in der Gewerkschaft ötv-Berlin (heute ver.di), die Schwusos in der SPD, offizielle Anerkennung 1983, der Arbeitskreis Homosexualität der damals noch FDP-nahen Jungdemokraten (1978 in Berlin, offizielle Anerkennung als FDP-Arbeitskreis 1981), die Bundes-AG SchwuP innerhalb der Grünen und 1984 die DKP-nahe Demokratische Lesben- und Schwuleninitiative (DeLSI), zuvor jedoch bereits eine Arbeitsgruppe der SEW-nahen Hochschulgruppe ADSen (Arbeitsgemeinschaft von Demokraten und Sozialisten).
  • In den bundesdeutschen Studierendenvertretungen (ASten) wurden ab 1981 fast überall Schwulenreferate eingerichtet, die zunächst als reguläre Bestandteile der offiziellen ASten akzeptiert werden wollten und dafür auch verschiedentliche Rechtshändel mit der staatlichen Hochschulverwaltung austragen mussten. Später verzichteten die lesbischen und schwulen Studenten auf diesen offiziellen Status und firmierten als „autonome Lesben- und Schwulenreferate“.
  • Bundesweite Ausstrahlung hatten auch die Berliner Lesbenwoche (1985–1997) und das Lesben-Frühlings-Treffen, das seit Ende der siebziger Jahre jeweils in einer anderen Stadt stattfand. Die Namen dieser Veranstaltungen zeigen, dass sich Lesben auch in den 80ern überwiegend autonom, d. h. unabhängig von Männern, engagierten.
  • In Westberlin arbeitete und koordinierte das Treffen der Berliner Schwulengruppen schwulenpolitische Aktivitäten in der Stadt.

Allein zwischen Dezember 1980 und Mai 1986 erhöhte sich die Zahl der lesbisch-schwulen Emanzipationsgruppen von etwa 148 auf 416. 1981 veröffentlichte der Hamburger Autor Thomas Grossmann mit seinem Ratgeber Schwul – na und? den ersten Ratgeber zum Coming Out für Schwule; ebenfalls 1981 erregte der erste Ratgeber für Lesben, Pat Califias Sapphistrie: Das Buch der lesbischen Sexualität Aufsehen. 1989 machte Bea Trampenau auf die Situation lesbischer Mädchen aufmerksam mit Kein Platz für lesbische Mädchen.

Ein zweites Novum war die Organisierung eines jährlichen Christopher Street Day, um an den Stonewall-Aufstand zu erinnern. Die ersten CSDs fanden 1979 in Bremen und Berlin statt.

Etwa ab 1983 warf die Immunschwächekrankheit AIDS ihren Schatten über die Schwulenbewegung. Zum einen starben in den folgenden Jahren zahlreiche prominente Aktivisten; zum anderen ging es nun darum, eine repressive Gesundheitspolitik abzuwehren, wie sie vor allem der bayerische Innenpolitiker Peter Gauweiler voranzutreiben versuchte. So forderte dieser 1986 die Einrichtung von Internierungslagern für Aids-Kranke.

Trotz ihrer Erfolge in der Aids-Politik, die Homosexualität als Thema in die breite Öffentlichkeit trug, geriet die Lesben- und Schwulenbewegung gegen Ende der 1980er Jahre in eine Sinnkrise, die sie mit fast allen anderen sozialen Bewegungen teilte. Viele Aktivisten zogen sich enttäuscht aus der Bewegung zurück. Die Ursachen hierfür sind vielschichtig:

  • Die Verallgemeinerung eines lesbischen und schwulen Selbstbewusstseins machte es überflüssig, sich innerhalb der Bewegung zu engagieren, um in den Genuss der von ihr geschaffenen Identität zu gelangen.
  • Der Begriff „Politschwester“ wurde zu einem szeneinternen Stigma-Begriff. Politisches Engagement galt als „unsexy“.
  • Aufgrund der steigenden Akzeptanz ihrer Lebensweise sahen viele Szeneangehörige die Mission der Lesben- und Schwulenbewegung bereits als erfüllt an.
  • Ehemalige Bewegungszeitschriften begannen, sich in kommerzielle Lifestyle-Magazine zu verwandeln und von ihrer Bindung an die Lesben- und Schwulenbewegung zu lösen.
  • Politische Schlagworte wie „Emanzipation“ und „Patriarchat“ wurden durch den Niedergang der Neuen Linken weitgehend entwertet.
  • Die Bewegung hatte sich professionalisiert und schloss durch ihre zunehmende Verbandsstruktur eine Beteiligung der Basis aus.

Aufgrund dieser Tendenzen erklärten einige ehemalige Aktivisten die Lesben- und Schwulenbewegung 1989 für gestorben.[12]

1990er Jahre

Vereinigte Staaten

Deutschland

Anfang der 1990er Jahre explodierten die Teilnehmerzahlen an den deutschen CSDs (in Berlin etwa 500.000 Personen). Gleichzeitig ging die aktive Beteiligung an klassischen politischen Emanzipationsgruppen drastisch zurück. Das Treffen Berliner Schwulengruppen (TBS), eine Art Arbeits-, Planungs- und Diskussionskreis politisch interessierter Schwulengruppen, löste sich auf. Die homosexuelle Subkultur war zur lesbisch-schwulen Szene geworden, die sich häufig auch als Community bezeichnete, und übernahm damit als Ganzes die Identität, die ursprünglich ein besonderes Merkmal politischer Emanzipationsgruppen war. Die Unterscheidung zwischen Subkultur und Bewegung verblasste dadurch zusehends, so dass heute beide Begriffe als antiquiert erscheinen. Die zahlreichen Gruppengründungen der frühen 1990er Jahre sind durch eine starke Ausdifferenzierung der Interessen gekennzeichnet. Sie reichen von Sport- und Jugendgruppen bis hin zu Migranten- und Menschenrechtsvereinen. Es entstand jedoch 1997 in Berlin der jährlich stattfindende Transgeniale CSD, welcher sich als politische Alternative zu den großen CSDs verstand.

Streit der Verbände um Lebensformenpolitik

Die politische Lesben- und Schwulenbewegung im engeren Sinne schmolz während der 1990er auf einzelne Verbände zusammen, die vorrangig das Ziel verfolgten, den Gesetzgeber in seiner Politik zu beeinflussen. Charakteristisch war hierfür besonders die Entstehung des Schwulenverbands in Deutschland (SVD). Im Februar 1990 als „Schwulenverband in der DDR“ gegründet, vertrat er ursprünglich den oppositionellen, der evangelischen Kirche nahestehenden Teil der Lesben- und Schwulenbewegung in der DDR. In den folgenden Monaten warb er zahlreiche ehemalige Mitglieder des West-Verbands BVH an und dehnte sich schließlich im Juni auf das gesamte wiedervereinigte Deutschland aus.

Differenzen zwischen den beiden Verbänden, SVD und Bundesverband Homosexualität (BVH), gab es vor allem um die Frage, ob man die Öffnung der Ehe für Lesben und Schwule fordern solle oder ob sich dies verbiete. Das vom BVH entworfene Konzept der „Notariell beglaubigten Partnerschaft“ wollte Verwandtschaftsrechte nicht mehr an eine bestimmte Lebensform binden. So sah das Konzept weder eine Beschränkung der Zahl noch des Geschlechts der Partner vor. Dem SVD wurde vorgeworfen, die bürgerliche Ehe kopieren zu wollen und die emanzipatorischen Prinzipien der Lesben- und Schwulenbewegung zu verraten. Demgegenüber sah es der SVD nicht als Aufgabe der Homosexuellen in ihrer Eigenschaft als sozialer Minderheit an, die Gesellschaft zu verändern. Anzustreben sei vielmehr eine Gleichstellungspolitik, die der Diskriminierung von lesbischen Bürgerinnen und schwulen Bürgern ein Ende bereite.

Im Laufe der 1990er Jahre geriet der BVH mit seiner Lebensformenpolitik zunehmend ins Abseits. Juristen zweifelten an der Realisierbarkeit seines Gesetzentwurfs, die Boulevardpresse adoptierte die zur „Homo-Ehe“ popularisierte Forderung des SVD, und die Grünen machten den SVD-Bundessprecher Volker Beck zu einem ihrer Kandidaten für den Bundestag. Aufgrund wachsender Bedeutungslosigkeit und interner struktureller Probleme löste sich der BVH 1997 auf.

Ein Jahr später bildete sich die Initiative „Beck ab!“, um die Wiederaufstellung von Volker Beck für den Bundestag zu verhindern.[13] Nach ihrem Scheitern entstand daraus das wissenschaftlich-humanitäre komitee (whk), das sich selbst nicht als Lesben- und Schwulenorganisation, sondern als linkes sexualemanzipatorisches Bündnis versteht. Seine konfrontativ angelegte Politik wirkte von Anfang an stark polarisierend auf die lesbisch-schwule Öffentlichkeit.

1999 wurde der SVD zum Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD) erweitert. Damit gab es für Lesben eine Alternative zum Lesbenring, der die Homo-Ehe aus feministischen Gründen ablehnte. Etwa zur selben Zeit stellte die parteilose Bundestagsabgeordnete Christina Schenk einen Antragsentwurf für eine rechtliche Entkernung der Ehe sowie „frei delegierbare Angehörigenrechte“ vor. Dieses Modell, das in der Lesben- und Schwulenbewegung unter dem Stichwort „Wahlverwandtschaften“ als Alternative zur Homo-Ehe gehandelt wurde, fand in der PDS-Fraktion, der Schenk angehörte, jedoch keine hinreichende Unterstützung und wurde daher nie auf parlamentarischer Ebene diskutiert.

Am Ende machte sich der Bundestag weder die Forderung des LSVD noch gar die seiner Gegner zu eigen. Mit Wirkung zum 1. August 2001 beschloss er stattdessen ein eigenes familienrechtliches Institut für Lesben und Schwule mit dem Namen „eingetragene Lebenspartnerschaft“, das rechtlich unterhalb der Ehe angesiedelt ist. Während der LSVD es gleichwohl als wichtigen Schritt in die richtige Richtung begrüßte, verhöhnten es seine Gegner als das „erste Sondergesetz für Homosexuelle seit der Abschaffung des Paragraphen 175“. In den folgenden Jahren trat der Verband für eine Angleichung der Eingetragenen Lebenspartnerschaft an die Ehe ein, was 2004 mit der Verabschiedung des „Lebenspartnerschaftsgesetz­überarbeitungsgesetzes“ partiell von Erfolg gekrönt war. In den folgenden Jahren erfolgte aufgrund verschiedener Urteile des Bundesverfassungsgerichtes die weitgehende Gleichstellung der Lebenspartnerschaften in Rechten und Pflichten zur Ehe.

Ebenso verabschiedeten die meisten Bundesländer Aktionspläne zur Bekämpfung von Homophobie, die unter anderem die altersgerechte und fächerübergreifende Aufnahme der sexuellen Vielfalt in die Bildungs- und Lehrpläne der Schulen zur Folge hatte.

Im Sommer 2017 gelang als weiterer Meilenstein in der Geschichte der Lesben- und Schwulenbewegung in Deutschland die parlamentarische Öffnung der Ehe in Deutschland, die zum 1. Oktober 2017 in Kraft trat.

Gegenwart

Im Gegensatz zu den emanzipatorischen Bewegungen der 1970er und -80er Jahre ist die lesbisch-schwule Bewegung heute eher an mehr Bürgerrechten und an einer weitgehenden Anpassung an bürgerliche Normen interessiert.

Afrika und Asien

Zum aktuellen Stand bzw. Einzelgeschehnissen rund um die Lesben- und Schwulenbewegung in afrikanischen und asiatischen Ländern siehe:

Literatur

  • Pat Califia: A Personal View of the History of the Lesbian S/M Community and Movement in San Francisco. In: Coming to Power: Writings and Graphics on Lesbian S/M. 3. Auflage. Alyson Publications, Boston 1987, ISBN 0-932870-28-7.
  • Pat Califia Robin Sweeney (Hrsg.): The Second Coming: A Leatherdyke Reader, Alyson Publications. 1996, ISBN 1-55583-281-4.
  • Susanna Jäger: Doppelaxt oder Regenbogen. Zur Genealogie lesbisch-feministischer Identität (= Perspektiven, Bd. 11). Tübingen Edition diskord, 1998, ISBN 3-89295-648-0.
  • Ina Kuckuc (Pseudonym von Ilse Kokula): Der Kampf gegen Unterdrückung. Materialien aus der deutschen Lesbierinnenbewegung. 4. Auflage. Verlag Frauenoffensive, München 1980, ISBN 3-88104-005-6.
  • Eric Marcus: Making History. The Struggle for Gay and Lesbian Equal Rights, 1945–1990; An Oral History. HarperCollins, New York 1993, ISBN 0-06-016708-4.
  • Lisa Power: No bath but plenty of bubbles. An oral history of the Gay Liberation Front 1970–73. Cassell, London 1995, ISBN 0-304-33195-3.
  • Bernhard Rosenkranz: Hamburg auf anderen Wegen – Die Geschichte des schwulen Lebens in der Hansestadt. Hamburg 2005, ISBN 3-925495-30-4.
  • Andreas Salmen, Albert Eckert: 20 Jahre bundesdeutsche Schwulenbewegung 1969–1989. Hg. v. Bundesverband Homosexualität, Köln 1989, DNB 891043861.
  • Samois: Coming to Power. Writings and Graphics on Lesbian S/M. 3. Auflage. Alyson Publications, Boston 1987, ISBN 0-932870-28-7.
  • Anke Schäfer, Kathrin Lahusen (Hrsg.): Lesbenjahrbuch 1. Rücksichten auf 20 Jahre Lesbenbewegung. Feministischer Buchverlag, Wiesbaden 1995, ISBN 3-922229-23-9.
  • Alice Schwarzer (Hrsg.): PorNo: die Kampagne, das Gesetz, die Debatte (= Emma Sonderbd. 5). EMMA Frauenverlag, Köln 1988, ISBN 3-922670-17-2.
  • Alice Schwarzer: Weiblicher Masochismus ist Kollaboration! In: EMMA. Bd. 2, 1991, ISSN 0721-9741
  • Schwules Museum u. a. (Hrsg.): Goodbye to Berlin? 100 Jahre Schwulenbewegung; eine Ausstellung des Schwulen Museums und der Akademie der Künste, 17. Mai bis 17. August 1997. Verlag Rosa Winkel, Berlin 1997, ISBN 3-86149-062-5.
  • Wolfram Setz (Hrsg.): Homosexualität in der DDR (= Bibliothek Rosa Winkel, Bd. 42). Männerschwarm Verlag, Hamburg 2006, ISBN 3-935596-42-1.
  • Donn Teal: The Gay Militants. How Gay Liberation Began in America, 1969–1971. Stein & Day, New York 1971, ISBN 0-312-11279-3.
  • Larry Townsend: The Leatherman’s Handbook: Silver Jubilee Edition. 6. überarbeitete Aufl. L.T. Publications, 2000, ISBN 1-881684-19-9.
  • Martina Weiland: Und wir nehmen uns unser Recht! Kurzgefaßte Lesbenbewegungsgeschichte(n) der 70er, 80er, 90er Jahre in West-Berlin, nicht nur für Berlinerinnen! In: Ihrsinn, Jg. 1994, Heft 10, S. 8–16.

Weblinks

Quellen

  1. a b Ulrike Repnik: Die Geschichte der Lesben- und Schwulenbewegung in Österreich (Feministische Theorie, Band 48). Milena Verlag, Wien 2006, ISBN 3-85286-136-5.
  2. Stefan Micheler: Zeitschriften, Verbände und Lokale gleichgeschlechtlich begehrender Menschen in der Weimarer Republik. S. 3, abgerufen am 16. August 2019.
  3. Carsten Balzer: Gender-Outwlaw-Triptychon. (PDF; 2,8 MB) – Eine ethnologische Studie zu Selbstbildern und Formen der Selbstorganisation in den Transgender-Subkulturen Rio de Janeiros, New Yorks und Berlins. Dissertation am Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften der Freien Universität Berlin, Oktober 2007.
  4. Raimund Wolfert: Gegen Einsamkeit und 'Einsiedelei'. Die Geschichte der Internationalen Homophilen Welt-Organisation. I. H. W. O. Männerschwarm, Hamburg 2009, ISBN 978-83-61719-44-1, S. 220.
  5. David Carter: Stonewall: The Riots that Sparked the Gay Revolution. St. Martin’s Press, 2004, ISBN 0-312-34269-1, S. 251.
  6. Georg Klauda: 30 Jahre Stonewall. Teil III (Memento des Originals vom 3. April 2005 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/gigi.x-berg.de
  7. Georg Klauda: 30 Jahre Stonewall. Teil IV (Memento des Originals vom 12. Februar 2005 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/gigi.x-berg.de
  8. Vgl. Jannis Plastargias: RotZSchwul. Der Beginn einer Bewegung (1971–1975). Querverlag, Berlin 2015, ISBN 978-3-89656-238-8, S. 10–24, 33 ff., 114 ff.
  9. Die Genehmigung der ersten Schwulendemo. Queer Communications GmbH. 15. August 2019. Abgerufen am 20. August 2019.
  10. B. Broermann / E. In het Panhuis: Münster 1972: Deutschlands erste Homosexuellen-Demo, Queer.de, 28. April 2022, abgerufen am 29. April 2022.
  11. Sebastian Haunss, Identität in Bewegung, VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2004, Abschnitt 9 (Schwulenbewegung), S. 211
  12. Die Tageszeitung: Epitaph auf die Schwulenbewegung, 8. August 1989
  13. whk: Die Beck ab!-Story