Indigene kleine Völker des russischen Nordens

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Indigene Völker des Nordens, Sibiriens und des Fernen Ostens

Die zahlenmäßig kleinen indigenen Völker des Nordens, Sibiriens und des Fernen Ostens (Коренные, малочисленные народы Севера, Сибири и Дальнего Востока) sind eine Kategorie indigener Völker in der Russischen Föderation, die laut Artikel 69 der russischen Verfassung besonderen Schutz genießen.[1]

Über die Zugehörigkeit einzelner ethnischer Gruppen zu dieser Kategorie bestimmt das so genannte Einheitliche Register indigener kleiner Völker Russlands (Jedinyj peretschen’ korennych malotschislennych narodow Rossii/Единый перечень коренных малочисленных народов России) vom 24. März 2000.

Unter die Kategorie fallen 44 indigene Völker mit jeweils weniger als 50.000 Angehörigen von den Samen der Halbinsel Kola im Westen bis zu den Tschuktschen und Yupik (Eskimo) im äußersten Fernen Osten. Größere Ethnien unter ihnen sind die Nenzen und Chanten Westsibiriens sowie die zwischen Westsibirien und Nordchina siedelnden Ewenken. Eines der kleinsten indigenen Völker Sibiriens sind die Enzen mit weniger als 200 Angehörigen. In der Ethnologie wird bisweilen eine Zusammenfassung zu den beiden Kulturarealen „Sibirien“ (Rentierhirten von Lappland bis etwa zur Kolyma) und „Paläo-Sibirien“ (vormalige Wildbeuter des fernen Nordostens) vorgenommen.

Die Gesamtzahl der Angehörigen dieser Völker beträgt etwa 270.000.[2]

Weitere Völker im asiatischen Teil Russlands, die sowohl über mehr Angehörige als auch über eigene Teilrepubliken innerhalb der Russischen Föderation verfügen, werden häufig ebenfalls als indigen bezeichnet, wobei dieser Status innerhalb Russlands umstritten ist. Zu ihnen gehören Tuwiner, Jakuten, Chakassen und Burjaten.

Sprachen

Einige der Sprachen der indigenen Völker des russischen Nordens gehören der uralischen Sprachfamilie an, und zwar ein Teil davon dem samojedischen Zweig und ein Teil dem finno-ugrischen, von dem die Chanten und die Mansen sprachlich die nächsten Verwandten der Ungarn sind.

Eine weitere Gruppe gehört der Familie der Turksprachen an, so etwa die Schoren, Teleuten, Kumandiner und Altaier.

Die Sprachen der Ewenen und Ewenken gehören zur tunguso-mandschurischen Sprachfamilie.

Die Sprachen der Tschuktschen, Itelmenen, Korjaken und einiger anderer Völker sind isolierte Sprachen, d. h. für sie hat kein Nachweis einer Verwandtschaft mit anderen lebenden Sprachen erbracht werden können. Sie werden als paläoasiatische Sprachen zusammengefasst.[3]

Rechtliche und politische Stellung

Ein Interesse des Staats an den kleinen Volksgruppen und ihrer Kultur zeigte sich namentlich in den frühen Jahren der Sowjetunion; 1926/27 unternahmen die sowjetischen Behörden den Versuch, einen Überblick über die Bewohner und Kulturen des Nordens von Sibirien zu gewinnen.[4] Schon bald darauf standen jedoch Maßnahmen zum Machterhalt des Sowjetsystems im Vordergrund.

Die heutigen Verhältnisse stellen sich wie folgt dar:

Artikel 69 der Verfassung der Russischen Föderation sagt:

„Die Rußländische Föderation garantiert die Rechte der kleinen Urvölker in Übereinstimmung mit den allgemein anerkannten Prinzipien und Normen des Völkerrechts und den völkerrechtliche Verträgen der Rußländischen Föderation.[5]

Das russische Gesetz „Über die Garantien der Rechte der kleinen indigenen Völker der russischen Föderation“ vom 30. April 1999 definiert die Völker des Nordens als

„Völker, die in den traditionellen Siedlungsgebieten ihrer Vorfahren auf traditionelle Weise leben, ihrer traditionellen Wirtschaftsweise nachgehen, innerhalb der Russischen Föderation nicht mehr als 50.000 Angehörige aufweisen und sich selbst als eigenständige Gemeinschaften verstehen.“

Damit sind vier verschiedene Aspekte berührt:

  1. Das Siedlungsgebiet
  2. die Lebensweise
  3. die Gruppengröße und
  4. das Selbstverständnis

Besonders problematisch ist nach Donahoe/Halemba[6] der Umstand, dass die russische Gesetzesnorm die indigenen Völker auf eine ausschließlich „traditionelle“ Lebensweise festlegt, ohne diesen Begriff in irgendeiner Weise zu bestimmen. Theoretisch wäre es demnach möglich, dass eine Person, indem sie einen urbanen Lebensstil annimmt, ihre Zugehörigkeit zu den indigenen Völkern des Nordens verliert. Ebenso könnte eine Auswanderung aus dem traditionellen Lebensraum dieselbe Konsequenz zeitigen. Klar im Widerspruch zur innerhalb der Vereinten Nationen anerkannten Definition des Begriffs ‚Indigene Völker‘ steht die zahlenmäßige Obergrenze von 50.000, die zwar Ergebnis historischer Entwicklungen ist, aber größere Ethnien, wie etwa Tuwiner, Burjaten und Jakuten willkürlich von der Anerkennung als „indigene Völker“ ausschließt.[6]

Während die russische Verfassung die speziellen Rechte und Privilegien indigener Völker nicht näher ausführt, ergibt sich aus den existierenden Bundesgesetzen eine Reihe von Privilegien für traditionell wirtschaftende indigene Gemeinschaften:

  • Befreiung von der Grundsteuer;
  • Recht auf Gründung von obschtschiny’ also indigener familien- oder stammesbasierter Gemeinschaftsunternehmen;
  • Privilegierter Zugang zu natürlichen Ressourcen (Wald, Wildtiere, Fischvorkommen);
  • Möglichkeit der Entschädigung für die Förderung von Bodenschätzen in ihren Gebieten;
  • Möglichkeit, einen Zivilen Ersatzdienst anstelle von Militärdienst zu leisten;
  • Möglichkeit der früheren Alterspension.[6]

Diese Privilegien sind jedoch durch eine Vielzahl neuerer Gesetzesinitiativen bedroht. Besonders im Konflikt mit indigenen Rechten steht der von Finanzminister German Gref betriebene wirtschaftsliberale Kurs. Die Revisionen der Boden- (semel’ny kodex/земельный кодекс), Forst- (lesnoi kodex / лесной кодекс) und Gewässerkodizes (Wodny kodex / водный кодекс) sehen langfristige Verpachtungen natürlicher Ressourcen und Ländereien an private Investoren vor und drohen indigene Kollektivwirtschaftsbetriebe in eine Lage zu bringen, in der sie dazu gezwungen sind, für die Nutzung ihrer traditionellen Lebensgrundlagen Marktpreise an den Staat zu bezahlen.[6][7][8]

Wichtigste politische Vertretung der indigenen Völker Sibiriens ist RAIPON mit Sitz in Moskau. Nominell sind alle Angehörigen der indigenen Völker des Nordens Mitglied dieser Organisation.

Ihr politischer Einfluss hält sich in engen Grenzen. Während noch im letzten Obersten Sowjet der Sowjetunion sowie in den ersten Staatsdumas der Russischen Föderation mehrere Vertreter der Nordvölker zu finden waren, so ist seit der Parlamentswahl von 2004 weder im Föderationsrat noch in der Staatsduma ein Angehöriger dieser Ethnien zu finden.

Vertreter RAIPONs fordern die Einrichtung einer Bundesbehörde, also etwa eines Ministeriums für indigene Völker. Der Erfolg ihrer Forderung ist jedoch sehr ungewiss.

Liste der kleinen indigenen Völker

Indigene kleine Völker des Nordens nach dem Einheitlichen Register der indigenen kleinen Völker Russlands von 2002[9]
Name Historischer Name Siedlungsgebiet (* = Ethnie siedelt nur in einzelnen Rajonen) Russische Bezeichnung Umschrift Eigenbezeichnung (nach [4]) Bevölkerung (nach der Volkszählung von 2002) Bevölkerung (nach der Volkszählung von 2010)
Aleuten Region Kamtschatka* алеуты aleuty Aleut, Unagan 540 482
Aljutoren Region Kamtschatka* алюторцы aljutorzy Alutal’u
Chanten Ostjaken Autonomer Kreis der Chanten und Mansen, Autonomer Kreis der Jamal-Nenzen, Oblast Tjumen*, Oblast Tomsk, Republik Komi ханты chanty Chanty, Chande, Kantek 28678 30943
Dolganen Region Krasnojarsk*, Sacha долгане dolgane Dolgan, Tyakixi 7621 7885
Ewenken Tungusen Sacha, Region Krasnojarsk*, Region Chabarowsk, Oblast Amur, Oblast Sachalin, Burjatien, Oblast Irkutsk, Region Transbaikalien, Oblast Tomsk, Oblast Tjumen эвенки ewenki Ewenk 35527 37843
Ewenen Lamuten Sacha, Region Chabarowsk, Oblast Magadan, Autonomer Kreis der Tschuktschen, Region Kamtschatka* эвены eweny Ewen 19071 22383
Enzen Region Krasnojarsk* энцы enzy 237 227
Eskimo Eskimo Autonomer Kreis der Tschuktschen, Region Kamtschatka* эскимосы eskimosy Yupik 1750 1738
Itelmenen Kamtschadalen Region Kamtschatka*, Oblast Magadan ительмены itel’meny Itel’men’, Ienm’m’i 3180 3193
Jukagiren Sacha, Oblast Magadan юкагиры jukagiry Odul, Wadul 1509 1603
Kamtschadalen Region Kamtschatka*, камчадалы kamtschadaly 2293 1927
Kereken Autonomer Kreis der Tschuktschen кереки kereki 8 4
Keten Jenissei-Ostjaken Region Krasnojarsk кеты kety Ket 1494 1219
Korjaken Region Kamtschatka*, Autonomer Kreis der Tschuktschen, Oblast Magadan коряки korjaki Verschiedene, u. a. Tschawtschyw, Tschaw’tschu (Rentierzüchter); нымылгын Nymylgyn (Bewohner); Nymylg - aremku (Nomade) 8743 7953
Kumandiner Region Altai, Republik Altai кумандинцы kumandinzy 3114 2892
Mansen Wogulen Autonomer Kreis der Chanten und Mansen, Oblast Tjumen*, Oblast Swerdlowsk, Republik Komi манси mansi Mansi 11432 12269
Nanai Golden Region Chabarowsk, Region Primorje нанайцы nanajzy Nanaj, Nani 12160 12003
Negidalen Region Chabarowsk негидальцы negidal’zy 567 513
Nenzen Samojeden Autonomer Kreis der Jamal-Nenzen, Autonomer Kreis der Nenzen, Oblast Archangelsk*, Region Chabarowsk*, Autonomer Kreis der Chanten und Mansen, Republik Komi ненцы nenzy 41302 44640
Nganasanen Tawgi-Samojeden Region Krasnojarsk* нганасаны nganasany nja-nganasa (mask.), nja-ny (fem.), nja-tansa (Volk)[10] 834 862
Niwchen Giljaken Region Chabarowsk, Oblast Sachalin нивхи niwchi Niwch 5162 4652
Oroken (Ulten) Oblast Sachalin ороки oroki Ul’ta 346 295
Orotschen Region Chabarowsk орочи orotschi 686 596
Samen Lappen Oblast Murmansk саами saami Sámi 1991 1771
Schoren Oblast Kemerowo, Chakassien, Republik Altai шорцы schorzy schor 13975 12888
Selkupen Autonomer Kreis der Jamal-Nenzen, Oblast Tjumen*, Oblast Tomsk, Region Krasnojarsk селькупы sel’kupy 4249 3649
Sojoten Burjatien сойоты sojoty 2769 3608
Tasen Region Primorje тазы tasy 276 274
Telengiten Republik Altai теленгиты telengity 2399 3712
Teleuten Oblast Kemerowo телеуты teleuty 2650 2643
Todscha-Tuwiner Tuwa тувинцы-тоджинцы tuwinzy-todschinzy tozhu (тожу) 4442 1858
Tofalaren Karagassen Oblast Irkutsk тофалары tofalary Tofa 837 762
Tschelkanen Republik Altai чельканцы tschel’kanzy 855 1181
Tschuwanen Autonomer Kreis der Tschuktschen, Oblast Magadan чуванцы tschuwanzy 1087 1002
Tschuktschen Autonomer Kreis der Tschuktschen, Region Kamtschatka* чукчи tschuktschi Lyg’oravetl’an 15767 15908
Tschulymer Oblast Tomsk, Region Krasnojarsk чулымцы tschulymzy Ijus Kižiler/pestyn Kižiler 656 355
Tubalaren Republik Altai тубалары tubalary 1565 1965
Udehe Region Primorje, Region Chabarowsk удэгейцы udegejzy Udee, Uddee, Udehe 1657 1496
Ultschen Region Chabarowsk ульчи ul’tschi 2913 2765
Wepsen Republik Karelien, Oblast Leningrad вепсы wepsy Weps’, Wepsja, Ljudinkad, Tjagalažet 8240 5936

Völker, die nicht im Register eingetragen sind

Organisationen

Russland

International

Siehe auch

Weblinks

Commons: Ethnische Gruppen in Russland – Sammlung von Bildern

Englisch:

Literatur

Einzelnachweise

  1. Kapitel 3. Föderativer Aufbau | Die Verfassung der Russischen Föderation. In: www.constitution.ru. Abgerufen am 11. Mai 2015.
  2. Johannes Rohr: Indigenous Peoples in the Russian Federation. Hrsg.: International Work Group for Indigenous Affairs (= IWGIA Report. Band 19). Copenhagen 2014, ISBN 978-87-92786-49-4, S. 69.[1]
  3. Eine knappe Übersicht findet sich in UNESCO red book of endangered languages: Northeast Asia[2]
  4. Polar Census 1926–1927
  5. Die Verfassung der Russischen Föderation, Kap. 3: Föderativer Aufbau, Art. 69 [3]
  6. a b c d Brian Donahoe / Agnieszka Halemba: Die indigenen Völker Sibiriens: Landrechte, Legalismus und Lebensstil, in infoeMagazin Nr. 19, S. 18–21
  7. Gulwaira Schermatowa: Privatisierung der Wälder: Neue Gesetzgebung in Russland. Rechte indigener Völker werden beschnitten. in: infoeMagazin 19, S. 30–31
  8. Die Landrechte sind die Schlüsselfrage, Interview mit Michail Todyschew, RAIPON, in: infoeMagazin 19, S. 36–38
  9. Ergebnisse der Volkszählung für die indigenen Völker des Nordens: Единый перечень коренных малочисленных народов Российской Федерации online (Memento vom 14. Oktober 2006 im Internet Archive) Ergebnisse der Volkszählung von 2010:Всероссийская перепись населения 2010: Том 4: Национальный состав и владение языками, гражданство: Национальный состав населения
  10. В.А. Тураев, Р.В Суляндзига, П. В. Суляндзига, В.Н. Бочарников: Энцыклопедия коренных, малочисленных народов Севера, Сибири и Дальнего Востока Российской Федерации. Москва 2005, S. 143
  11. L’auravetl’an Indigenous Information Network by Indigenous Peoples of Russia
  12. Batanifund.org Website (z. Z. nicht verfügbar)
  13. Indigene Volker Survival International