Judith Hermann
Judith Hermann (* 15. Mai 1970 in Berlin) ist eine deutsche Schriftstellerin.
Leben und Wirken
Judith Hermann wurde 1970 in Berlin-Tempelhof geboren und wuchs im Stadtteil Neukölln in einem Mietskasernenviertel auf.[1] Ihre Mutter sicherte beruflich als Angestellte im öffentlichen Dienst die Familie finanziell ab, während ihr Vater einem universitären Studium nachging und als Hausmann die drei Kinder großzog.[2] Nach dem Abitur begann Hermann ein Germanistik- und Philosophie-Studium mit der Absicht, als Journalistin zu arbeiten. Sie brach es ab, besuchte die Berliner Journalistenschule unter Dozent Alexander Osang, der ihr als Verfasserin von Reportagen mangelndes Talent bescheinigte,[3] und machte ein Praktikum in New York. Die Berliner Journalistenschule schloss Hermann mit einem Diplom ab. 1997 nahm sie an der Autorenwerkstatt Prosa im Literarischen Colloquium Berlin teil; im selben Jahr erhielt sie das Alfred-Döblin-Stipendium der Akademie der Künste in Berlin. Zwischendurch begleitete sie als Tour-Managerin eine Musikgruppe auf Tournee. In den USA schrieb sie ihre ersten literarischen Texte und entdeckte bald die Kurzgeschichte als ihr liebstes Genre. 1998 veröffentlichte sie schließlich ihren ersten Erzählungsband Sommerhaus, später, der im Feuilleton positive Kritiken erntete. Ihr Debüt-Roman Aller Liebe Anfang von 2014 erhielt dagegen schlechte Kritiken.
Nach ihrem ersten Erfolg verstrichen mehrere Jahre, in denen sie – nach eigener Aussage – lernen musste, mit dem Druck umzugehen, der durch Verlage, Medien und Öffentlichkeit auf sie ausgeübt wurde. 2003 folgte der zweite Erzählungsband Nichts als Gespenster.
Judith Hermanns Werke wurden unter anderem ins Chinesische, Dänische, Englische, Französische, Griechische, Isländische, Italienische, Japanische, Koreanische, Lettische, Niederländische, Norwegische, Persische, Polnische, Russische, Schwedische, Serbokroatische, Slowenische, Spanische, Tschechische, Türkische und Ukrainische übersetzt.
Sie ist Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland.
Hermann ist Mutter eines Sohnes und lebt in Berlin-Prenzlauer Berg.
„Sommerhaus, später“
Hermann gelang der literarische Durchbruch mit ihrem ersten Buch, dem Erzählungsband Sommerhaus, später. Gelobt wurden von der Kritik ihre in kurzen Sätzen gehaltenen, trotzdem unentschieden bleibenden Schilderungen alltäglicher und scheinbar alltäglicher Begebenheiten. Hermann skizziert in ihren melancholisch gefärbten kurzen Erzählungen die Stimmungen der Personen und die feinen Nuancen in wenigen Worten. Beeinflusst ist Hermann dabei von Raymond Carver, auf den sie sich in Interviews und Preisreden auch immer wieder bezogen hat.
Sommerhaus, später wurde von der Kritik überwiegend positiv aufgenommen. Vor allem zeigte sie sich davon begeistert, dass es Hermann gelang, in ihren Erzählungen das Lebensgefühl ihrer Generation, der Ende der 1990er in Berlin lebenden Künstler-Studenten-Arbeitslosen-Bohème, darzustellen. Für Hellmuth Karasek verkörperten Hermanns Erzählungen den „Sound einer neuen Generation“. Neben diesem Generationen-Effekt wurde ebenfalls konstatiert, dass Hermann eine Schriftstellerin sei, die Frauen aus ihrer Welt heraus erzählen lasse, ohne dass dies als gewollt-emanzipatorische oder gender-kämpferische Literatur verstanden werde. Hermann wurde zur Galionsfigur einer „Fräuleinwunder“-Literatur gemacht, zu der auch Erzählerinnen wie Jenny Erpenbeck, Felicitas Hoppe, Zoë Jenny, Juli Zeh oder Julia Franck gezählt wurden.
Als Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki in seiner Fernsehsendung Das Literarische Quartett das Buch wohlwollend besprach, entwickelte sich der Band zu einem Verkaufserfolg und musste wegen der steigenden Nachfrage in der Auflage nachgedruckt werden.[4] Wegen der Furcht vor einem vernichtenden Verriss über ihr Buch hat sich Judith Hermann die betreffende Ausgabe des Literarischen Quartetts nie angeschaut.
Hermanns handlungsarme, lakonische Kurzgeschichten führten zu einer Renaissance der Kurzgeschichte in Deutschland. Bis etwa 2002 oder 2003 wurden zahlreiche an Hermann erinnernde Erzählbände von Autorinnen veröffentlicht, so etwa von Ariane Grundies, Mariana Leky oder Ricarda Junge, häufig Absolventinnen des Deutschen Literaturinstituts Leipzig oder des Studiengangs Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus der Universität Hildesheim.
Mit über 250.000 verkauften Exemplaren und Übersetzungen in 17 Sprachen ist Sommerhaus, später einer der größten deutschen Bucherfolge der vergangenen Jahre.[5] Die Erzählung Hunter Tompson Musik aus Sommerhaus, später wurde von dem Regiestudenten Jakob Ziemnicki 2003 als Diplomarbeit verfilmt. Hurrikan aus dem Erzählband wurde in dem 2007 erschienenen Episodenfilm Nichts als Gespenster unter der Regie von Martin Gypkens verarbeitet, ebenso vier der Erzählungen aus Nichts als Gespenster (die Titelgeschichte Nichts als Gespenster und Freundinnen, Kaltblau und Acqua Alta).
„Nichts als Gespenster“
Judith Hermanns zweiter Erzählband, Nichts als Gespenster von 2003, entstand auch unter dem Druck, den Erwartungen des Feuilletons und der Leser nachzukommen und zugleich nicht selbst zur Epigonin ihres Erstlings zu werden. Sie schrieb für diesen Band deutlich längere Erzählungen, die in aller Welt spielen – dies unter anderem, um sich dem Klischee, eine „Berlin-Literatin“ zu sein, zu entziehen. Dabei ließ Judith Hermann sich von Reisen inspirieren, die sie für das Goethe-Institut nach Tromsø, Venedig und Island unternommen hatte.[6] Von der Kritik und vom Publikum wurde Nichts als Gespenster weniger begeistert als der Erstling aufgenommen.
Weitere Werke
Im Jahr 2021 veröffentlichte Hermann ihren zweiten Roman Daheim. Er handelt von einer Frau, die in ein Haus ans Meer zieht und versucht, an ihrem neuen Wohnort heimisch zu werden. Der Roman wurde für den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Belletristik nominiert.[7]
Auszeichnungen und Preise
- 1999: Bremer Literaturförderpreis
- 1999: Hugo-Ball-Förderpreis für Sommerhaus, später
- 2001: Kleist-Preis für Sommerhaus, später
- 2009: Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Bad Homburg
- 2014: Erich-Fried-Preis[8]
- 2021/2022: Frankfurter Stiftungsgastdozentur für Poetik[9]
- 2021: Rheingau Literatur Preis für Daheim
- 2022: Bremer Literaturpreis für Daheim
- 2022: Preis der LiteraTour Nord für ihr bisheriges Werk und für Daheim
Werke
Sammlungen von Kurzgeschichten
- Sommerhaus, später. Erzählungen. S. Fischer, 1998, ISBN 3-596-14770-0.[10]
- Nichts als Gespenster. Erzählungen. S. Fischer, 2003, ISBN 3-596-15798-6. (Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste im Jahr 2003)
- Alice. Erzählungen. S. Fischer, 2009, ISBN 978-3-10-033182-3.
- Lettipark. Erzählungen. S. Fischer, 2016, ISBN 978-3-10-403716-5.
Roman
- Aller Liebe Anfang. Roman, 2014, S. Fischer, ISBN 978-3-10-033183-0.
- Daheim. Roman, 2021, S. Fischer, ISBN 978-3-10-397035-7.
Einzelne Erzählungen und sonstiges
- Gaffa. Erzählung. In: Bella triste, Nr. 22, Hildesheim 2008.
- Sommerhaus, Canitz, später. In: Sprache im technischen Zeitalter, Nr. 145, Berlin 1998. (In-Progress-Version der Geschichte Sommerhaus später, an der Hermann in der Autorenwerkstatt Prosa des Literarischen Colloquiums Berlin arbeitete)
Literatur
Porträts von Judith Hermann
- Günter Kaindlstorfer: Tom Waits am Prenzlauer Berg. In: Format, Wien. 21. Dezember 1998.
- Iris Radisch: Berliner Jugendstil. In: Die Zeit, Nr. 6/2003.
Vergleichende Arbeiten, Einordnung in Genre und Einzelaspekte ihrer Arbeiten
- Magnus Schlette: Ästhetische Differenzierung und flüchtiges Glück. Berliner Großstadtleben bei T. Dückers und J. Hermann. In: Erhard Schütz, Jörg Döring (Hrsg.): Text der Stadt – Reden von Berlin. Literatur und Metropole seit 1989. Weidler, Berlin 1999, ISBN 3-89693-139-3, S. 71–94. (Vergleich mit Tanja Dückers)
- Christine Kanz: Kein bisschen aufgeregt? „Sonja“ von Judith Hermann. In: Christina Kalkuhl, Wilhelm Solms (Hrsg.): Lustfallen. Erotisches Schreiben von Frauen. Aisthesis, Bielefeld 2003, ISBN 3-89528-424-6, S. 127–130.
- Jörg Döring: Hinterhaus, jetzt – Jugend, augenblicklich – Hurrikan, später. Zum Paratext der Bücher von Judith Hermann. In: Fräuleinwunder literarisch. Literatur von Frauen zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Hrsg. von Christiane Caemmerer, Walter Delabar, Helga Meise. Lang, Frankfurt am Main u. a. 2005, ISBN 3-631-51120-5, S. 14–35.
- Gegenwartsliteratur: Germanistisches Jahrbuch, Nr. 5. Stauffenburg, Tübingen 2006, ISSN 1617-8491. Darin:
- Günter Blamberger: Poetik der Unentschiedenheit: Zum Beispiel Judith Hermanns Prosa. S. 186–206.
- Thomas Borgstedt: Wunschwelten: Judith Hermann und die Neuromantik der Gegenwart. S. 207–232.
- Eve Pormeister: „Zedern und Grillen wohin man sieht.“ Zur literarischen Gestaltung der Vergänglichkeit in Judith Hermanns Alice. In: Friederike Felicitas Günther, Torsten Hoffmann (Hrsg.): Anthropologien der Endlichkeit. Wallstein, Göttingen 2011, S. 279–296.
Weblinks
- Literatur von und über Judith Hermann im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Judith Hermann in der Internet Movie Database (englisch)
- Kommentierte Linksammlung der Universitätsbibliothek der FU Berlin (Memento vom 26. April 2014 im Internet Archive) (Ulrich Goerdten)
- Interpretationen und Werkverzeichnis im Autor*innenlexikon der Universität Duisburg-Essen/Fakultät für Geisteswissenschaften – Germanistik
- Kurzbiografie und Rezensionen zu Werken von Judith Hermann bei perlentaucher.de
- Autorenseite von Judith Hermann beim Verlag S. Fischer
- Lesungen mit Judith Hermann zum Anhören und Herunterladen auf Lesungen.net
Einzelnachweise
- ↑ Judith Hermann: „Der Erfolg hat mich vorsichtiger gemacht“. Radio-Interview mit Schriftstellerin Judith Hermann in der Sendung Zeitgenossen, 26. Dezember 2021, 45 Min. Moderation: Carsten Otte. Eine Produktion von SWR2
- ↑ Judith Hermann: „Der Erfolg hat mich vorsichtiger gemacht“. Radio-Interview mit Schriftstellerin Judith Hermann in der Sendung Zeitgenossen, 26. Dezember 2021, 45 Min. Moderation: Carsten Otte. Eine Produktion von SWR2
- ↑ Judith Hermann: „Der Erfolg hat mich vorsichtiger gemacht“. Radio-Interview mit Schriftstellerin Judith Hermann in der Sendung Zeitgenossen, 26. Dezember 2021, 45 Min. Moderation: Carsten Otte. Eine Produktion von SWR2
- ↑ Judith Hermann: „Der Erfolg hat mich vorsichtiger gemacht“. Radio-Interview mit Schriftstellerin Judith Hermann in der Sendung Zeitgenossen, 26. Dezember 2021, 45 Min. Moderation: Carsten Otte. Eine Produktion von SWR2
- ↑ Judith Hermann: „Der Erfolg hat mich vorsichtiger gemacht“. Radio-Interview mit Schriftstellerin Judith Hermann in der Sendung Zeitgenossen, 26. Dezember 2021, 45 Min. Moderation: Carsten Otte. Eine Produktion von SWR2
- ↑ Judith Hermann: „Der Erfolg hat mich vorsichtiger gemacht“. Radio-Interview mit Schriftstellerin Judith Hermann in der Sendung Zeitgenossen, 26. Dezember 2021, 45 Min. Moderation: Carsten Otte. Eine Produktion von SWR2
- ↑ Belletristik – Nominierungen für den Preis der Leipziger Buchmesse 2021. (Nicht mehr online verfügbar.) In: preis-der-leipziger-buchmesse.de. Archiviert vom Original am 15. September 2019; abgerufen am 13. April 2021. Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.
- ↑ Judith Hermann erhält Erich-Fried-Preis. In: derStandard.at. 10. September 2014, abgerufen am 7. Dezember 2015.
- ↑ Frankfurter Poetikvorlesungen – Ausblick. Goethe-Universität Frankfurt am Main, abgerufen am 14. Februar 2021.
- ↑ Gespräch zwischen Matthias Prangel und Judith Hermann über Sommerhaus, später.
Personendaten | |
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NAME | Hermann, Judith |
KURZBESCHREIBUNG | deutsche Schriftstellerin |
GEBURTSDATUM | 15. Mai 1970 |
GEBURTSORT | Berlin |