Kollektive Sicherheit
Kollektive Sicherheit bezeichnet in der Rechts- und Politikwissenschaft ein System von Sicherheit zwischen mehreren Staaten (vgl. Art. 24 Abs. 2 GG), das nach innen Wirksamkeit entfaltet und im Prinzip nicht gegen einen äußeren Feind gerichtet sein sollte. Normalerweise bezeichnet man damit ein universales Sicherheitssystem, etwa der Vereinten Nationen (UNO) oder des Völkerbundes, das die allgemeine und umfassende Abrüstung unter wirksamer internationaler Kontrolle ermöglichen soll. Zu diesem Zweck müssen die Staaten in einem längeren Prozess, der in der UN-Charta als Übergangszeit definiert ist, in Hoheitsbeschränkungen einwilligen. Die Errichtung eines universalen Systems der kollektiven Sicherheit im Rahmen der Vereinten Nationen konnte aufgrund der Blockierung durch einige Staaten, die traditionell und historisch der kollektiven Sicherheit und verbindlichen internationalen Rechtsprechung – die auch als Teil eines solchen umfassenden Systems gedacht ist – ablehnend gegenüberstehen, nicht realisiert werden.
Rechtlich
Das System kollektiver Sicherheit soll gemäß dem Grundsatz „Einer für alle, alle für einen“ den Weltfrieden sichern.
Im beschränkteren Sinne einigen die beteiligten Staaten sich lediglich auf eine friedliche Zusammenarbeit und definieren eine Liste der Verstöße dagegen, die entsprechend geahndet werden.
In der klassischen Bedeutung bezeichnet der Begriff also ein System mit universeller oder regionaler Reichweite, das jedem seiner Mitgliedsstaaten Schutz vor jedweder zwischenstaatlicher Aggression verspricht. Bei kollektiver Sicherheit in diesem Sinne handelt es sich um eine durch multilaterale Prinzipien gekennzeichnete Institution mit gleichen Rechten und Pflichten für die Mitgliedstaaten.
Kollektive Sicherheit beruht auf der Annahme, dass Frieden unteilbar ist und jedes Mitglied jedem anderen zu Hilfe kommen muss; mit diplomatischen Mitteln, durch Wirtschaftssanktionen und im Extremfall durch militärische Mittel. Ein potentieller Aggressor soll somit durch die Aussicht auf eine überlegene Gegenmacht abgeschreckt werden. Die herkömmliche Ansicht, die Vereinten Nationen würden kein universelles System kollektiver Sicherheit darstellen, da mit dem Vetorecht der Großmächte von vornherein auf einen solchen Anspruch verzichtet wurde, ist genauer betrachtet nicht haltbar. Kollektive Sicherheit im Rahmen der UN ist mit einem Souveränitätsverzicht bzw. einer Hoheitsübertragung zugunsten der Weltorganisation verbunden, ohne die Abrüstung und eine wirksame Friedenssicherung nicht möglich sind. Die Großmächte sollen dabei für die in der UN-Charta vorgesehene Übergangszeit nach Artikel 106 der Charta Sicherheitsgarantien übernehmen. Vor allem in diesem Zusammenhang ist das Konsensprinzip, dessen Kehrseite das Vetorecht ist, von Bedeutung. In einer sehr weiten Bedeutung wird kollektive Sicherheit allerdings heute auch im Sinne gemeinsamen Handelns von Staaten (Koalition der Willigen) in jenen Fällen verstanden, in denen international anerkannte Normen zwischen Staaten oder auch innerhalb von Staaten verletzt werden.
Historisch
Vor dem Ersten Weltkrieg glaubte man, dass man die Sicherheit eines Staates nur auf Kosten anderer Staaten erhöhen konnte, weil man glaubte, Sicherheit ließe sich nur durch militärische und politische Stärke erreichen. Der erste Versuch, der militärischen Friedenssicherung eine Absage zu erteilen und globale Rechtssicherheit durch verbindliche, internationale Schiedsgerichtsbarkeit zu erreichen, waren die Haager Friedenskonferenzen 1899 und 1907. Dieser Versuch scheiterte vor allem an Deutschland.
Seit dem Ersten Weltkrieg gibt es immer mehr Versuche durch internationale Kooperation, die Sicherheit aller Staaten einer Region gemeinsam zu erhöhen. Dies geschah etwa im Völkerbund. Ein wichtiges System regionaler, kollektiver Sicherheit waren die Verträge von Locarno. Auch Japan bemühte sich – wenngleich vergeblich – in den dreißiger Jahren Verbündete für ein „fernöstliches Locarno“, das heißt eine Sicherheitsgemeinschaft in Ostasien zu gewinnen. Ein weiteres wichtiges System kam nach 1934 zustande, als die Sowjetunion dem Völkerbund beitrat mit dem Ziel, gemeinsam mit Frankreich und England den Faschismus einzudämmen. Wegen gegenseitigen Misstrauens wurde dieses Ziel allerdings nicht erreicht.
Auch bei der Gründung der EWG war die Idee kollektiver Sicherheit ein wichtiger Impuls.
Als regionales System kollektiver Sicherheit für Europa gilt heute die OSZE.
Als europäische Weiterentwicklung dieses Systems kann das Konzept der Gemeinsamen Sicherheit gesehen werden.
Die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages (WD) betrachteten 2009 die Frage, ob die NATO als System der kollektiven Sicherheit anzusehen ist.[1]
Siehe auch
- Kollektive Verteidigung
- Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (militärisches Bündnis einiger Staaten der ehemaligen Sowjetunion)
Literatur
- Maurice Bourquin: Collective Security, A record of the Seventh and Eighth International Studies Conference. International Institute, Paris 1936.
- Knut Ipsen: Bündnisfall und Verteidigungsfall. In: Die öffentliche Verwaltung, Jg. 1971, S. 583–588.
- Sabine Jaberg: Kollektive Sicherheit: Mythos oder realistische Option? Hamburg 1999.
- Armin Kockel: Die Beistandsklausel im Vertrag von Lissabon. 2012.
- Nico Krisch: Selbstverteidigung und kollektive Sicherheit. Berlin 2001.
- Klaus Schlichtmann: Linking Constitutional Laws of Peace and Collective Security. In: Indian Journal of Asian Affairs, Vol. 17, No. 2 (Dezember 2004).
Einzelnachweise
- ↑ Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages Die NATO als System kollektiver Sicherheit? – Grundlagen und Positionen zu ihrer Weiterentwicklung, WD 2 – 3000 – 009/09, 27. Februar 2009.