Kurt Riezler

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Kurt Riezler (* 11. Februar 1882 in München; † 6. September 1955 ebenda) war ein deutscher Diplomat, Politiker und Philosoph. Als enger Vertrauter des Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg vor und im Ersten Weltkrieg verfasste er die sogenannten „Riezler-Tagebücher“, die als Quellenzeugnis in der einschlägigen Forschung zum Ersten Weltkrieg kontrovers diskutiert wurden.

Lebensweg und familiäres Umfeld

Die Familie Riezler stammt aus dem Gebirgsort Riezlern im Kleinwalsertal. Kurt Riezler war der Enkel von Joseph Riezler, dem Jüngeren der als Gebrüder Riezler bekannten Mitbegründer der Bayerischen Hypotheken- und Wechselbank, deren Vater als Händler ein Vermögen erworben, eine Erbin des Bankhauses Ruedorffer geehelicht hatte und sich in München niedergelassen hatte.

Kurt Riezlers Eltern waren der schon 1889 verstorbene katholische Kaufmann Heinrich Riezler und seiner Ehefrau Margarethe, geborene Heffner. Ihr Sohn Kurt besuchte in München das Luitpold-Gymnasium und das Theresien-Gymnasium und studierte dort bis zur wirtschaftsgeschichtlichen Promotion über Das zweite Buch der Pseudoaristotelischen Ökonomik bei Robert von Pöhlmann und Lujo Brentano 1905 Altertumswissenschaften und Philosophie.

Kurts Bruder Walter Riezler (1878–1965) war Archäologe und Musikwissenschaftler. Sein Onkel Sigmund von Riezler (1843–1927) war Professor für bayerische Geschichte an der Universität München, dessen Sohn Erwin Riezler (1873–1953) ebendort Jura-Professor, dessen Sohn Wolfgang Riezler (1905–1962) wiederum Professor für Kernphysik in Bonn.

Unter dem nach dem Namen seiner Urgroßmutter ausgewählten Pseudonym J. J. Ruedorffer veröffentlichte Kurt Riezler 1912 eine Theorie der Politik, 1914 die Schrift Grundzüge der Weltpolitik der Gegenwart und 1920 Die drei Krisen. Eine Untersuchung über den gegenwärtigen politischen Weltzustand.

Nach einer Weltreise war Riezler 1906 als Pressereferent ins Auswärtige Amt eingetreten und wurde nach Gesandtschaften, die ihn ab 1910 nach Ostasien, Stockholm und Moskau führten, 1915 Vortragender Rat in der Reichskanzlei unter Theobald von Bethmann Hollweg. Als dessen engster Berater verteidigte er die Kriegs- und Außenpolitik Wilhelms II. im Ersten Weltkrieg, etwa als Verfasser des Septemberprogramms. Riezler setzte sich unter anderem für die Förderung einer Revolutionierung Russlands ein, die mit der Unterstützung Lenins im Vorfeld der Oktoberrevolution auch erreicht wurde.

Nach dem Frieden von Brest-Litowsk wurde Riezler im April 1918 Botschaftsrat in Moskau. Sein Vorgesetzter war der Geschäftsträger, der am 2. April 1918 in Moskau eröffneten deutschen Botschaft, Wilhelm von Mirbach-Harff (1871–1918). Bei dem Attentat auf Mirbach-Harff am 6. Juli 1918 in dem Gebäude der deutschen Botschaft durch zwei linke Sozialrevolutionäre befand sich Riezler mit in dem Raum. Dabei wurde auch auf ihn und den Dolmetscher Müller geschossen. In den letzten Kriegswochen wechselte Riezler nach Berlin und arbeitete hier als Kabinettschef des letzten kaiserlichen Staatssekretärs des Auswärtigen Amtes, Wilhelm Solf. Nach Kriegsende wirkte er bis Juni 1919 als Vertreter der Reichsregierung bei der bayerischen Regierung unter Johannes Hoffmann in Bamberg maßgeblich an der Niederschlagung der Münchner Räterepublik mit. Von November 1919 bis April 1920 war er Leiter des Büros des Reichspräsidenten Friedrich Ebert und wurde im Zusammenhang damit zum Gesandten ernannt.

Im April 1920 zog sich Riezler, mittlerweile Mitglied der DDP, aus Protest gegen die Unterzeichnung des Versailler Vertrags aus der Politik zurück und wurde Privatgelehrter. Im Jahr 1928 wurde er geschäftsführender Vorsitzender des Kuratoriums der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt am Main und dort Honorarprofessor für Philosophie.

Bereits 1915 hatte Kurt Riezler Käthe Liebermann (1885–1952) geheiratet, die einzige Tochter des Malers Max Liebermann; sie hatten eine Tochter Maria (1917–1997). Die schon 1933 beginnenden Anfeindungen der Nationalsozialisten führten zu Riezlers Rücktritt während der „Schutzhaft“ am 1. April 1933. Unter dem Nazi-Regime wurde die Ehe mit der Jüdin und Nachfahrin einer Berliner jüdischen Industriellen-Familie als „Mischehe“ gebrandmarkt, Riezler im Januar 1934 die Lehrbefugnis entzogen. Danach aus Frankfurt wieder nach Berlin umgezogen, floh Riezler mit seiner Frau 1938 in die USA.

Nach der Emigration 1938 in die USA wurde Riezler Professor an der New School for Social Research in New York City, hatte daneben Gastprofessuren an der University of Chicago und der Columbia University inne. 1944 wurde er im Deutschen Reich ausgebürgert. 1954 kehrte er nach Europa zurück und siedelte sich in Rom an, hielt noch Gastvorlesungen an der Frankfurter Universität, starb aber bereits 1955 in München.

Riezler-Tagebücher und „Briefe an Käthe“

Die Riezler-Tagebücher genannten Notizen Riezlers aus der Zeit vor und während des Ersten Weltkrieges, die Karl Dietrich Erdmann 1972 herausgab, waren bereits vor ihrer Veröffentlichung eine umstrittene, aber wichtige Quelle für die deutsche Kriegszielpolitik im Ersten Weltkrieg und als solche unter anderem Gegenstand der Fischer-Kontroverse. Fritz Stern fasste die Bedeutung Riezlers und seiner Tagebücher in der Debatte der frühen 1960er-Jahre so zusammen:

„Bethmann und Riezler waren ein seltsames Gespann: der deutsche Kanzler von 1908 bis 1917 und ein brillanter junger Gelehrter, seiner Ausbildung nach Altphilologe, seiner Geistesart nach Philosoph und Moralist […]. Die Entdeckung des Riezler-Tagebuchs machte Historiker, mich eingeschlossen, begierig darauf, doch Erdmann beanspruchte die Exklusivrechte und verwehrte den Zugriff auf den vollständigen Text.“[1]

Der Konflikt um die Tagebuch-Edition setzte sich auch nach deren Erscheinen fort. 1983 stellten der Herausgeber Erdmann und sein Opponent Bernd Sösemann in zwei Aufsätzen in der Historischen Zeitschrift (HZ) die gesammelten Argumente beider Seiten vor.[2] Der Herausgeber der HZ, Theodor Schieder, schrieb in seiner Vorbemerkung:

„Die beiden folgenden Beiträge müssen im Zusammenhang mit der zuerst in dieser Zeitschrift wieder aufgenommenen Diskussion (Bd. 188, 191; 1959, 1960) über die Entstehung des I. Weltkriegs gesehen werden. Im Verlaufe dieser Diskussion ist dem Tagebuch Kurt Riezlers, des Beraters des Reichskanzlers Bethmann Hollweg, als wichtigem Quellenzeugnis besondere Aufmerksamkeit gewidmet worden, nachdem es durch die Veröffentlichung Karl Dietrich Erdmanns bekannt geworden war. Bernd Sösemann stellt in dem ersten der beiden Aufsätze die Authentizität dieser Aufzeichnungen Riezlers in Frage, Karl Dietrich Erdmann setzt ihm seine Argumente entgegen.“[3]

Zu den Problemen, die sich der Riezler-Forschung stellen, gehört vor allem, dass die ersten 30 Hefte des Tagebuchs, die sich auf den außenpolitisch hoch brisanten Zeitraum zwischen 1909 und dem Kriegsbeginn im August 1914 beziehen, vermutlich gerade zum Entstehungszeitpunkt der Fischer-Kontroverse durch Walter Riezler vernichtet worden sind, der seinen jüngeren Bruder Kurt um etwa ein Jahrzehnt überlebte. Zudem fehlen auch die auf den Juli und die erste Augusthälfte 1914 bezogenen ersten Seiten in Heft XXXI. Stattdessen gibt es dazu eine anderweitig abgelegte Darstellung Riezlers auf 19 losen Blättern, die als geglättete nachträgliche Neufassung der ursprünglichen Einträge gedeutet wurden und werden:

„Der Verdacht war nicht von der Hand zu weisen, dass es sich bei dieser Überarbeitung um einen Versuch Riezlers handeln könnte, die wahren Motive Bethmann-Hollwegs in der Juli-Krise 1914 zu verschleiern. Allerdings waren allein schon diese umgearbeiteten Aufzeichnungen für den Reichskanzler derart belastend, dass man sich nicht zu Unrecht fragte: Wie muss erst das Original ausgesehen haben?“[4]

Neuerlich bestätigt sieht John C. G. Röhl diese Lesart durch das Auffinden von rund 100 Briefen Riezlers an seine Verlobte Käthe Liebermann aus dem Zeitraum 17. August 1914 bis 1. Mai 1915, die von dem Soziologen Guenther Roth 2009 auf einem Speicher in Baltimore entdeckt wurden. Einen der Briefe Riezlers von Ende August 1914 zitiert Röhl mit der Aussage, dass Bethmann Hollweg doch ein „sehr guter Kopf“ sei; man müsse zugeben, „daß die Inszenierung sehr gut war. Im übrigen war der Krieg zwar nicht gewollt, aber doch berechnet und ist im günstigsten Moment ausgebrochen.“ Für Röhl lassen die Briefe insgesamt keinen Zweifel „an der Absicht der Reichsführung, den Krieg zu entfesseln, ‚um Deutschland an die erste Stelle zu bringen.’“[4]

Schriften (Auswahl)

  • Über Finanzen und Monopole im alten Griechenland. Berlin 1907 (Online).
  • Die Erforderlichkeit des Unmöglichen: Prolegomena zu einer Theorie der Politik und zu anderen Theorien. München 1913.
  • Grundzüge der Weltpolitik der Gegenwart. Stuttgart/ Berlin 1914.
  • Gestalt und Gesetz. Entwurf einer Metaphysik der Freiheit. München 1924.
  • Parmenides. Frankfurt am Main 1934.
  • Traktat vom Schönen. Zur Ontologie der Kunst. Frankfurt am Main 1935.
  • Physics and Reality. Lectures of Aristotle on Modern Physics at an International Congress of Science. New Haven (Connecticut) 1940.
  • Karl Dietrich Erdmann (Hrsg.): Kurt Riezler: Tagebücher, Aufsätze, Dokumente. Göttingen 1972. (mit Schriftenverzeichnis, S. 739–742).
    • Neuausgabe: Einleitung von Holger Afflerbach, Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2008, ISBN 978-3-525-35817-7.
  • Guenther Roth, John C. G. Röhl (Hrsg.): Aus dem Großen Hauptquartier. Kurt Riezlers Briefe an Käthe Liebermann 1914–1915. (= Kultur- und sozialwissenschaftliche Studien / Studies in Cultural and Social Sciences 15). Harrassowitz Verlag: Wiesbaden 2016. ISBN 978-3-447-10596-5 Rezension auf H-Soz-Kult.

Literatur

  • Bert Becker: Riezler, Kurt Karl Joseph Siegmund. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 21, Duncker & Humblot, Berlin 2003, ISBN 3-428-11202-4, S. 618 f. (Digitalisat).
  • Karl Dietrich Erdmann: Zur Echtheit der Tagebücher Kurt Riezlers. Eine Antikritik. In: Historische Zeitschrift. 236, 1983, Heft 2, S. 371–402.
  • Imanuel Geiss: Deutschland in der Weltpolitik des 19. und 20. Jahrhunderts. Fritz Fischer zum 65. Geburtstag. Bertelsmann Universitätsverlag, Düsseldorf 1973, ISBN 3-571-09198-1.
  • Andreas Hillgruber: Riezlers Theorie des kalkulierten Risikos und Bethmann-Hollwegs politische Konzeption in der Julikrise 1914. In: Historische Zeitschrift. 202, 1966.
  • Maria Keipert (Red.): Biographisches Handbuch des deutschen Auswärtigen Dienstes 1871–1945. Herausgegeben vom Auswärtigen Amt, Historischer Dienst. Band 3: Gerhard Keiper, Martin Kröger: L–R. Schöningh, Paderborn u. a. 2008, ISBN 978-3-506-71842-6, S. 674–676.
  • Wolfgang J. Mommsen: Kurt Riezler, ein Intellektueller im Dienst Wilhelminischer Machtpolitik. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht. 25, 1974.
  • Riezler, Kurt, in: Werner Röder; Herbert A. Strauss (Hrsg.): International Biographical Dictionary of Central European Emigrés 1933-1945. Band 2,2. Saur, München 1983, S. 971.
  • Bernd F. Schulte: Die Verfälschung der Riezler Tagebücher. Ein Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte der 50er und 60er Jahre. Peter Lang, Bern/ Frankfurt/ New York 1985, ISBN 3-8204-8057-9.
  • Bernd Sösemann: Die Tagebücher Kurt Riezlers. Untersuchungen zu ihrer Echtheit und Edition. In: Historische Zeitschrift. 236, 1983, Heft 2, S. 327–369.
  • Wayne C. Thompson: In the Eye of the Storm. Kurt Riezler and the Crises of Modern Germany. Iowa City 1980, ISBN 0-87745-094-3.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Fritz Stern: Fünf Deutschland und ein Leben. Erinnerungen. Beck, München 2007, ISBN 978-3-406-55811-5, S. 303–304.
  2. Bernd Sösemann: Die Tagebücher Kurt Riezlers. Untersuchungen zu ihrer Echtheit und Edition. In: Historische Zeitschrift. 236, 1983, Heft 2, S. 327–369. Karl Dietrich Erdmann: Zur Echtheit der Tagebücher Kurt Riezlers. Eine Antikritik. In: Historische Zeitschrift. 236, 1983, Heft 2, S. 371–402.
  3. Theodor Schieder: Vorbemerkung. In: Historische Zeitschrift. 236, 1983, Heft 2, S. 327.
  4. a b John C. G. Röhl: Brisante Briefe an Käthe. Wie begann der Erste Weltkrieg? Ein Fund aus dem Nachlass des Berliner Insiders Kurt Riezler wirft ein neues Licht auf die treibende Kraft des Reichskanzlers Bethmann Hollweg in der Julikrise 1914. In: Die Zeit, 9. April 2015, S. 17.