Ljudmila Jewgenjewna Ulizkaja

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Ljudmila Ulizkaja im März 2014 beim Antikriegs-Kongress in Moskau

Ljudmila Jewgenjewna Ulizkaja (russisch Людмила Евгеньевна Улицкая, wiss. Transliteration

Ljudmila Evgen'evna Ulickaja

, in Deutschland auch in der Schreibung Ulitzkaja; * 21. Februar 1943[1] in Dawlekanowo, Baschkirien) ist eine russische Schriftstellerin, die die russische und die jüdische Erzähltradition mit moderner Erzählkunst zusammenführt.[2]

Ulizkaja engagiert sich in der Opposition gegen Präsident Putin.

Leben

Ljudmila Ulizkaja wuchs ab Ende 1943 in Moskau in einer jüdischen Familie auf. Sie absolvierte ein Biologiestudium an der Lomonossow-Universität mit einem Abschluss in Genetik und arbeitete ab 1967 als Genetikerin am Akademie-Institut in Moskau, wurde aber wegen der illegalen Abschrift und Verbreitung von Samisdat-Literatur entlassen. Danach war sie zwei Jahre am Jüdischen Kammermusiktheater als literarische Beraterin tätig, bevor sie sich als freischaffende Autorin und Publizistin etablieren konnte. 1983 wurde ihr erster Erzählband im Staatlichen Kinderbuchverlag veröffentlicht. Mit der Veröffentlichung von Sonetschka (1992) wurde Ljudmila Ulizkaja als Prosaautorin entdeckt; im selben Jahr erschien auch ihre erste Erzählung in Deutschland, wo ihr Werk vor allem in Fernsehsendungen von Elke Heidenreich einem breiteren Publikum bekannt gemacht wurde. Ljudmila Ulizkajas Bücher sind in 17 Sprachen übersetzt worden. Sie lebt und arbeitet in Moskau.

Im Jahr 2012 war sie an den Protesten gegen Präsident Putin beteiligt.[3] Im Jahr 2014 beklagte sie die „beispiellose Manipulation“ der Öffentlichkeit durch die Propaganda, deren Lügen alle Rekorde brächen.[4]

„Mein Land krankt an aggressiver Unbildung, Nationalismus und imperialer Grossmannssucht. Ich schäme mich für mein ungebildetes und aggressives Parlament, für meine aggressive und inkompetente Regierung, für die Staatsmänner an der Spitze, Möchtegern-Supermänner und Anhänger von Gewalt und Arglist, ich schäme mich für uns alle, für unser Volk, das seine moralische Orientierung verloren hat. Leb wohl, Europa, ich fürchte, wir werden nie zur europäischen Völkerfamilie gehören.“

Der russische Staat als Krebsgeschwür, NZZ. 6. September 2014

Am 28. April 2016 wurde sie Opfer einer Seljonka-Attacke, ausgeführt von Mitgliedern der „Nationalen Befreiungsbewegung“. Ulizkaja meinte dazu, dass diese „armen, unglücklichen und manipulierten Idioten“ im Dienste des Kremls stünden.[5]

Im Februar 2022 unterzeichnete sie einen Appell mehrerer Dutzend russischer Künstler und Schriftsteller, in dem der Überfall der russischen Streitkräfte auf die Ukraine als „Schande“ bezeichnet und ein sofortiges Ende der Kämpfe gefordert wurde.[6] Sie schrieb selber dazu:

„Der Wahnsinn eines Mannes und seiner treuen Helfer lenkt das Schicksal des Landes. Man kann nur darüber spekulieren, was in fünfzig Jahren darüber in den Geschichtsbüchern geschrieben wird. Schmerz, Angst, Scham – das sind die Gefühle von heute. Scham, weil die Verantwortung der Führung unseres Landes bei der Schaffung dieser Situation, die mit großen Katastrophen für die ganze Menschheit behaftet ist, offensichtlich ist. Es ist notwendig, (...) den Propagandalügen entgegenzutreten, die von allen Medien über unsere Bevölkerung ausgegossen werden.“

Schmerz. Furcht. Scham., Nowaja Gaseta, 25. Februar 2022[7]

Seit Anfang März 2022 hält sich Ulizkaja in Berlin auf.[8]

Ulizkaja ist in der dritten Ehe mit dem Bildhauer Andrei Nikolajewitsch Krassulin verheiratet.

Werk

Ljudmila Ulizkaja im März 2014 beim Antikriegs-Kongress in Moskau

In ihren Erzählungen sind Alltagshelden durch Schicksalsfäden aufs Engste miteinander verbunden. Sie leben in einem Durcheinander aus Leidenschaft und Grausamkeit des Alltags und sie vergraben sich in ihr Leben. Die Schicksalsfäden entwirren sich, wenn die Geschichten vorwärts und rückwärts zergliedert werden. In der Literaturwissenschaft wird versucht, Ulizkajas Werke einem Genre zuzuordnen, was die Autorin kommentiert mit: „Sollen sie halt!“[9]

Ulizkaja wird als eine unbestechliche Autorin gewürdigt. Auf eindringliche Weise führe sie die russische und die jüdische Erzähltradition mit moderner Erzählkunst zusammen, so heißt es in der Begründung für die Auszeichnung mit dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur[2], der jährlich für das literarische Gesamtwerk einer europäischen Autorin bzw. eines Autors vergeben wird.[10]

In ihrem Roman Daniel Stein (2010) setzte Ulizkaja die historische Vorlage des Lebens von Daniel Rufeisen in Form einer literarischen Collage um. Im Vorwort schreibt Ulizkaja: „Im Buch werden zahlreiche Dokumente zitiert, einige davon habe ich erfunden. Mir war es wichtiger, der literarischen Wahrhaftigkeit zu folgen als der historischen Wahrheit.“[11]

Ljudmila Ulizkaja 2009 als Ehrengast beim 16. Internationalen Bücher festival, Millenáris, Budapest

Buchpublikationen

  • 1992: Сонечка / Sonečka.
    • deutsch: Sonetschka: eine Erzählung. Berlin 1992.
  • 1996: Медея и ее дети / Medeja i eë deti.
    • deutsch: Medea und ihre Kinder. Berlin 1997.
  • 1998: Веселые похороны / Vesëlyje pochorony.
    • deutsch: Ein fröhliches Begräbnis. Berlin 1998.
  • 2000: Казус Кукоцкого / Kazus Kukockogo. EKSMO, Moskau
    • deutsch von Ganna-Maria Braungardt: Reise in den siebenten Himmel. Volk und Welt, Berlin 2001, ISBN 3-353-01183-8. (auch: btb-Verlag, München 2003, ISBN 3-442-72828-2)
  • 2003: Сквозная линия / Skvoznaja linija.
    • deutsch: Die Lügen der Frauen. München / Wien 2003./ Taschenbuch: dtv, München 2005, ISBN 978-3-423-13372-2.
  • 2003: Детство сорок девять / Detstvo sorok devjať.
    • deutsch: Ein glücklicher Zufall und andere Kindergeschichten. München / Wien 2005.
  • 2004: Искренне Ваш Шурик / Iskrenne Vaš Šurik.
    • deutsch: Ergebenst, euer Schurik. Hanser, München / Wien 2005, ISBN 978-3-446-20665-6; Taschenbuch: dtv, München 2008, ISBN 978-3-423-13626-6.
  • 2006: Даниэль Штайн, переводчик / Daniėľ Štajn, perevodčik.
    • deutsch: Daniel Stein. Hanser, München 2009, ISBN 978-3-446-23279-2; Taschenbuch: dtv, München 2011, ISBN 978-3-423-13948-9.
  • 2009: Maschas Glück. dtv, München 2009, ISBN 978-3-423-13809-3.
  • 2010: Зеленый шатер / Zelënyj šatër
    • deutsch: Das grüne Zelt. Hanser, München 2012, ISBN 978-3-446-23987-6; Taschenbuch: dtv, München 2014, ISBN 978-3-423-14338-7.
  • 2012: Священный мусор / Svjaščennyj musor,
    • deutsch: Die Kehrseite des Himmels, übers. von Ganna-Maria Braungardt, Hanser, München 2015, ISBN 978-3-446-24728-4; Taschenbuch: dtv, München 2016, ISBN 978-3-423-14514-5.
  • 2015: Лестница Якова Lestniza Jakowa, 2015, ISBN 978-5-17-093650-2.
    • deutsch von Ganna-Maria Braungardt: Jakobsleiter. Hanser, München 2017, ISBN 978-3-446-25653-8; Taschenbuch: dtv, München 2020, ISBN 978-3-423-14753-8.
  • 2020: Просто чума, Moskau 2020
    • deutsch von Ganna-Maria Braungardt: Eine Seuche in der Stadt. Szenario. Hanser, München 2021. ISBN 978-3-446-26966-8.
  • 2022: O tele dushi, Moskau 2019
    • deutsch von Ganna-Maria Braungardt: Alissa kauft ihren Tod. Erzählungen. Hanser, München 2022. ISBN 978-3-446-26965-1.

Autobiografische Texte

Auszeichnungen (Auswahl)

Rezensionen und Sekundärliteratur in deutscher und englischer Sprache

Ljudmila Ulizkaja im Februar 2012 am Mikrofon während der Kundgebung auf dem Bolotnaya-Platz in Moskau

(Jüngste zuerst)

Einzelnachweise

  1. http://www.peoples.ru/art/literature/prose/roman/ulitskaya/
  2. a b Österreichischer Staatspreis für Ljudmila Ulitzkaja, derstandard.at, 23. April 2014
  3. Speichelleckerei liegt wieder in der Luft, Ljudmila Ulitzkaja im Gespräch mit Herwig Höller, derstandard.at, 19. Oktober 2012
  4. Ludmila Oulitskaïa: «Les dissidents de la période soviétique sont aujourd'hui présentés comme des démons», Le Monde, 11/12. Juni 2014
  5. Ljudmila Ulizkaja: Russlands Gesellschaft kann explodieren, DW, 18. Mai 2016
  6. Thunberg demonstriert vor russischer Botschaft in Stockholm spiegel.de, 25. Februar 2022.
  7. Aufgrund des neuen Zensurgesetzes musste die NG den Text von ihrer Webseite entfernen. Er ist aber auch auf Russisch weiter z.B. beim Nachrichtenportal des litauischen öffentlich-rechtlichen Rundfunks LRT verfügbar: Боль. Страх. Стыд., 27. Februar 2022.
  8. Russian author Ulitskaya warns of 'terrible' consequences of war. DW, 1. April 2022
  9. a b Manuel Schilcher & Bernhard Seyringer: Editorial, In: Ljudmila Ulitzkaja. „Ich kann Politik überhaupt nicht leiden, aber die Situation zwingt mich dazu, politisch zu sein.“ = Xing – ein Kulturmagazin, Heft 23, 2012
  10. Österreichischer Staatspreis für Europäische Literatur (Memento vom 7. Januar 2018 im Internet Archive), abgerufen am 4. Februar 2015
  11. Ljudmila Ulitzkaja: Daniel Stein. Roman. Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt. Hanser, München 2009, ISBN 978-3-446-23279-2, Seite 7.
  12. Siegfried Lenz Preis 2020 an Ljudmila Ulitzkaja (Memento des Originals vom 15. Juni 2020 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.siegfriedlenz-stiftung.org
  13. MHG gibt Namen der Preisträger des Preises der Moskauer Helsinki-Gruppe für 2021 bekannt (russ.)
  14. Daniel Stein, Interpreter, by Ludmila Ulitskaya, Complete Review

Weblinks