Mittelniederdeutsche Sprache

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Mittelniederdeutsch
Zeitraum 1150 oder 1200 – 1600
Linguistische
Klassifikation
Sprachcodes
ISO 639-3 gml (von englisch
German Middle Low
)

Die mittelniederdeutsche Sprache ist ein historisches Entwicklungsstadium des Niederdeutschen, das vor allem im Norden Deutschlands gesprochen, aber v. a. im Ostseeraum auch überregionale Verbreitung als Handels- und Verkehrssprache genoss (Hansesprache). Sie hat sich aus der altsächsischen Sprache im Mittelalter entwickelt, ist seit dem 13. Jh. schriftlich belegt und wurde bis in das 17. Jh. hinein geschrieben. Zu den frühen Schriftzzeug gehört der Sachsenspiegel (1225/34), zu den letzten die Gedichte von Johann Lauremberg (gest. 1658).

Aus dem Mittelniederdeutschen ist das moderne Niederdeutsche hervorgegangen.

Das Kerngebiet des Mittelniederdeutschen umfasste Norddeutschland und den Nordosten der heutigen Niederlande. Insbesondere ist es vom Mittelniederländischen westlich der IJssel klar abzugrenzen, das nah verwandt ist und vereinzelt (aber fälschlich) zu einem „Mittelniederdeutschen im weiteren Sinne“ hinzugezählt wurde. Diese geographische Abgrenzung ist Grundlage der größeren Darstellungen des Mittelniederdeutschen (etwa Lübben und Lasch).[1]

Verbreitung, Einfluss und Ausklang

Die mittelniederdeutsche Sprache war in der Hansezeit von etwa 1300 bis ca. 1600 n. Chr. die führende Schriftsprache im Norden Mitteleuropas und diente als Lingua franca in der Nordhälfte Europas. Sie wurde parallel zum Latein auch für Zwecke der Diplomatie und für Urkunden verwendet. So wurden der größte Teil des Schriftverkehrs der Hanse in Mittel- und Nordeuropa auf mittelniederdeutsch durchgeführt. Mittelniederdeutsche Urkunden gibt es von London im Westen bis Nowgorod im Osten und Bergen im Norden bis Westfalen im Süden. Auch in Visby auf Gotland, Riga, Reval und Dorpat wurde mittelniederdeutsch kommuniziert. So existiert noch ein handschriftliches Wörterbuch Mittelniederdeutsch-Russisch des Tönnies Fonne von 1607 in der Dänischen Königlichen Bibliothek in Kopenhagen.

Insbesondere aus dieser Zeit resultiert ein erheblicher Einfluss des Niederdeutschen auf die skandinavischen Sprachen Norwegisch, Dänisch und Schwedisch, der durch zahlreiche Lehnwörter gekennzeichnet ist. Manche Skandinavisten meinen, rund die Hälfte oder noch mehr des schwedischen Wortschatzes habe niederdeutsche Prägung.[2] Hierbei handelt es sich oftmals um Begriffe aus Verwaltung (schw. borgmästare „Bürgermeister“), Handel (schw. köpman „Kaufmann“), Handwerk (schw. skorstensfejare „Schornsteinfeger“) und Ritterwesen (fru, riddare), jedoch auch um Alltagswörter (schw. bliva „bleiben, werden“)[2] und sogar Funktionsworte wie z. B. Pronomen (dän. hvilken, schw. vilken „welcher“[3], schw. sadan „solch“ < nd. so dan „so getan“) oder Konjunktionen (schw. men „aber“).[2] Bis auf Schmied, Bäcker und Schornsteinfeger gehen nach Korlen (1977) sämtliche schwedischen Handwerkerbezeichnungen auf mnd. Vorbilder zurück.[3] Des Weiteren bestehen Einflüsse im Bereich der Wortbildung und Syntax.[2] Enge Beziehungen bestanden auch im Bereich der Literatur und Dichtung, beispielsweise beruht die norwegische Thidrekssaga (13. Jh.) nach eigener Auskunft auf „(nieder)deutschen“ und „sächsischen“ Vorlagen.[4]

Die mittelniederdeutsche Schreibtradition endete im Wesentlichen um die Mitte des 16. Jh., bedingt durch den Niedergang der Hanse, der Durchsetzung hochdeutscher (mitteldeutscher) Kanzleisprachen in Norddeutschland sowie der Verbreitung der hochdeutschen Bibelübersetzung Luthers im Rahmen der Reformation. Obgleich die erste vollumfängliche Veröffentlichung von Luthers Bibelübersetzung tatsächlich in mittelnederdeutscher, nicht in hochdeutscher Sprache erfolgte (Lübecker Bibel, 1533/34, übertragen von Johannes Bugenhagen, genannt „Dr. Pomeranus“) und weitere niederdeutsche Bibeln bis 1615 gedruckt wurden[5], wirkte Luthers mitteldeutsche Übersetzung in der Folge normativ. Mittelniederdeutsche Texte des 16. Jh. wurden noch bis in das 18. Jh. weiter herausgegeben (so etwa Reineke de Voss mit eener vorklaring der olden Sassischen Worde. Gedrucket to Eutin 1797, dorch Bened. Christ. Struve, Hofboekdrücker[6]). Zu den letzten noch als mittelniederdeutsch anzusprechenden (allerdings bewusst archaisierende) Neudichtungen könnte Hennynk de Han (Minden 1732) zählen, eine Fortsetzung von Reineke de Voss, die gezielt dessen Sprache nachahmt.[7]

Vor Beginn der neuniederdeutschen (plattdeutschen) Mundartliteratur seit dem späten 18. Jh. liegen nur wenige Schriftzeugnisse vor, die teilweise als „Frühneuniederdeutsch“ bezeichnet werden[8] und den Übergang zwischen dem Mittelniederdeutschen und dem modernen Niederdeutschen dokumentieren. Diese beinhalten u. a. Anekdoten, Scherz- und Hochzeitsgedichte.[9] Teilweise stehen diese noch in mittelniederdeutscher Schrifttradition, indem sie bewusst auf Regionalismen verzichten (etwa die Schriften von Johann Lauremberg, gest. 1658), die Gelegenheitsgedichte dieser Zeit zeigen aber bereits (und oft erstmals) sprachliche Merkmale der späteren neuniederdeutschen Dialekte. Caspar Abel verarbeitete das Absterben der (mittel)niederdeutschen Schrifttradition in Die hülflose Sassine (1735/36) literarisch.[10]

Regionale Ausprägungen der Schriftsprache

Die frühen mittelniederdeutschen Texte waren noch deutlich von der gesprochenen Sprache geprägt. Dort kamen verkürzte, mündliche Formen vor wie semme (statt sineme, „seinem“), sir (statt siner, „seiner“), eyr (statt einer, „einer“). Diese Texte waren landschaftlich geprägt, gaben aber keinen Dialekt wieder. In der späteren Schriftsprache versuchten die Schreiber, diese verkürzten Formen zu vermeiden und etymologisch korrektere Formen zu verwenden.[11]

Im 15. und im frühen 16. Jahrhundert übte durch die Devotio moderna das östliche Mittelniederländisch Einfluss aus auf das münsterländische schriftliche Mittelniederdeutsch.[11]

Im Westfälischen und im Ostfälischen gab es mitteldeutsche Einflüsse, besonders im Elbostfälischen. Das Hochdeutsche muss den dortigen Schreibern geläufig gewesen sein.[11]

Manche Sprachwissenschaftler nehmen an, dass vom südlichen Ostfälisch aus schreibsprachliche Einflüsse auf das übrige Ostfalen ausgegangen sind. Das südliche Ostfalen gilt als das stärkste geistige Zentrum des frühen Mittelniederdeutschen.[11]

Ab der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts wird das geschriebene Mittelniederdeutsch zunehmend einheitlicher. Diese mittelniederdeutsche Schriftsprache ist aus dem damaligen Ostniederdeutschen entstanden und wurde besonders durch Lübeck geprägt. Diese überregionale Schriftsprache setzt eine überregionale mündliche Verkehrssprache voraus, die nicht erhalten ist, aber angenommen werden muss.[11] Andererseits wurde diese Theorie nie bewiesen, und in westfälischen Städten (wie Herford, Münster und Osnabrück) wurde nur ein sehr geringer Einfluss aus Lübeck nachgewiesen.[12]

Grammatik

Sprachdenkmäler

Lübecker Bibel (1494), letzte Seite mit Druckvermerk

Neben den mittelniederdeutschen Urkunden stellen insbesondere folgende Werke wichtige Sprachdenkmäler der mittelniederdeutschen Sprache dar:

Wörterbücher

Der Wortschatz des Mittelniederdeutschen wird beschrieben im Mittelniederdeutschen Wörterbuch von Karl Schiller und August Lübben, im Mittelniederdeutschen Handwörterbuch von August Lübben und Christoph Walther und in einem anderen Mittelniederdeutschen Handwörterbuch.

Siehe auch

Quellen

  1. Jan Goossens: Niederdeutsche Sprache : Versuch einer Definition. In: Jan Goossens (Hrsg.): Niederdeutsch : Sprache und Literatur. Karl Wachholtz, Neumünster 1973, S. 9–27.
  2. a b c d KORLEN, G. (1977). Niederdeutsch-schwedische Lehnbeziehungen. SPRACHWANDEL UND SPRACHGESCHICHTS SCHREIBUNG, 285.
  3. a b Deutsch-nordischer Lehnwortaustausdi. In: Wortgeographie und Gesellschaft. De Gruyter, 1968, ISBN 978-3-11-081796-6, S. 607–623, doi:10.1515/9783110817966-022 (degruyter.com [abgerufen am 6. September 2022]).
  4. "Diese Saga ist zusammengesetzt nach der Erzählung deutscher Männer ... Und wenn du einen Mann aus jeder Burg in ganz Sachsland nimmst, so werden alle diese Saga auf dieselbe Weise erzählen" (Raszmann, A. (1858). Die Sage von den Wölsungen und Niflungen: Den Wilcinen und König Thidrek von Bern in der Thidrekssaga. Rümpler, S. 2) Inwiefern damit tatsächlich originär niederdeutsche oder nicht eher (oder zumindest auch) hochdeutsche Vorlagen gemeint sind, ist in der Forschung umstritten, und wird v. a. deswegen bezweifelt, dass mnd. Heldenepik ansonsten kaum belegt ist. Dass eine solche jedoch zumindest in späterer Zeit existierte, belegt z. B. das Lied von Ermenrichs Tod. Dass daneben hochdeutsche Lieder auch spontan ins Niederdeutsche übertragen wurden, belegt z. B. ein mnd. Fragment des Hürnen Seyfrit aus Livland, vgl. Jürgen Beyer, John L. Flood (2000): Siegfried in Livland? Ein handschriftliches Fragment des "Liedes vom Hürnen Seyfrid" aus dem Baltikum. In: Lied und populäre Kultur / Song and Popular Culture. Band 45, 2000, ISSN 1619-0548, S. 35–71, doi:10.2307/849573 (jstor.org [abgerufen am 7. September 2022]).
  5. NIEDERDEUTSCHE BIBELN - ONLINE. Abgerufen am 7. September 2022 (deutsch).
  6. S. B. B. Developers: Digitalisierte Sammlungen der Staatsbibliothek zu Berlin. Abgerufen am 7. September 2022.
  7. Die Poesie. In: Geschichte der mittelniederdeutschen Literatur. De Gruyter, 1925, ISBN 978-3-11-162026-8, S. 5–36, doi:10.1515/9783111620268-004 (degruyter.com [abgerufen am 7. September 2022]).
  8. Nikos Saul & Ulrike Stern (o. D.), Nedderdüütsche Texte von't Middelöller bet hüt -- ein Utwåhl, Länderzentrum für Niederdeutsch gGmbH Bremen
  9. Hubertus Menke (1998), Gelegenheit schafft Dichtung. Zu den niederdeutschen Hochzeitscarmina. Mit einem Neufund, in: Thomas Riis [Hg.]: Tisch und Bett. Die Hochzeit im Ostseeraum seit dem 13. Jahrhundert, Frankfurt/M. u. a. 1998, S. 139–164 (= Kieler Werkstücke. Reihe A: Beiträge zur schleswig-holsteinischen und skandinavischen Geschichte, 19).
  10. Die Poesie. In: Geschichte der mittelniederdeutschen Literatur. De Gruyter, 1925, ISBN 978-3-11-162026-8, S. 5–36, hier S. 28, doi:10.1515/9783111620268-004 (degruyter.com [abgerufen am 7. September 2022]).
  11. a b c d e Karl Bischoff: Mittelniederdeutsch. In: Gerhard Cordes, Dieter Möhn (Hrsg.): Handbuch zur niederdeutschen Sprach- und Literaturwissenschaft. Erich Schmidt Verlag, Berlin 1983, ISBN 3-503-01645-7, S. 98–118 (§ 3.2).
  12. Stefan Mähl: Low German texts from Late Medieval Sweden. In: Lennart Elmevik, Ernst Håkon Jahr (Hrsg.): Contact between Low German and Scandinavian in the Late Middle Ages: 25 Years of Research (= Acta Academiae Regiae Gustavi Adolphi. Band 121). Uppsala 2012, S. 113–122, hier: S. 118.

Literatur

  • Agathe Lasch: Mittelniederdeutsche Grammatik. Niemeyer, Halle 1914. (2. unveränderte Auflage: Niemeyer, Tübingen 1974. ISBN 3-484-10183-0). Digitalisat der ersten Auflage
  • Robert Peters: Mittelniederdeutsche Sprache. In: Jan Goossens (Hrsg.): Niederdeutsch. Sprache und Literatur. Eine Einführung. Band 1: Sprache. Wachholtz, Neumünster 1973, S. 66–115.
  • Kurt Otto Seidel: Mittelniederdeutsche Handschriften aus Bielefelder Bibliotheken. Beschreibungen – Texte – Untersuchung (= Göppinger Arbeiten zur Germanistik. Band 452). Kümmerle Verlag, Göppingen 1986, ISBN 3-87452-688-7.

Weblinks

Wiktionary: Mittelniederdeutsch – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen